14.09.2018

Die Spur der reinen Seele

Filmbesprechung: Leave No Trace. Debra Granik (Regie). USA 2018, 109 min. | Trailer.


Inhalt
Heimatlos...
Eine reine Seele
Eine neue Heimat?
Eine zutiefst humanistische Botschaft


Heimatlos...

Leave No Trace erinnert zunächst an einen anderen wunderbaren Film: Captain Fantastic. Auch hier beginnt es mit einem Leben in der Wildnis. Will lebt mit seiner dreizehnjährigen Tochter Tom mitten in einem Wald – mit ganz wenig Ausrüstung. Das Verhältnis ist harmonisch. Für das Mädchen ist dieses Leben selbstverständlich. Ihre Umgebung ist ihre Heimat, die sie in einer Szene summend durchstreift.

Dann wird gezeigt, wie die beiden üben, sich zu verstecken – wodurch klar wird, dass sie hier nicht leben dürfen. Später erweist sich auch der Grund: Es ist öffentliches Land. Tatsächlich werden sie dann eines Tages entdeckt, weil das Mädchen für Sekundenbruchteile von einem Läufer gesehen wird, der daraufhin die Polizei informiert, die die beiden mit Hunden aufspürt.

Der Vater wird von der Polizei mitgenommen, das Mädchen zunächst von einer Sozialarbeiterin. Diese versucht, von Tom zu erfahren, ob ihr etwas geschehen ist, was sie nicht wollte. Sie aber erwidert nach der dritten Frage: „Sie mussten uns nicht ,retten’“. Die Frau sagt, ihr Vater hätte ihr ein Zuhause geben müssen, und das Mädchens sagt: „Das hat er getan.“ Sie fragt nach ihrem Vater, will wieder zu ihm. Dieser muss währenddessen einen psychologischen Test mit über vierhundert Fragen durchlaufen. Es ist deutlich, dass beide, der Mann und das Mädchen, aus ihrer Heimat herausgerissen wurden und werden.

Man organisiert ihnen ein etwas ruhig gelegenes Haus, der Vater bekommt Arbeit in einer Weihnachtsbaum-Plantage, und sehr eindrücklich wird erlebbar, dass sie in diesen abgetrennten vier Wänden und diesem sinnlosen ,Broterwerb’ völlig verloren sind – sozusagen ,zu Tode zivilisiert’. Als alle Tests und Fragen endlich vorbei sind und sie allein in diesem fremden Haus sind, sagt das Mädchen hilflos-erleichtert: „Es ist gut, endlich wieder nur zu zweit zu sein.“ Dann sitzen die beiden am Tisch, das Mädchen hebt eine Alufolie von einem vorbereiteten Auflauf herunter, und die ganze Trostlosigkeit der Szene wird spürbar.

Das Mädchen versucht, das Beste aus der Situation zu machen. In zarter Verunsicherung angesichts der völlig neuen Lebensumstände ist sie doch von einer ungeheuren Sanftheit und stillen Offenheit gegenüber allem. So sieht man sie in einer Szene nach einem Gottesdienst, wo in einer fast absurden Szene ältere Frauen eine Art Fahnenschwingen zum Lobe Gottes ausgeführt hatten, wie sie sich interessiert zeigen lässt, wie man die Fahnen halten und schwingen kann.

Eine reine Seele

Überhaupt ist das Mädchen die eigentliche Hauptperson des Filmes. Man könnte sie für naiv halten, und das gewöhnliche Urteil der Welt würde es nicht fassen können, was der Vater für ein verunsichertes, stilles, fast ,höriges’ Mädchen herangezogen hat – ein Mädchen, das in der modernen Welt geradezu lebensunfähig erscheint. Doch das ist nur die eine, allzu naheliegende Seite der Wirklichkeit – und die unwahrere. Viel wirklicher ist, dass das Mädchen sich eine zutiefst reine Seele bewahrt hat. Dass sie in all den Jahren, die sie mit ihrem Vater in voller Harmonie in der Natur lebte, nichts von den schädigenden, abstumpfenden Einflüssen der modernen Zivilisation in sich aufgenommen hat, die eine Seele notwendigerweise verschmutzen, lässig, profan, bequem und selbstbezogen machen. Die Seele dieses Mädchens ist unglaublich rein. Nur deshalb strahlt sie dieses Vorsichtige, Zögernde, Stille, zugleich aber auch unendlich Aufrichtige und zart Offene aus. In keiner Minute möchte man ihr eine andere Kindheit wünschen...

Fraglos hat sich Tom an das Leben ihres Vaters angepasst, mit einer fraglosen Hingabe ohnegleichen – und es wurde ihr auch eigene Heimat, ohne jeden Zweifel. Das Mädchen denkt nicht an sich selbst, es gibt sich den Umständen hin, die es vorfindet – und macht sie sich zueigen. Unschuldige Hingabe einer reinen Seele.

So ist es dann aber auch in der neuen Lebenssituation. Sie versucht, das Beste daraus zu machen. Sie öffnet sich einem in unseren Augen fast albernen Fahnentanz – und für sie ist daran nichts Verwerfliches, mit reiner Seele nimmt sie es auf als etwas Neues. Sie lernt einen Nachbarjungen kennen, dessen Kaninchen sie auf dem Weg gefunden hat, und begleitet ihn zu einer Schulung im Umgang mit Kaninchen, die fast ähnlich absurd inszeniert ist – aber wieder gibt sich Tom dem ganz hin, blüht innerlich auf, indem sie das Kaninchen streicheln kann, und nimmt zart und vorsichtig auch hier alles Neue auf.

Am Abend entschuldigt sie sich bei ihrem Vater, dass sie später kommt und dass sie ihn nicht benachrichtigen konnte, weil ,es einfach passiert ist’. Tief spürt sie auch ihre Schuld. Während des ganzen Films kann man fortwährend mitten in das Herz des Mädchens blicken, das mit winziger Mimik unendlich viel ausdrückt. Diese Szenen zeigen die ,Sollbruchstellen’ zwischen ihr und dem Vater. Eine andere ist jene Szene, wo sie, als sie in die Schule kommen soll, fragt, was die anderen Mädchen wohl von ihr und von dem denken werden, ,wie wir vorher gelebt haben’. Der Vater fragt, wie wichtig die Urteile der anderen denn seien. Aber das Mädchen fühlt nicht genügend inneren Beistand, es fühlt sich in diesem Moment nicht genug verstanden und erwidert mit tränenschillernden Augen und zitternden Lippen: ,Das werde ich wohl herausfinden...’

Der Vater flieht mit ihr erneut in die Wildnis. Sie erreichen eine höhere Lage, in der es empfindlich kühl ist. Dem Mädchen ist so kalt, dass es beinahe erfriert. Der Vater kümmert sich rührend um sie. Am nächsten Tag finden sie eine leerstehende Hütte, und alles ist wieder gut. Das Mädchen ist glücklich, als es eine schlichte warme Suppe löffelt. Die Harmonie ist noch immer da. Sie gibt sich noch immer allem Wechsel hin, obwohl sie gerne an dem vorigen Ort geblieben wäre.

Eine neue Heimat?

Dann verlässt der Vater die Hütte, um einige Dinge zu besorgen. Das Mädchen wartet vergeblich auf seine Rückkehr. Rührend stellt sie abends Kerzen auf die Veranda, um ihm zu leuchten. Am nächsten Morgen macht sie sich entschieden auf den Weg, um ihn zu suchen – und findet ihn schwerverletzt mit gebrochenem Fuß. Zum Glück kann sie zwei Querfeldein-Fahrer anhalten, die sie und ihn in eine kleine Siedlung einiger Menschen bringen, die mit ihren Trailern und Wohnwagen auch mehr oder weniger in der Wildnis leben. Ein Mann verarztet ihn, ohne dass öffentlich Hilfe geholt werden muss, worum das Mädchen auch mehrfach bittet. Eine gütige ältere Frau überlässt ihn einen freien Wohnwagen.

Während der Vater sich langsam erholt, freundet sich das Mädchen in seiner lieben, stillen Weise mit den neuen Umständen an. Die ältere Frau zeigt ihr einen kleinen Bienenstock, den sie besitzt, und macht ihr das Wunder der Bienen erlebbar, deren Vertrauen sie sich ,hart erkämpft’ hat. Die kleine Gruppe trifft sich abends bei schlichtem Gitarrenspiel und Gesang. Ein Hund. Mehr als dies braucht es nicht, um Tom das Gefühl zu geben, hier eine neue Heimat gefunden zu haben. In einer berührenden Szene sucht sie die ältere Frau auf, um ihr alles Geld zu geben, was sie hat – wenige Scheine –, um weiter hier leben zu dürfen. Die Frau nimmt nur einen kleinen Teil als ,Kaution’ und versichert ihr, dass sie bleiben dürfen.

In einer ebenso erschütternden Szene gesteht Tom ihrem Vater darauf in dem kleinen Wohnwagen, während sie zögernd Pilze aufschneidet, dass sie dafür bezahlt habe, dass sie hier sind. Unsicher und mit verletzlicher Offenheit und Hoffnung blickt sie mehrfach ihren Vater an. Dieser versteht dies zunächst für die abgelaufene Zeit, und Tom verbessert sich mit zartem Nachdruck, dass sie ihren Wohnwagen ,gemietet’ habe. Zutiefst verletzliche Momente in der Seele des Mädchens und zwischen beiden Menschen.

Aber ihr Vater kann nicht an einem Ort bleiben. Er ist ein Kriegsveteran, der nun zeitlebens mit einer posttraumatischen Belastungsstörung kämpft. Seine Seele ist wie die so vieler anderen ehemaligen Soldaten zerrissen, ist nicht mehr fähig, unter Menschen zu leben, ist ständig auf der Flucht. Seine Tochter war und ist sein ganzes Glück – aber unter Menschen findet er keine Heimat. So packt er wieder seine Sachen. ,Wir können hier nicht leben’, sagt er zu ihr – aber mit Tränen in den Augen ruft das Mädchen „Du!“. Mit allem Schmerz, den sie innerlich in sich trägt, sagt sie leidvoll: „Was dir fehlt, fehlt mir nicht...“ Sie weiß, dass die Situation nicht auflösbar ist. Sie möchte hier bleiben – so gerne. Hier hat sie endlich eine neue Heimat gefunden. Hier möchte sie für immer mit ihrem Vater bleiben. Auch ihn möchte sie nicht verlieren, um keinen Preis. Ihre einzige Hoffnung ist, dass er bleiben könnte – mit ihr.

Aber er kann nicht bleiben. Sie gehen erneut. Aber mitten im Wald bleibt sie auf einmal stehen – und der Wendepunkt ist gekommen. „Papa“. Innig umarmt sie ihren Vater, schweigend, beide weinen, beide wissen, was jetzt geschieht. Sie tritt zurück. Für ihren Vater ist der Moment fast nicht zu ertragen, er blickt sie an. Sie erwidert den Blick. Auch sie empfindet den tiefsten Schmerz, ihre Lippen zittern. Dann lässt sie ihren heimlichen, intimen Gruß ertönen: ein zweimaliges Schnalzen der Zunge. Der Vater erwidert es. Es ist ihr letzter Abschied... Eine erschütternde Szene...

Tom geht zurück. Unterwegs trifft sie den lieben Hund wieder, kauert sich zu ihm, ihn zu streicheln, und sagt ihm: „Er konnte nicht bleiben...“

Eine zutiefst humanistische Botschaft

Äußerlich gesehen ist der Film das Zeugnis einer (scheinbar) absurden Kindheit und einer letztlichen Befreiung eines heranwachsenden Mädchens aus seinen unmöglichen Bedingungen. In Wirklichkeit ist es etwas völlig anderes. In einem Nebenstrom ist der Film eine leidenschaftliche Anklage gegen den Krieg und alle Kriegseinsätze, die ungezählte Menschen in gewisser Weise als seelische Wracks hinterlassen, ohne dass sich noch jemand um sie kümmert und kümmern könnte, weil das Erlebte nicht wieder zu heilen ist. (Siehe die wunderbare Rezension im Tagesspiegel).

Und auf der anderen Seite ist der Film die grandiose Geschichte des Mädchens Tom – einer einzigartig reinen Seele, die durch ihre fast furchtsame, zögernde Zurückhaltung nur scheinbar dasjenige offenbart, was die moderne Psychiatrie kalt und nüchtern ,selbstunsichere Wesenszüge’ nennt, die durch entsprechende ,Therapien’ ,korrigiert’ werden können, die in Wirklichkeit aber ein seelisches Wesen offenbart, das in seiner Schönheit nicht seinesgleichen hat. Tom ist in ihrer fragilen, verletzlichen, zarten Offenheit eine der schönsten Seelen, die die Filmgeschichte je gezeigt hat. In einem so unscheinbaren Film, der sicherlich nicht von allzu vielen Menschen gesehen werden wird.

Dazu passt, dass die Hauptdarstellerin Thomasin McKenzie, die bei Beendigung der Dreharbeiten bereits fast siebzehn Jahre alt war (also über drei Jahre älter als die von ihr dargestellte Tom), bei einer Suche nach Bildern von ihr stets nur ganz natürlich wirkt. Es gibt von ihr keine erotisch-sexuell gefärbten Aufnahmen wie bei so vielen anderen Schauspielerinnen, die sich sehr oft in verführerischen Posen auf Instagram oder wo auch sonst zeigen. Das ist auch anziehend – aber bei Thomasin McKenzie gibt es dies (bisher) nicht.

Die Wikipedia-Seite des Films gibt weitere interessante Informationen. Regisseurin Debra Granik sagt über ihren Film: „Ich war schon immer an Menschen interessiert, die nicht konform sind, die einen Lebensstil finden, der nicht völlig konform mit der übrigen Gesellschaft ist.“ [o]. In ,Winters Bone’ (2010) stellt sich die siebzehnjährige Ree Dolly auf der Suche nach ihrem Vater ganz allein gegen ihr drogenkriminelles Umfeld. Ihr vorletzter Film ,Stray Dog’ (2014) war das Porträt eines traumatisierten Kriegsveteranen. Und derzeit bereitet sie einen Film vor, in dem es um die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten von Strafgefangenen geht, in die Gesellschaft zurückzukehren [o]. Granik ist eine zutiefst humanistische Regisseurin.

Vorlage des Films „Leave No Trace“ ist der Roman „My Abandonment“ (2004) von Peter Rock. Dieser hatte 2004 in einer Zeitschrift einen Artikel gelesen, in dem es um ein Mädchen ging, das tatsächlich vier Jahre mit ihrem Vater im Wald gelebt hatte. Auch dieser war ein Vietnam-Veteran, der seine zwölfjährige Tochter Ruth selbst mit alten Enzyklopädien unterrichtete. Daraufhin spendeten Menschen Tausende Dollar, um den beiden ein Leben auf einer Pferdefarm zu ermöglichen. Fünf Jahre später habe jedoch niemand mehr gewusst, was aus ihnen geworden ist, weil die Polizei ihre Nachnamen nicht bekannt gegeben hatte.

,Leave No Trace’ bekam bei der führenden Bewertungsplattform ,Rotten Tomatoes’ von Filmkritikern 8,6 von 10 möglichen Punkten. Er hat dies zutiefst verdient.