2019
Von der Enteignung des Denkens
Überlegungen zu Kühnerts Vorstoß.
Inhalt
Reaktionäre Reaktionen
Propaganda und „Dogmen-Starrkrampf“
Von Korruption, Betrug und Selbstausbeutung
Gönnerhafte Lügen
Leistungslose Einkommen und das Wohl der Allgemeinheit
Genau die richtigen Fragen
Reaktionäre Reaktionen
Nach den Aussagen von Juso-Chef Keven Kühnert zu Enteignungen liegen die Nerven blank – oder vielmehr: Man stürzt sich auf seine Äußerungen wie die Hyänen, weil der Gedanke nicht einmal mehr denkbar ist.
Man muss nicht unbedingt glauben, dass ich Enteignungen für der Weisheit letzten Schluss halte, denn auf dem Boden der Anthroposophie stehend weiß man, dass Privatinitiative und gemeinschaftliche Frucht nur in einer höheren Synthese vereinigt werden können, nicht in einem starren Gegenüber von Profitegoismus und paternalistischer Staatsräson. Die Idee der sozialen Dreigliederung enthält das Wissen, dass das Wirtschaftsleben in selbstloser Weise der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse zu dienen hätte, dass sein Ideal unter den drei Leuchtpunkten der Französischen Revolution das der Brüderlichkeit wäre. Doch die Reaktionen auf Kühnert zeigen wie sehr die Köpfe und Herzen der Menschen erst recht davon noch eine Unendlichkeit weit entfernt sind.
Wie reaktionär, rückwärtsgewandt und abstoßend die gegenwärtige Diskussion ist und was sich hier in Wirklichkeit offenbart, will ich im Folgenden erlebbar machen.
Ich tue dies am Beispiel eines Tagesspiegel-Artikels: „Bananen – plus Sozialismus“. Dort heißt es:[1]
Die soziale Marktwirtschaft ist ein Erfolg. Und zugleich in der Krise. Man muss nur das Etikett „Kapitalismus“ drauf kleben, und schon gewinnt die Forderung nach Kollektivierung, also Enteignung, erstaunliche Sympathien.
Die Frage ist: In welcher Wirklichkeit leben wir? Was, wenn nicht „Kapitalismus“ das Etikett wäre, sondern „sozial“? Was, wenn der reale Kapitalismus die Ungleichheit immer weiter wachsen lässt, immer mehr Menschen „abhängt“ und durchs Raster fallen lässt und sich das Beiwort „sozial“ immer mehr nur noch als ein Etikett erweist? Was, wenn der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht? Wenn die Profite so lange abgeschöpft werden, bis die große, große Mehrheit so ausgequetscht ist, dass es nicht mehr weitergeht – und endlich, wie die Gelbwesten in Frankreich, begreift, was geschieht?
Doch dozierend schreibt der systemtreue Kommentator weiter:[1]
30 Jahre nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus sind neue Generationen herangewachsen, die den Unterschied zwischen idealistischer Theorie und ernüchternder Praxis nicht aus eigener Anschauung kennen.
Völlig unfähig, außerhalb starrer Schablonen zu denken, erweist sich dieser Mann als nicht in der Lage, den Gedanken zu fassen, dass die Eigentumsfrage auch einmal in Richtung bestimmter Enteignungen gedacht werden kann, ohne ein bestimmtes historisches System zu wiederholen. Aber es ist natürlich das beste Argument, zu behaupten, jeder, der die größten Profitmacher in Gemeinbesitz überführen möchte, wolle „die DDR zurück“.
Es erweist sich als eklatante Geschichtsvergessenheit, so offenkundig die eigene Unkenntnis zu belegen, dass es in der Geschichte verschiedene Formen gab, die „idealistische Theorie“ wahrzumachen. Man denke etwa an die Pariser Kommune, die mit blutiger Gewalt von außen ausgelöscht wurde. Man denke an Kommunen aller Art, an Tauschringe, an Gemeinschaftsbesitz jedweder Form, der nicht auf Profit ausgerichtet ist – und schon bekommt die Idee ein menschliches Antlitz und kann das Herz fühlen, wie wahr diese Idee ist, wie sehr das Ziel des Wirtschaftens Brüderlichkeit wäre. Nur der Kommentator kann nichts davon in sich oder in den Lesern zulassen.
Einen „demokratischen Sozialismus“, wie er von Kühnert gefordert wird und noch heute im SPD-Programm steht, der auf Freiheit und Solidarität basiert, ist bisher noch nie verwirklicht worden. In Ansätzen gab es ihn in Chile unter Salvador Allende – bis Allende vom US-Geheimdienst ermordet wurde.
Propaganda und „Dogmen-Starrkrampf“
Aber der Kommentator weiter:[1]
Bei Kühnert liegen Propaganda und Realität noch weiter auseinander. Hierzulande herrscht kein „Manchester-Kapitalismus“. Kleine und mittlere Unternehmen bilden das Rückgrat der Wirtschaft, nicht Konzerne. Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft prägen das Modell.
Ja – das ist zumindest die Propaganda. Aber die Realität ist allzu oft eine andere. Kleine und mittlere Unternehmen sollten das Rückgrat bilden – aber was, wenn sie von den großen Profitmachern immer mehr an die Wand gedrückt werden? Was, wenn diese großen Konzerne den schmutzigen Manchester-Kapitalismus soweit und überall da durchsetzen, wie und wo sie können? Was, wenn die Profitmaximierung die Grundlage unserer Realität ist – und „Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft“ bekämpft und eingedämmt werden, wo auch immer dies möglich ist? Man denke an die ununterbrochene Zunahme prekärer Beschäftigungsmodelle, der Rationalisierungen, Entlassungen, der Erhöhung des Arbeitsdrucks in allen Bereichen und, und, und...
Um es in ein Bild zu bringen: Man könnte behaupten, Männer und Frauen seien gleichberechtigt. Und die Frau habe auch Rückgrat und könne sagen, wenn ihr was nicht passt (Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft). Was, aber wenn der Mann die Frau trotzdem gewaltsam an die Wand drängt und sie ganz langsam auszieht? Propaganda und Realität... Der Kommentator klammert sich an das schon in der Schule gelehrte Dogma und macht sich und die Leser blind für die Realität. Nur: Die Situation mit der Frau ist ein Verbrechen. Das Ganze auf die Wirtschaft übertragen ist legaler, alltäglicher Kampf um den größten Profit und ohne Rücksicht auf die Opfer.
Weiterhin behauptet der Kommentator, dass:[1]
[...] die Unterschiede zwischen Arm und Reich hier weit geringer sind als in den Musterländern des Kapitalismus, den USA und Großbritanniens.
Es gibt genügend Studien, die in der Spaltung der Einkommen und Vermögen Deutschland auf einem weltweiten Spitzenplatz zeigen. Aber selbst wenn es nicht Platz eins sein sollte, die weltweit allergrößte Ungleichheit, würde auch ein Platz „nur ganz vorne“ bereits zeigen, dass hierzulande das Dogma der Profitmaximierung voll umgesetzt und dem fast nichts entgegengesetzt wird. Und schon die obige Aussage zeigt, dass Kapitalismus der völlig falsche Weg ist. Denn hier wird zugegeben, dass er in eine immer weiter wachsende Ungleichheit führt – was dem unbefangenen Menschenverstand ohnehin offensichtlich wäre. Das Etikett „sozial“ hin oder her: Unsere gegenwärtige Wirtschaftsform führt in eine immer weitergehende Spaltung von Arm und Reich hinein – so lange, bis die allermeisten wirklich arm und die allerwenigsten unvorstellbar reich sind. Wie lange wollen wir diesen Irrsinn, dieses Krebsgeschwür noch zulassen?
Und weiter:[1]
Warum soll der Bosch-Facharbeiter oder VW-Betriebsrat die Kollektivierung der Autoindustrie für eine gute Idee halten?
Wenn er genauso egoistisch denkt wie seine paternalistischen Arbeitgeber, wird er das nicht tun – denn er hat seine Schäfchen ja ins Trockene gebracht. Er verdient gut, sogar sehr gut, weil sein Arbeitgeber eben zu den „oberen Zehntausend“ gehört. Dass aber diese „oberen Zehntausend“ gerade das Problem sind – ob in der Autoindustrie, auf dem Wohnungsmarkt oder wo auch immer –, das geht nur ganz langsam in die Köpfe, weil die Herzen versteinert sind. Es geht nicht um Bosch oder VW, es geht um das Geflecht der Profitmaximierer – und um die Tatsache, dass all dies auf dem Rücken und auf Kosten aller anderen stattfindet, wo und an welchem Punkt auch immer.
Und viele Firmen haben überhaupt keinen Betriebsrat. In vielen Firmen, die einen haben, ist er nahezu machtlos oder kooperiert willig mit dem Ausbeutungssystem, weil ihm ein paar Privilegien reichen, um die übrige Belegschaft zu verraten. Und selbst mit Betriebsrat verdienen die Manager das Zehn- und das Hundertfache. Mit welchem Recht? Nur mit dem Recht der Ausbeutung und der durch nichts zu rechtfertigenden Ungleichheit. Und in allen Betrieben nehmen die Facharbeiter immer weiter ab, werden zum Beispiel entlassen und unter schlechteren Bedingungen wieder eingestellt – zum Beispiel als Leiharbeiter eines Drittunternehmens. All dies zu verschweigen, entlarvt den Kommentator als entweder auf beiden Augen blind oder als wirklich ideologisch hoch verblendet – was letztlich das Gleiche ist.
Von Korruption, Betrug und Selbstausbeutung
Und weiter:[1]
Und wie viele gutsituierte Grünen-Wähler wollen, dass aus der ideologischen Predigt zum 1. Mai ein Regierungsprogramm wird? Das würde ihre private Altersversorgung gefährden, die zum Gutteil auf Aktien und Immobilien beruht.
Natürlich – denn Reichtum korrumpiert immer. Deswegen sind die Grünen ja innerlich so im völligen Niedergang. Sie haben sich von dem, womit sie angetreten sind, längst verabschiedet, und sind im korrupten Mittelmaß angekommen.
Und erneut zeugt es von eklatanter Geschichtsvergessenheit, zu unterschlagen, dass die „private Altersversorgung“ ja erst nötig wurde, nachdem selbst die SPD mit ihren aberwitzigen Steuererleichterungen für die Reichen das erfolgreiche staatliche Rentensystem zerschlagen hatte. Nachdem sie mit der privaten Altersversorgung ein gigantisches Feld für weitere Profitmaximierer geschaffen hatte – die Pensionsfonds. So wird das heiße Rennen auf dem Aktien- und Immobilienmarkt immer weiter angeheizt. Nicht um den einfachen Menschen geht es. Dessen Altersrente wurde längst zerlegt und durchlöchert, bis nichts mehr übrig bleibt. Und alles wird wie in einem riesigen Schneeballsystem auf Bereiche verschoben, die überhaupt keine realen Werte mehr schaffen, sondern ihren Profit nur noch aus künstlicher „Wertsteigerung“ ziehen: eben der Aktien- und der Immobilienmarkt. Wo es aber Profiteure gibt, gibt es immer auch Verlierer. Der Aktienmarkt ist ein riesiges Wettbüro. Und mit jeder Wertsteigerung von Immobilien verliert die große Masse der Mieter.
Mit anderen Worten: Fortwährend werden Menschen enteignet, immer weiter. Die große, große Masse der Menschen, wir alle, werden über die Mieten, über den auch durch den Aktienmarkt ständig steigenden, aufgeheizten Profitdruck, fortwährend enteignet ... um unsere eigene Altersversorgung zu bezahlen. Man nimmt uns das Geld ab, um es uns als private Rente – so wir eine solche überhaupt haben! – wieder in die Hand zu drücken. Ansonsten nimmt man es uns nur ab. Es ist ein gigantischer Betrug – damit noch mehr in den Händen einiger weniger landet. Immer noch mehr.
Nun rufen die Funktionäre [der SPD] nach jeder Schlappe, die Partei müsse linker werden. Und wundern sich dann, dass die Zahlen weiter bröckeln. [1]
Im Gegenteil – die Wahlergebnisse der SPD brachen mit historischer Dramatik von dem Moment an ein, als sie „Hartz IV“ geschaffen hatte, das demütigendste Instrument, das eine sozialdemokratische Partei je ersonnen hat – und mit dem sie aufhört, sozialdemokratisch zu sein. Seitdem brachen die Wahlergebnisse ein – und tun es weiter, weil die SPD immer nur weiter ihr Profil verlor, immer weniger links wurde. Das ist die Wahrheit.
Gönnerhafte Lügen
Und zuletzt:[1]
Nach aller Erfahrung wird die Debatte bald die Stoßrichtung ändern: weg von Enteignung, hin zu mehr staatlicher Kontrolle und höheren Steuern. Die deutsche Linke weiß schon, woher der Wohlstand kommt. Sie will doch gar nicht die Gewinne verringern. Sie möchte einen höheren Teil abschöpfen, um Wohltaten zu verteilen. Und Applaus dafür einzuheimsen.
Arroganter und gönnerhafter geht es nicht mehr! Als ob die Gerechtigkeitsfrage nur ein Schauspiel wäre. Die tragische Wahrheit aber ist: Die Rechte (in diesem Fall CDU) und die zahnlose Mitte (SPD) heimsen sogar noch dafür Applaus ein, dass sie der Profitmaximierung kaum etwas entgegensetzen, weshalb diese immer weitergeht und die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet. Die Masse jubelt unwissend ihrer eigenen Enteignung zu, indem sie ihr Kreuz immer weiter bei jenen Parteien macht, die nicht mehr wirklich links sind – oder es auch noch nie waren.
Die Linke möchte nicht Wohltaten verteilen (ein Bild wie aus dem Absolutismus), sondern den Wohlstand. Und sie möchte wieder ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der großen Mehrheit nicht nur ein Stück vom Kuchen zusteht, sondern die ganze Bäckerei. Es geht nicht um die Verringerung der Gewinne, sondern um die Frage, wer sie erzielt, wie sie erzielt werden und wo sie landen.
Nicht zuletzt, sondern im Grunde vor allem, steht die Linke für diese Hauptfrage: Wie werden Gewinne erzielt? In welcher Weise wirtschaften wir überhaupt? Und was dient den Menschen?
Der Kommentator blendet dies völlig aus, um ganz an seinen Dogmen festzuhalten, dass die „soziale Marktwirtschaft“ die beste aller Welten herstelle – und dass wir uns zudem überhaupt noch in einer solchen, in einer sozialen Marktwirtschaft, befänden. Was, wenn dies gar nicht mehr der Fall ist? Was weiterhin, wenn auch die Profitmacherei der deutschen Wirtschaft wiederum auf Kosten anderer, ärmerer Teile der Welt beruht, insofern es um das „Exportgeschäft“ geht?
Was, wenn wir Wirtschaft überhaupt radikal neu denken müssten – eben im Sinne der Brüderlichkeit?
Was wäre, wenn wir erkennen würden, dass Profit überhaupt niemals Selbstzweck sein kann – und dass das Hinterhergerenne hinter dem Profit bereits die ganze Degeneration und Perversion des heutigen Denkens ausdrückt?
Die meisten Menschen wollen überhaupt keinen wirklichen Profit – sie wollen einfach nur normal leben. Dass es um den Profit geht, ist ein Ammenmärchen und eine krasse Lüge, der Allgemeinheit aufgezwungen, weil einige Wenige es so wollen. Und mit dieser brutalen Lüge geht es immer weiter. Die Steigerung der Mieten. Die Kostenexplosionen im Gesundheitswesen – obwohl der kranke Mensch immer mehr nur noch als „Fall“ behandelt und abgehandelt wird: Diagnose, Therapie, Abrechnung, möglichst schnell wieder entlassen, um neue Patienten durchzuschleusen. Krankenhaus als Konzern. Da sind wir gelandet. Es geht nicht mehr um den Menschen. Es geht um die Zahlen – die müssen stimmen. Es geht um den Profit. Ein Märchenonkel, wer anderes behauptet. Wir haben die Menschlichkeit selbst dem Profit überantwortet – und dieser entmenschlicht alle Lebensbereiche, die er zu fassen bekommt. Es ist die Eigenlogik, die wir selbst zugelassen haben. Die CDU ist ihr Einpeitscher – und die SPD ist längst ebenfalls umgekippt.
Was wäre, wenn wir endlich eine Grundwahrheit erkennen würden – durch den gesunden Menschenverstand und im eigenen, unmittelbaren Erleben: Kapitalismus ist nicht Bedingung für allgemeinen Wohlstand, er ist dessen Ende. Kapitalismus ist der Widerspruch zu allgemeinem Wohlstand. Beides schließt sich kategorisch aus.
Nicht der Profiteur erzeugt die Gewinne, sondern die Ausgebeuteten. Darum müssen die Gewinne nicht „abgeschöpft“ werden – sondern schon ganz anders zustande kommen. Der Profit darf gar nicht erst in einer Hand entstehen. Der Wohlstand muss der gemeinsame sein und gemeinsame bleiben. Verstaatlichung ist ein Weg. Das Sich-Verabschieden vom Profitgedanken selbst ist ein anderer. Dann können Privatinitiative und allgemeiner Wohlstand endlich Hand in Hand gehen. Denn dann wird Brüderlichkeit möglich.
Leistungslose Einkommen und das Wohl der Allgemeinheit
Kühnert sagte:[2]
„Ich finde nicht, dass es ein legitimes Geschäftsmodell ist, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.“
Zunächst müsste man sagen: Profite zu machen. Aber genauer betrachtet, hat Kühnert vollkommen Recht, denn er spricht von leistungslosen Einkommen – also von Schmarotzertum. Profiteure sind immer Schmarotzer, denn sie beuten diejenigen aus, von denen sie profitieren. Die Profiteure profitieren – und die Ausgebeuteten haben das Nachsehen.
Wer seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, dass andere Menschen ihm fleißig jeden Monat etwas zahlen, ist ein Ausbeuter – wie die Könige und Fürsten früherer Jahrhunderte. Selbst nicht arbeiten und Andere für sich arbeiten lassen. Modernes Schmarotzertum, abgesegnet vom Dogma des Kapitalismus, dass dies nicht nur zulässig, sondern sogar erstrebenswert ist!
Sozial und menschlich ist nur ein einziges Szenario: Der Häuslebauer kümmert sich verantwortungsvoll um den Wohnbestand und erzielt keine Profite, weil er genauso viel in den Erhalt investieren muss, wie er einnimmt, und weil er die Miete auch nicht teurer macht, als sie unbedingt sein muss. Und doch beginnt die Frage schon bei den steigenden Bodenpreisen – wer verdient daran? Und warum kostet Boden etwas – und wer besitzt diesen? Das sind die eigentlichen Fragen, zu denen Kühnert sich noch nicht einmal geäußert hat.
Überall geht es um die Frage leistungsloser Einkommen – und schmarotzender Profite. Der Immobilienmarkt ist ein Riesenfeld dieser falschen und asozialen Einkommen, und er ist bei weitem nicht das einzige.
„Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“, sagt das Grundgesetz – aber zu diesem Wohle ist sie es! Und für den Bau von Autobahnen („Freie Fahrt für freie Bürger“) sind solche Enteignungen (!) gang und gäbe, finden fortwährend statt. Nur für das Wohl der Wohnraum benötigenden Allgemeinheit sollen sie nicht möglich sein? Was privilegiert Autobahnen vor Wohnraum? Oder wo wäre die Allgemeinheit mehr betroffen – wenn nicht durch den Wohnraum? Dieser ist ein absolutes Grundbedürfnis – unendlich weit vor Autobahnen! Was spräche gegen die Enteignung der großen „Vermietungskonzerne“, die außer Profiten keinerlei Interessen mehr kennen?
Aus all diesen Gründen hat Kühnert trotz der Brandungswelle all der verlogenen Kritik, die dann auf ihn eingestürzt war, auch nicht klein beigegeben, sondern sogar noch nachgelegt:[3]
„Ich habe das sehr ernst gemeint, was ich formuliert habe“, sagte Kühnert. Der Kapitalismus sei „in viel zu viele Lebensbereiche vorgedrungen: „So können wir auf keinen Fall weitermachen.“
Nicht nur das – sondern er ist, wie gezeigt wurde, überhaupt ein Krebsgeschwür, in welchem Lebensbereich auch immer. Kapitalismus ist nicht die Lösung, er ist das Problem. Das Wirtschaftsleben braucht nicht die Profitgier – es braucht nur das Bewusstsein, dass es darauf ankommt, dass es jedem Einzelnen gut geht, dass es um gegenseitige Menschlichkeit, gegenseitige Versorgung im Dienste der Bedürfnisse des Menschen geht. Um nichts anderes.
Genau die richtigen Fragen
Und mit Recht sagt Kühnert dem „Spiegel“:[3]
Die empörten Reaktionen zeigen doch, wie eng mittlerweile die Grenzen des Vorstellbaren geworden sind. Da haben 25 Jahre neoliberaler Beschallung ganz klar ihre Spuren hinterlassen.
So ist es. Die Agenda 2010 der SPD wurde vor sechzehn Jahren in die Wege geleitet. Und lange davor gab es pausenlos die radikale neoliberale Dogmatik, die den globalen Konkurrenzkampf auf die nächste Stufe heben sollte. Wer dies als Alternativlosigkeit bezeichnet, degradiert sich selbst zum Vorkämpfer der Unmenschlichkeit. Große Teile der CDU und SPD haben das getan.
Die realen Folgen werden immer sichtbarer:[3]
Bei rund 21 Millionen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten erhielten 3,38 Millionen zuletzt ein Gehalt von weniger als 2000 Euro brutto im Monat – in Ostdeutschland beträgt der Anteil der Geringverdiener trotz Vollzeitjob sogar 27,5 Prozent. Ihnen allen drohen Minirenten und Altersarmut. Und in Städten wie Berlin zahlen auch Gutverdiener zum Teil mehr als die Hälfte des Gehalts für die Miete.
Inzwischen finden sich auch Verteidiger Kühnerts, so Berlins Innensenator (SPD), der sagte:[4]
Die Aufregung um diese Äußerung von Kühnert zeigt, dass er die richtige Frage gestellt hat. Nämlich die Frage nach der Verteilung von Einkommen.
Und auch der SPD-Vorsitzende Nordrhein-Westfalens, Sebastian Hartmann:[4]
[...] sagte dem "Spiegel", die Debatte müsse aufgenommen werden. "Wir brauchen ein grundlegend neues Wirtschaftsmodell." Der ungeregelte Markt sei "unser Gegner". "Ungleichheit ist der Sprengstoff unserer Zeit."
Ein Vierteljahrhundert nach dem eigenen Kniefall vor dem „Markt“ erkennen nun also einige SPD-Politiker zumindest rhetorisch wieder die wahren Fragen. Nicht um den Markt geht es, sondern um den Menschen. Nicht um den Profit, sondern um das gemeinsame Leben. Nicht einmal um das bloße Lebenlassen (wenn es denn wenigstens so wäre!), sondern um Brüderlichkeit. Also nicht nur um die Scheinalternative von Profitmaximierung und Verstaatlichung, sondern um ein grundlegend neues Wirtschaftsmodell. Vielleicht ja auch um ein grundlegend neues Menschenbild – ohne das grundlegend Neues gar nicht gedacht werden kann.
Und im selben „Tagesspiegel“, in dem sich der unsäglich dogmatische Kommentar fand, den wir ausführlich behandelten, finden sich zum Glück auch ganz andere Gedanken und Fragen:[3]
Vielleicht sollten statt der üblichen Reflexe, die hinter Kühnerts Aussagen liegenden, größere Fragen diskutiert werden. Wie kann die Gesellschaft, in der Hass und Polarisierung ein ungesundes Maß erreichen, wieder besser zusammengehalten werden? Wie kann die Schere zwischen Arm und Reich verringert werden? In was für einem Land will man leben? Ist die Marktwirtschaft noch sozial?
Das alles sind die entscheidenden Fragen. Und in einen noch größeren Zusammenhang gehört die Tatsache, dass der Kapitalismus nicht nur die Menschlichkeit, sondern auch die Umwelt, den gesamten Planeten, an den Rand des Abgrunds bringt. Bleiben die Zeitungskommentatoren noch lange blind und dogmatisch, werden ihre Kinder bald nicht mehr die Freiheit haben, Phrasen zu dreschen, weil ihnen das Wasser menschlich und ökologisch bis zum Hals steht.
Die Zeit der Dogmen geht endgültig zu Ende. Die Frage ist nur, was danach kommt...
Quellen
[1] Christoph von Marschall: Bananen – plus Sozialismus. Tagesspiegel, 3.5.2019.
[2] Juso-Chef Kühnert will Unternehmen wie BMW kollektivieren. Tagesspiegel, 1.5.2019.
[3] Georg Ismar & Hans Monath: Kevin Kühnerts Sozialismus-Thesen und die Folgen. Tagesspiegel, 2.5.2019.
[4] „So können wir auf keinen Fall weitermachen“. Tagesspiegel, 3.5.2019.