30.12.2018

Weihnachts-Innigkeit und Sylvester-Apokalypse

Vom Mysterium der Fülle und der Katastrophe der Leere.


Inhalt
Das Tor der Innigkeit...
...zum Mysterium der Weihe-Nacht
Sylvester – die laute Leere
Mädchen-Seele


Das Tor der Innigkeit...

Die Zeit der heiligen Nächte ist ein Mysterium. Aber offen steht es nur denen, die eines reinen Herzens sind – und genau in dem Maße. Ist nicht auch dies ein Wunder? Dass die Wahrheit des Herzens so sehr Maß ist, so treu sich offenbart? Die heiligen Nächte schenken sich und ihre Fülle jedem – aber nur, wenn er sein Herz selbst zur Tür macht. Hingabe des Herzens – sie, diese heilige Hingabe, ist die Tür...

Was ist Innigkeit? Es gibt wohl viele, auch erwachsene Menschen, die diese Frage gar nicht beantworten können – die nicht nur das Wort gar nicht kennen, sondern deren Wesen die Wahrheit dieses Wortes nie erlebt hat. Welch eine Tragik. Es ist die Tragik einer ganzen Zeit. Wir leben in der Epoche der Verflachung, der allmählichen Vernichtung der Empfindungsfähigkeit selbst.

Der abstrakte Anthroposoph mag hier ein Voranschreiten von der ,Verstandes- und Gemütsseele’ zur ,Bewusstseinsseele’ erkennen, doch das ist ein furchtbarer Irrtum. Selbst wenn es wahr wäre – was will eine Seele, die immer bewusster ist, aber ihr ganzes Empfinden, ihr eigentliches, heiliges Leben, verliert? Es ist aber nicht wahr. Diese Epoche ist vor allem auf dem Wege eines zunehmenden ,Ego-Bewusstseins’, das die Seele darüber hinwegtäuscht, dass sie stirbt, wahrhaftig stirbt.

Der Verlust der Weihe-Nacht ist eines der ganz deutlichen Symptome. Es ist der Verlust des Christentums überhaupt – aber es ist nicht nur das Christentum, es ist das Fühlen schlechthin. Die moderne Seele täuscht sich darüber hinweg, wie sie sich über alles hinwegtäuscht, weil sie so gern in der Lüge lebt – denn die Wahrheit wäre zu schrecklich. Die Seele inszeniert die große Lüge: sie würde fortwährend weiterleben. In Wahrheit ist sie fortwährend am Sterben. Und die Weihe-Nacht versinkt in der Blasphemie von ,gutem Essen’ und Familien-Stress. Welch ein Abgrund...!

Und welche Seelen kennen noch das unendliche Gegenteil? Die Innigkeit... Jenes heilige Tor, durch das der unermessliche, überirdische Friede hereinströmen kann, der in diesen heiligen Nächten die Erde überflutet und geradezu ertränkt...? Welche Seele, die noch selig ertrinken kann, weil sie ... erlebt?

Manche Kinder wundern sich, warum viele Weihnachtslieder so ,traurig’ sind. Sie wundern sich nicht darüber, dass sie sie oft trotzdem gern haben. Aber welche erwachsene Seele hat sich diese Frage einmal gestellt – oder sogar beantworten können?

Eines der ,traurigsten’ Weihnachtslieder ist jenes wunderschöne, von Paul Gerhardt im 17. Jahrhundert gedichtete ,Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben’. Das ganze Lied webt in tiefster Moll-Stimmung, wie gestreichelt von Engelsflügeln. Es ist aber die menschliche Seele, die hier singt! Warum klingt es so ,traurig’? Heißt es doch in der vierten Strophe ausdrücklich: ,Ich sehe dich mit Freuden an...’

...zum Mysterium der Weihe-Nacht

Kinder können dies noch nicht verstehen. Aber die ganze Stimmung ist eine allertiefste Realität derjenigen erwachsenen Seele, die die innige Hingabe kennt. Die tiefe, tiefe Innigkeit, die sich hingibt, weil sie sich so tief beschenkt erlebt – und die so tief beschenkt wird, weil sie sich hingibt. Es ist das Urphänomen der religiösen Seele überhaupt: das Verharren(müssen) in Anbetung – Müssen hier einzig und allein im Sinne von Nicht-anders-Können:

     Ich sehe dich mit Freuden an
     und kann mich nicht satt sehen;
     und weil ich nun nichts weiter kann,
     bleib ich anbetend stehen.

Wir dürfen mit all unserem Herzen spüren, dass hier das ,stehen’ nur dem Reim geschuldet ist – und dass die Seele des vom Wunder der Heiligen Nacht ergriffenen Dichters längst voller Hingabe niedergekniet ist... Denn in aller Innigkeit singt sie ja weiter:

     O daß mein Sinn ein Abgrund wär
     und meine Seel ein weites Meer,
     daß ich dich möchte fassen!

Wer hat dieses Erleben? Die heilige Innigkeit kennt es – das Erleben, dass die Seele so weit werden möchte wie ein Meer, weil sie erlebt, dass sie nicht im Ansatz fassen kann, was ihr da begegnet; dass dieses viel größer ist als alles; es ist ja der ganze Himmel, und o, könnte die Seele nicht ein Abgrund werden, um es irgendwie zu fassen, irgendwie... Selig ist die Seele, selig hingegeben. Sie empfängt mehr, als sie fassen kann, in jeder Hinsicht des Wortes. Das ist Innigkeit! Die Seele ist nur noch heiliges, hingebungsvolles Innen-Wesen – sie empfindet eine Überfülle, aber in übervoller Hingabe kann sie nur erschüttert begreifen, dass alle Hingabe nicht ausreicht, um das, was sich hingibt, ihr hingibt, auch nur annähernd zu fassen...

Ein solches Weihnachtslied ist ,traurig’, weil das heilige, zarte, erfüllende Glück übergroß wird. Es ist diejenige Wahrheit, die die Seele vor Freude weinen lässt. Es ist das Geheimnis jener Schönheit, die so groß ist, dass sie wehtut... Es ist das Geheimnis der Verwandtschaft von Wunder und Wunde. Das heilige Gnaden-Licht der Weihe-Nacht kann verwunden – weil die Seele es nicht fassen kann. Aber die sich hingebende Seele lässt sich gern verwunden – ist doch diese Wunde das Leben selbst... Durchschlagen die Strahlen dieses Wunders doch nur den Seelen-Panzer und wollen das Herz zu einem Abgrund, einem Meer weiten...

Innigkeit ist die Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen. Das Ergreifende, das Wunder, kann aber so groß sein, dass die kleine Seele verwundet wird. Aber schon immer hat Leid die Seele tiefer gemacht – um wieviel mehr seliges Leid! Innigkeit ist das heilige Tor zum Mysterium, zur Über-Fülle.

Wer hier an Subjektivität oder Mystizismus denkt, hat nichts begriffen. Sicherlich gibt es auch die Irrwege der ,Selbstsuggestion’. Riesengroß aber ist der Irrweg des abstrakten Intellekts. Die Wahrheit der Weihe-Nächte jedoch geht mitten hindurch, sie weiß von beiden Irrwegen nichts und begnadet in Wahrheit jene Seelen, die sich in Wahrheit hingeben. Innigkeit ist das Geheimnis von Hingabe und Antwort – ein heiliges Weben zwischen der Seele und der heilig-göttlichen Welt. Und niemand kann sagen, wer sich zuerst hingegeben hat, zu zart wird hier alles...

Sylvester – die laute Leere

Welch ein Gegensatz zu dieser nicht mehr beschreibbaren Innigkeit bildet dann die Veräußerlichung des Sylvester-Spektakels! Das so vielfach entleerte Sich-Überessen an fettem Gänsebraten und anderem, das bereits in unzähligen Häusern zu Weihnachten die heilige Zeit entehrt, ist hier noch durch Alkoholika, mühsam aufgeheiterte Fernsehsendungen und schließlich ohrenbetäubende ,Böller’ in seiner Sinnlosigkeit gesteigert. Die Entäußerung der Seele wird auf die Spitze getrieben. Sinnlos gibt sie sich der Sinneswelt hin, um an nächsten Morgen ermüdet und verkatert aufzuwachen – alt und verbraucht begegnet sie dem, was neu sein sollte!

Ist es nicht wiederum das Symptom einer ganzen Epoche, dass sich das Religiöse völlig verliert – während das Leere und Über-Laute sich der stets gleichen Beliebtheit erfreut und nur immer weiter steigert? Es ist, als müssten die Seelen ihre eigene Leere übertönen, weil sie sie sonst ja fortwährend bemerken würden.

In der Überschrift schrieb ich ,Apokalypse’ – aber das bedeutet eigentlich Enthüllung. Zu Sylvester enthüllt und offenbart sich die ungeheure, katastrophale Leere unserer Epoche. Mit großem Tamtam und unzähligen Böllern feiert sich eine Menschheit, deren Seele sich selbst verliert, deren Seele längst am Sterben ist. Und die angebliche ,Feier’ ist gerade Symptom! Denn die wirklichen Feierstunden des Lebens kann diese Seele gar nicht mehr erleben. Deswegen klammert sie sich an das, was mit viel Alkohol und Lärm doch noch ein ,Erlebnis’ verschafft. Nicht anders als der Drogensüchtige, der aus eigener Kraft gar nichts mehr empfinden kann. Seelentod...

Ginge es nicht nur um den Taumel des Irgendetwas-Erleben-Wollens, um leere Besinnungslosigkeit, sondern wirklich um das neue Jahr oder gar dessen Heiligkeit, die Heiligkeit des Neuen ... die Seele würde sich in zarter Vorfreude früh zu Bett legen, um ebenso früh mit dem heiligen Anbruch des neuen Jahres dessen unbeschreibliche Stille und Fülle in sich aufzunehmen – in einem heilig-innigen Waldspaziergang oder auf welche andere Weise auch immer. Die heilig gestimmte Seele würde auch hier die wahre Freude finden – und sie nicht in unwürdiger Entäußerung gerade völlig verlieren.

Zwischen Fülle und Leere besteht ein absoluter Gegensatz. Die Fülle vermag aber nur jene Seele zu finden, die sich er-innert, was das wahre Geheimnis ist. Denn wie kann die Seele von etwas erfüllt werden, wenn sie sich selbst fortwährend entäußert, veräußerlicht? Das fortwährende Suchen der Seele im Außen ist wie eine Art Erbrechen. Sie kehrt ihr Innerstes nach Außen, aber da ist gar nichts mehr. Ihr Innerstes ist hohl. Und trotzdem macht sie fortwährend weiter. Anstatt etwas ganz anderes zu tun, eine heilige, gegenteilige Bewegung – die der zarten Hingabe. Das Mysterium ist, dass die Hingabe gerade ein ,Kelch-Werden’ der Seele ist. Sie gibt sich hin, aber eigentlich wird sie empfänglich... Ihre Hingabe strömt nach ,außen’, aber zugleich strömt geheimnisvoll etwas in ihr Inneres, was nicht sie selbst ist, was sie aber einlässt...

Hingabe ist das Geheimnis der Erfüllung. Die Sucht nach äußeren Erlebnissen ist das Geheimnis der Entleerung. Kein heiliges ,Sich-leer-Machen’, sondern ein Leer-, ein Hohl-Werden. ,Wer hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird auch genommen, was er hat...’

Mädchen-Seele

Das Jahr geht zu Ende – und ich habe es das ,Jahr des Mädchens’ genannt und zwölf Bücher veröffentlicht, die das Wesen des Mädchens offenbaren.

Was ist dieses Wesen? Nun – Aufsätze werden immer einen mehr gedanklichen Moment haben, der nie so sehr das Herz erreichen kann wie ein ganzes Buch, vor allem ein Roman. Meine Romane sind aber mehr als nur ,Romane’ – sie führen die Seele zu inneren Erlebnissen. Ein Aufsatz kann dies nicht in derselben Weise. Auch wird in meinen Büchern deutlich, dass ich von dem Mädchen spreche – von einem Urbild, nicht von beliebigen ,Mädchen’. So, wie die heutigen Menschen dem heiligen Begriff des Menschen oft unendlich fern sind, so sind es oft auch die heutigen Mädchen. Was ist das wahrhaft Menschliche, in tiefster Hinsicht? Diese Frage ist riesengroß – wie das Mysterium der Weihe-Nacht. Ebenso groß aber ist die Frage: Was ist wahrhaft ein Mädchen...

Ich behaupte also nicht, das Mysterium des Mädchens sei zu finden, wenn man auf der Straße beliebigen Mädchen begegnet. Und doch ... lebt in jedem einzelnen Mädchen ein schwacher Abglanz. Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen? Ich meine jetzt das Mysterium.

Ich erlebte heute die Sonntagshandlung für die Kinder in der Christengemeinschaft. Wir leben mitten in den heiligen Nächten. Wie viele Kinder waren gekommen? Sechs Kinder waren es. Wie viele davon waren wohl Jungen? Keines. Es waren sechs Mädchen... Warum wohl?

Sehr schnell können die gemeinsam gesprochenen Worte der Kinder in der Sonntagshandlung allzu ,chorisch’ werden und dann den Eindruck vermitteln, sie würden ,heruntergeleiert’ oder es sei in anderer Weise zu ,kollektivistisch’. An diesem Tag aber, gesprochen von sechs Mädchen, ereignete sich das Wunder, dass man sechs individuelle Stimmen hörte – jede in ihrem eigenen Tempo, kein ,Chor’ und dennoch eine atemberaubende Harmonie. Warum wohl gerade heute?

Danach kam ein Schattenspiel zur Aufführung – Selma Lagerlöfs wunderbare ,Christrose’, liebevoll gestaltet in dreitägiger Intensivarbeit. Sieben junge Menschen haben ihre Weihnachtstage dafür hingegeben, um einer ganzen Gemeinde ein unvergessliches Erlebnis zu schenken. Als am Ende dann diese sieben Konfirmanden und ehemaligen Konfirmanden auf die Bühne kamen, waren es ... ein Junge und wiederum sechs Mädchen. Warum wohl...?

Ich habe von den Gründen unter anderem in meinem Buch ,Und erlöse uns von dem Coolen’ geschrieben. Es gibt ein ungeheures Gift, dem die Mädchen noch nicht so stark verfallen sind wie die Jungen. Dieses Gift nimmt der Seele aber ihre ganze Hingabe-Fähigkeit. Es saugt sie sozusagen aus. Und zurück bleiben jene armseligen Reste, die noch da sind, wenn längst fast keine Empfindungen mehr zugelassen werden. Diese Reste werden aber kein religiöses Leben mehr suchen, ein solches auch gar nicht mehr empfinden können – und auch keine ,Christrose’ mehr einüben. Wir leben in einer Epoche des Seelentodes...

Die Mädchen sind von dieser Krankheit noch nicht ganz so stark befallen – wenn auch viele bereits ebenfalls unglaublich stark. Auch die Mädchen kennen das Mysterium der Hingabe immer weniger, obwohl es doch so stark mit ihrem Wesen verbunden ist.

Wer erleben möchte, was Hingabe ist – die durchaus nicht bedeutet, dass Mut oder Intelligenz fehlen –, der mag sich einmal den seit November in den Kinos laufenden Film ,Der Nussknacker und die vier Reiche’ ansehen. Diese großartige Disney-Verfilmung zeigt in Gestalt der wunderbaren Mackenzie Foy das Geheimnis einer reinen Seele, die noch voller Hingabe ist. Eine wahre Königstochter, wie im Märchen – und darum auch eine wahre Christusbotin...