2018
Die Sammlungsbewegung um Sahra Wagenknecht – oder: Vom Ende der Heuchelei
Gedanken zur heutigen Gründung eines emanzipatorischen Projekts.
Inhalt
Sahra Wagenknecht und ihre Gegner
Der traurige Niedergang ehemals linker Geister
Ein Dramaturg und Analytiker
Die Heuchelei auf den Punkt gebracht
Der lügenhafte Populismus des Stillstands
Sahra Wagenknecht und ihre Gegner
Nun ist also die von Sahra Wagenknecht initiierte linke Sammlungsbewegung offiziell gegründet. Ausgerechnet an dem Tag, wo die SPD in Meinungsumfragen noch hinter die AfD abgerutscht ist [o]. Dies zeigt, wo die SPD steht. Die ehemalige große Arbeiter- und Volkspartei ist zu einer Randerscheinung verkommen, der kaum noch jemand zutraut, sich für die Belange und das Wohl der großen Mehrheit der geringer Verdienenden einzusetzen – der Mittelschicht, der Arbeiter, der Familien, der Alleinerziehenden, der Rentner. Die SPD liegt bei nur noch 16 Prozent.
Die LINKE selbst ist im Westen nie angekommen, weil sie von Anfang an extrem bekämpft wurde. Das ändert nichts daran, dass sie die einzige Partei mit einer wirklich progressiven, emanzipatorischen und zugleich pazifistischen Politik ist. Eine Partei, die sich nicht von Status Quo, angeblichen Sachzwängen, neuen geopolitischen Versuchungen, von Utilitarismus, Managergesinnung und Bürgerlichkeit in ihren Ansätzen beschränken und begraben lässt, die sich wie Mehltau über alle anderen Parteien legen.
Allerdings gibt es auch in der LINKEN heftige innerparteiliche Konkurrenz. Auch dort stellt man sich immer wieder brav, bieder, gemäßigt gegen Sahra Wagenknecht, das große Zugpferd – gegen Wagenknecht, die in allen Talkshows immer wieder die Anerkennung des Publikums auf ihrer Seite hat, weil sie allen politischen Gegnern intellektuell und in der Diskussion hoch überlegen ist und fortwährend ausspricht, was die Ungerechtigkeiten und Inkonsequenzen im ach so reichen Deutschland auf den Punkt bringt. Sogar ihre eigenen Parteikollegen neiden ihre dieses Ausnahmetalent, diese feurige Begabung und Begeisterung, diese Wahrhaftigkeit, diese Beliebtheit.
Und so sind auch innerhalb der LINKEN ihre angeblichen Gefährten skeptisch, dass sie nun außerparteilich eine Sammlungsbewegung ins Leben gerufen hat. Das – diese Skepsis – ist unwahrhaftig und selbstsüchtig. Solche Reaktionen sind regiert von Angst. Angst um Stimmen, um eigenen Einfluss, um die Frage, wo das hinführt, ob es nicht mehr spaltet als vereint. Aber noch gespaltener kann die Situation im linken Lager eigentlich nicht werden. Entweder man sieht ein, dass es jetzt um Sammlung wahrhaft linker Gesinnungen geht – oder man sieht es nicht ein.
Der traurige Niedergang ehemals linker Geister
Am traurigsten jedoch ist es, wenn einst so progressive und kritische Geister wie der Künstler Klaus Staeck (der einst legendäre Plakate gegen die konservative und reaktionäre Politik der CDU gestaltete) heute selbst so konservativ und „gesättigt“ sind, dass sie in Richtung Wagenknecht mit Begriffen wie „republikbekannte linke Spieler“ schießen, linke Politiker wie Mélenchon und Corbyn mit wenigen Worten abwerten und dann Sprüche fallen lassen wie: „Mag sein, dass es einige Sozialdemokraten gibt, die sich da anschließen. Die Dummheit auch auf Seiten der politischen Linken stirbt ja nie aus.“ (Siehe hier).
Staeck wirft der Sammlungsbewegung Spaltung vor und lässt fallen, heute sei jeder seine eigene Ich-AG – aber er selbst macht da offenbar keine Ausnahme. Er sagt, man müsse gegen die rechte Bewegung „geschlossen vorgehen und sich nicht noch weiter zersplittern“ – aber genau dieses Ziel hat die Sammlungsbewegung rund um Wagenknecht. Wer allerdings auf den eigenen Egoismen beharrt und meint, weiter im eigenen Saft schmoren zu wollen, weil es eben der eigene ist – der ist ein Propagandist des Gespaltenbleibens. Dies aber Wagenknecht vorzuwerfen ist die reinste Unwahrhaftigkeit. All dies offenbart immer wieder nur den eigenen Neid und das Erloschene des eigenen Feuers.
Wenn Staeck sagt, die Sammlungsbewegung sei ein „Frontalangriff vor allem gegen die Sozialdemokratie“ [o], weil sie unzufriedene Sozialdemokraten gewinnen wolle, so verdrängt er, dass die Sozialdemokratie sich spätestens seit Schröders Agenda 2010 selbst zerlegt hat und sich seitdem im freien politischen Fall befand und befindet. Wer so agiert, braucht keine Feinde mehr, er begeht selbst politischen Selbstmord. Der Frontalangriff gegen die Sozialdemokratie fand durch ihren eigenen Vorsitzenden statt. Und dieser Selbstmord setzt sich seitdem Tag für Tag fort, demütigt gerade die, die die Wähler der SPD waren.
Ein Dramaturg und Analytiker
Ein wunderbarer Aufsatz erschien vor einem Vierteljahr im „Tagesspiegel“ [o]. Dort ist von Bernd Stegemann die Rede, einem weiteren Vordenker der Sammlungsbewegung – hauptberuflich Dramaturg am Berliner Ensemble. Nachdem Wagenknecht Aufsätze von ihm gelesen hat, sucht sie den Kontakt zu ihm.
Stegemann entlarvt die Doppelmoral heutiger Debatten, wenn er zum Beispiel schreibt: „Der Vorwurf des Ressentiments ist heute der bevorzugte Ausdruck für den Rassismus der Eliten gegen alle, die gegen sie revoltieren.“ Und wenn der LINKE-Politiker Benjamin Hoff, Kulturminister im Thüringischen Kabinett Ramelow, sagt, die Sammlungsbewegung bediene den Trend des „Wir gegen die Politik da oben“, dies sei „antiaufklärerisch“, so tappt er in dieselbe Falle (oder aber schießt eben auch ganz bewusst gegen Wagenknecht), denn es geht nicht um „die da oben“, sondern um die Einheitspolitik von Merkel bis Grün. Jeder aber, der entweder empfindungsmäßig spürt oder aber auch ganz klar intellektuell erkennt, dass in diesem Land grundlegend etwas aus dem Ruder geraten ist, was die gerechte Verteilung des Wohlstands, die Ausstattung der öffentlichen Infrastruktur etc. etc. angeht, der kann sich dieser Sammlungsbewegung gegen Stillstand und Vogel-Strauß-Politik anschließen. Es geht nicht um eine negative Protesthaltung, sondern um die progressive Gestaltung einer Politik für eine wahrhaft gerechte Gesellschaft und für künftige Generationen.
Im „Tagesspiegel“-Artikel heißt es denn auch wunderbar deutlich [o]:
Sie soll im Grunde keine Gegenbewegung gegen rechts sein, das ist sie automatisch, sondern eine Bewegung für eine erneuerte liberale Gesellschaft, die zur Dialektik, also zum Hinterfragen der eigenen Doppelmoral, wieder in der Lage ist.
Wagenknecht, die angeblich Ultra-Linke, macht längst ur-sozialdemokratische Politik, wie sie von der SPD längst über den Haufen geworfen wurde. Diese hat vor dem Turbokapitalismus längst das Handtuch geworfen – während Wagenknecht eine derjenigen politischen Kämpferinnen ist, die die soziale Marktwirtschaft verteidigen. Ironie der Geschichte! Und die Unwahrhaftigkeit und Doppelmoral besteht darin, dass niemand sonst mehr wagt, die Gretchenfrage zu stellen: Warum werden die Reichen immer reicher? Niemand wagt, diesen Reichtum anzutasten, diesen fortwährenden Geldfluss von den Armen zu den Reichen. Doppelmoral, Scheinheiligkeit, schiere (politische) Angst. Armselig ist das!
Die Heuchelei auf den Punkt gebracht
In seinem Aufsatz „Der gute Mensch und seine Lügen“ [o] schrieb Bernd Stegemann am 9.3.2017 in der ZEIT, dass die Doppelmoral heute so weit gediehen ist, dass man ganz allgemein wissen kann, dass für das eigene Smartphone „Sklaven schuften müssen und dass unser Wohlstand auf der Ausbeutung der ganzen Welt beruht.“ Das Schlimme ist die Arroganz, mit der man dies eingestehen und sogar angeblich bedauern“ kann, ohne das Geringste daran zu ändern. Und wenn man es „zugibt“, steht man sogar allein schon dadurch als moralischer Saubermann da. In Stegemanns Worten:
Man fordert allgemeine Werte, beklagt dann die Not, sie im eigenen Leben nicht befolgen zu können, und verlangt für diese Ehrlichkeit moralische Anerkennung.
Die angeblich alternativlose, alles dem Markt unterwerfende „Politik“, die im Grunde selbst vom Markt unterworfen wird, ist, so erkennt Stegemann vollkommen richtig, selbst ein Populismus geworden: der Populismus des angeblichen „Es ist nun einmal so“, und „Wir tun unter den gegebenen Umständen noch immer das Beste“. Aber die Umstände sind nie „gegeben“ – es sei denn, man lässt sich von ihnen treiben. Politik sollte aber das Gegenteil sein! Und hier haben CDU und SPD seit Jahrzehnten versagt. Sie haben den Profitinteressen Tür und Tor geöffnet – und die Menschen gedemütigt. Aber mit einem ungebremsten Populismus wird diese „There-is-no-alternative“-Politik durchgedrückt und in die Köpfe gepeitscht.
Und in hervorragender Analyse bringt es Stegemann auf den Punkt [o]:
Die zentrale Absicht des liberalen Populismus ist die Förderung der subjektiven Optimierung und die Verschleierung aller systemischen Ungleichheiten. Denn vor nichts hat das Kapital mehr Angst, als davor, plötzlich sichtbar zu werden. Darum besteht eine der wichtigsten Aufgaben für die Politik im Neoliberalismus darin, statt die Interessen der Menschen gegen das Kapital zu verteidigen, dessen Gewalt bestmöglich zu verschleiern. Denn wo kein Kapital mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, können auch die Interessen der Menschen nicht mehr durchgesetzt werden. Die systematische Verantwortungslosigkeit von Bankern und Politikern ist eine konkrete Folge dieser Politik. Und die Kompensation für ökonomische Ungleichheit erfolgt in der symbolischen Ordnung, indem die individuellen Freiheiten im Bereich der Identitätspolitik gefördert werden. Zugespitzt gesagt: An die Stelle des Klassenkampfes sind die biopolitische Perfektionierung des Alltags und die Sprachregelungen der Political Correctness getreten.
Kürzer gesagt: Der Profit wird ungreifbar, unsichtbar gemacht – und der Einzelmensch darf sich im immer darwinistischer werdenden Konkurrenzkampf „optimieren“. Die bestmögliche Entwicklung der „Kompetenzen“ und der je eigenen „Ich-AG“ wird gefördert – wohl wissend, dass viele der Schäflein später ohnehin auf der Strecke bleiben, aber das sagt man ihnen nicht. Heuchelei und Arroganz pur! Stattdessen sagt man, dass „die“ Globalisierung „allen zugutekomme“. Man sagt nicht, dass überall da, wo Profit gemacht wird, andere leiden müssen. Wir leben aber in einer Zeit gigantischer Profitoptimierung – also wachsen auch Leid und sozialer Abstieg der Vielen ganz immens.
Der lügenhafte Populismus des Stillstands
Und Stegemann bringt es wiederum auf den Punkt, wie heuchlerisch der reaktionäre Populismus dann argumentiert [o]:
Im politischen Alltag sieht das dann so aus, dass die CDU-Kanzlerin einem Gewerkschafter vorwerfen kann, er würde mit seiner Aussage, dass immer mehr Menschen von Altersarmut bedroht sind, die Wähler in die Arme der AfD treiben, der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann warnt seine Parteimitglieder vor einer Vermögenssteuer, da damit die AfD gestärkt würde, und schließlich vergleicht Wolfgang Schäuble die Rhetorik von Martin Schulz mit der von Donald Trump.
Mit anderen Worten: Jenseits der Merkel-Politik, die den Profitinteressen hörig ist, gibt es nur noch die AfD oder eine Politik, die unmittelbar zur AfD hintreibt. Wer so argumentiert, tut dies entweder ganz bewusst aus finsteren Absichten, oder er begreift einfach nicht das wachsende objektive Elend und die immer mehr klaffende Schere zwischen Arm und Reich – und dass die Menschen dies immer mehr spüren. Er ist blind gegenüber der Wirklichkeit – oder aber streut den Menschen bewusst Sand in die Augen. Damit aber treibt er der AfD scharenweise Wähler in die Arme. Es ist genau diese Politik der moralischen Verantwortungslosigkeit, die zwar Hochglanzsprüche klopfen kann, aber deren Realpolitik die Verarmung ganzer Mittelschichten betreibt – einfach, weil sie vor den eigentlichen Profiteuren so große Angst hat wie das Kaninchen vor der Schlange.
Was einst „gut“ war, dass Liberale, Freiheitliche, das war in den letzten Jahrzehnten gut für das Kapital und wurde von diesem voll ausgenutzt. Und die Schuld der CDU und SPD war es, dies heuchlerisch vorangetrieben und den Menschen jahrzehntelang Sand in die Augen gestreut zu haben, bis jetzt die SPD vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik steht und die CDU noch immer den Kaiser gibt, dessen Nacktheit man noch nicht durchschaut hat. Liberale Werte und Ungerechtigkeit und sozialer Abstieg sind zu zwei Seiten derselben Medaille geworden, weil es nie darum ging, die Menschen vor dem völlig entfesselten Profit zu schützen, sondern immer nur umgekehrt. Die soziale Marktwirtschaft wurde diesem Profit geopfert – und mit ihr die Menschen. Frei floss nur der Strom der Umverteilung – und wachsende Armut macht die Mehrheit der Menschen und sogar ganze Infrastrukturen von Dörfern, Städten und Gemeinden immer unfreier. Und hier tritt dann die AfD auf den Plan, weil CDU und SPD jahrzehntelang nichts begriffen haben und auch die LINKE immer nur bekämpft wurde.
Noch einmal Stegemann [o]:
Bis zur Wiederkehr einer linken Politik taugt das freundliche Gesicht von Angela Merkel zur perfekten Fassade für die harten ökonomischen Interessen ihrer Regierung. Man sagt "europäische Einheit" und betreibt eine Austeritätspolitik, die die meisten Mitgliedsländer in eine Schuldenkolonie der deutschen Wirtschaft verwandeln. Man sagt "Willkommenskultur" und verschiebt das Problem der Migration an die Grenzen von Europa, von wo die hässlichen Bilder die moralischen Deutschen weniger erreichen. Man sagt "Modernisierung der Gesellschaft" und kann dann Streikrechte beschneiden, Gemeinschaftseigentum privatisieren und die Erbschaftsteuer immer reichenfreundlicher gestalten. Man sagt "europäische Solidarität" und kann die letzten Schritte der neoliberalen Schockstrategie gegen die griechische Gesellschaft vollziehen. Man zeigt sich als guter Mensch und lässt andere dafür leiden oder die Drecksarbeit machen. Dass man dafür als Elite kritisiert wird, könnte ein erster Schritt zu einer Gesellschaft sein, in der auch die Anteilslosen ihre Stimme erheben.
Die Sammlungsbewegung rund um Sahra Wagenknecht ist derzeit der einzige Lichtblick in der deutschen politischen Landschaft. Jeder, der mit der Heuchelei aufhören möchte, ist herzlich willkommen.