2019
Eine Apotheose der Liebe
Filmbesprechung: Maquia – Eine unsterbliche Liebesgeschichte (Japan, 2018, 115 min) | Sayonara no Asa ni Yakusoku no Hana o Kazarō („Schmückt die gelobte Blume am Morgen des Abschieds“) | Regie und Drehbuch: Mari Okada. | Amazon
Inhalt
Ein Meisterwerk als bloßes Tages-Event
,Maquia’ – Die Handlung
Eine einzigartige Regisseurin
Das unbeschreibbare Geschenk
,Stärker als heute in der realen Welt’
Stärker als Tod und alles Leiden
Ein Meisterwerk als bloßes Tages-Event
Manchmal fragt man sich, was die Politik hinter manchen Filmpremieren ist. Der Film ,Maquia – Eine unsterbliche Liebesgeschichte’ wurde vom deutschen Lizenznehmer ,Universum Anime’ nur für zwei Tage im Mai diesen Jahres in rund 130 deutsche Kinos gelassen – als Eventereignis. Aber auch in den englischen und irischen Kinos lief er nur an einem Tag im Juni 2018. Auf Nachfrage antwortete mir ein Mitarbeiter von ,Universum Anime’, es gebe noch immer nur ein eher geringes Interesse für Anime-Filme, und die Exklusiv-Vorstellung an ein, zwei Tagen würde erfahrungsgemäß den größten Teil der Nachfrage abdecken.
Das kann ich nicht glauben – erst recht nicht, wenn man die übliche Werbung vorangehen ließe, wie sie auch für andere große Produktionen üblich ist. Denn ,Maquia’ ist ein Meisterwerk. Nun endlich erscheint er auf DVD.
Ein ähnliches Schicksal hatte vor nunmehr schon fast zwanzig Jahren (!) der längst legendäre Film ,Prinzessin Mononoke’. Damals war hierzulande das Wissen um die Anime-Kunst natürlich noch unendlich kleiner. Dennoch lief dieser Film damals regulär in den Kinos – allerdings mehrmals verschoben, fast ohne Werbung, mit nur 35 Filmkopien in kleinen, ständig wechselnden Programmkinos. Aber selbst auf diese Weise erreichte er insgesamt 70.000 Zuschauer. Auch hier wollte ,Universum Anime’ am Anfang nicht einmal eine DVD herausbringen – bis der Druck der Fangemeinde so groß wurde, dass sie schließlich doch erschien [o]. Auch der Ghibli-Film ,Erinnerungen an Marnie’ kam Ende 2015 ganz regulär ins Kino (20.000 Zuschauer). Auf ARTE sahen ihn dann im Juni 2017 rund 260.000 Zuschauer [o].
Zum Vergleich [o]: Ein Film wie ,Wonder Woman’ erreicht eine Viertelmillion, ,Captain Fantastic’ 310.000. Aber regulär im Kino und zuvor beworben liefen auch ,Melodie des Meeres’ (31.000) und die Anime-Filme ,Wie der Wind sich hebt’ (55.000), ,Erinnerungen an Marnie’ (21.000) oder ,Die rote Schildkröte’ (5.000). Der ,Bestseller’ von Studio Ghibli, ,Chihiros Reise’, hatte seinerzeit sogar über 430.000 Besucher. So groß ist also das Potential.
Und noch ein Vergleich [o]: Allein an dem Wochenende, an dem ,Maquia’ gezeigt wurde, hatte der triviale Beststeller ,Pokémon’ 255.000 Zuschauer. Der Film ,Nur eine Frau’, der das Thema Ehrenmorde thematisierte, kam auf 8.500 Besucher, der Horrorfilm ,The Silence’ auf 20.000. Dieser lief in über 280 Kinos. ,Maquia’ lief nur am Sonntag und am vorhergehenden Donnerstag in 127 Kinos und hatte ohne Werbung ... magere 5.000 Zuschauer. Wäre er aber beworben worden und wäre er wirklich regulär in alle Kinos gekommen, so hätte er sicherlich ganz ebenso bereits am ersten Wochenende 20.000 Zuschauer haben können – und es hätte sich herumgesprochen.
,Maquia’ hätte wochenlang in den Kinos laufen können. Es ist einfach kommerzielle Angst und mangelnder Mut der Lizenznehmer und Kinobetreiber, die nicht zulassen, dass einzigartige Filme den Erfolg bekommen, den sie verdienen. Interessant ist, dass in Frankreich die Anime-Filme in den Kinos sechs- bis dreißigmal (!) mehr Besucher haben als in Deutschland. Zwar gehen die Menschen dort ohnehin generell dreimal mehr ins Kino, aber die Besucherzahlen der Anime-Filme sind exorbitant höher als in Deutschland. Offenbar ist man in unserem Nachbarland nicht so mutlos – und erreicht dadurch die Menschen auch.
,Maquia’ – Die Handlung
Eine Inhaltsangabe sagt (ebenso wie ein Trailer) wenig über einen großen Film, aber sie bietet eine erste Orientierung, an der man im Folgenden Wesentlicheres klarmachen kann. So sei hier also zunächst der Inhalt grob wiedergegeben [Wiki].
Das Volk der fast unsterblichen Iorph webt in einem der Welt enthobenen, einsamen Reich die Hibiol-Tücher, die alles Geschehene festhalten. Das Waisenmädchen Maquia ist Assistentin der weisen Meisterin Lashinu, die sie davor warnt, emotionale Bindungen zu Menschen einzugehen, da dies wahre Einsamkeit bringe.
Bald darauf werden die Iorph mit Hilfe von Lenato-Drachen von Soldaten des Königreichs Mesate angegriffen und fast ausgerottet, nur Maquias Freundin Leylia wird gefangengenommen. Einer der Drachen verfällt einer geheimnisvollen Seuche, wird rasend und verschleppt Maquia, die sich an einigen von ihm mitgerissenen Tüchern festhält. Sie findet sich schließlich mitten in einem Wald wieder und trifft auf den Händler Balou, der halb Iorph, halb Mensch ist, und in einer überfallenen Hütte auf ein Baby in den Armen der toten Mutter. Balou warnt sie noch, aber sie nimmt sich des Babys dennoch an und nennt es Erial. In einem Dorf wird sie von einer einfachen Frau aufgenommen, die ihre Söhne Lang und Deol großzieht.
Maquia gibt Erial alle Liebe, die sie hat, und dieser wächst heran. Als sie erfährt, dass Leylia noch lebt und in eine Ehe gezwungen wurde, reist sie in die Hauptstadt, begegnet Leylias früherem Freund Krim, aber die Befreiung misslingt, weil Leylia bereits hochschwanger ist und die Flucht verweigert.
Jahre vergehen. Maquia, die auch wegen ihrer ewigen Jugend immer umziehen muss, lebt mit Erial inzwischen in der Eisenschmiede-Stadt Dorail und arbeitet als einfache Kellnerin. Erial ist Teenager, und es kommt zu Konflikten, zumal Erial mehr und mehr begreift, dass sie gar nicht seine ,echte’ Mutter ist. Schließlich wird er Soldat. Maquia wiederum wird von Krim entführt.
Krim gelingt es schließlich, die übrigen Reiche zu verbünden, die nun Mesate angreifen. Erial ist inzwischen in die Hauptstadt zurückgezogen und hat dort Dita geheiratet, die er schon als Kind kannte. Während Erial als Soldat kämpft, begegnet Macquia Dita gerade zur Geburt und steht ihr bei. Danach begegnet sie auch Erial, und in einer ergreifenden Abschiedsszene begreift er, wie sehr sie ihm in all den Jahren Mutter gewesen ist. Maquia kann den mittlerweile letzten noch lebenden Lenato-Drachen befreien und Leylia retten, und sie kehren nach Iorph zurück.
Später kehrt Maquia noch einmal zu Erial zurück, als dieser als alter Mann im Sterben liegt, und nimmt von ihm Abschied. Sie hatte ihm als Mutter versprochen, nie zu weinen, aber als er tot ist, kann auch sie das Versprechen nicht mehr halten. Der Händler Balou, mit dem sie gereist ist, erinnert sie an seine Warnung, aber sie bereut nicht einen Moment, sondern ist tief dankbar für alles.
Eine einzigartige Regisseurin
Bevor wir weiter auf den Film eingehen, zunächst einige Hintergründe. Die Regisseurin ist in Japan und insbesondere unter Anime-Kennern keine Unbekannte, berühmt ist sie jedoch bisher nur für ihre Drehbücher geworden – und der Schritt eines Drehbuchschreibers zum Regisseur ist absolut ungewöhnlich. Doch der Präsident der Produktionsfirma P. A. Works, Kenji Horikawa, sagte bereits 2012, er wolle eine ,100 % Okada-Arbeit’, und so begann der Prozess, der schließlich zu ,Maquia’ führte. Drei Jahre lang dauerten die Arbeiten vor dem eigentlichen Produktionsbeginn, der dann Ende 2016 lag und bis Januar 2018 dauerte.
Okada selbst ist eine Ausnahmeerscheinung. Vor kurzem erschien ihre sehr mutige und ehrliche Biografie. Sie wurde in der Schule mehr oder weniger gemobbt, brach diese dann ab und wurde eine der sehr vielen jungen Japaner, die im Grunde gar nicht mehr die Wohnung verlassen, sich kaum waschen, nur noch Games spielen – nicht so sehr, weil sie süchtig sind, sondern weil sie keine sozialen Kontakte mehr wagen. Doch auch in ihrem Leben zeigte es sich, dass es manchmal nur eine Person braucht, die an einen glaubt, um einem das Leben zu retten. In ihrem Fall war dies ein Lehrer, der ihr sagte, sie brauche nicht in die Schule zu kommen, aber sie darin unterstützte, aufgrund ihres Schreibtalents bei nationalen Wettbewerben mitzumachen – wo sie dann auch Erfolg hatte. Sie wagte sich wieder in die Welt, begann als Drehbuchschreiberin, zunächst mit wertlosesten Aufträgen (u.a. Pornografie-Videos!), bis sie schließlich Zugang zum Anime-Bereich fand und dort dann auch ihren Durchbruch erzielte.
Doch eine Frau als Regisseurin? Noch 2016 sagte Yoshiaki Nishimura, Produzent des legendären Studio Ghibli, Frauen seien zu realistisch und ihnen würde für Fantasy-Filme ein idealistischer Ansatz fehlen [o]. Mit ,Maquia’ beweist Okada nun das genaue Gegenteil. Oder anders gesagt: Sie verbindet weiblichen Realismus und Idealismus – denn es ist ein zutiefst weiblicher Film. Für seine Qualität spricht allein schon das Urteil auf der einschlägigen Plattform ,Rotten Tomatoes’ – dort fielen alle 25 Kritiken einstimmig positiv aus. Zugleich ist es kein Film, der in irgendeiner Weise nach der Gunst des Publikums geschielt hat oder sonstige Kompromisse einging, wie Okada fast zurückhaltend bekennt [o]:
It’s hard for me to say but what I try to do is to be true to my feelings. And not to do something just because that’s popular right now, or because that’s what the rest of the team are interested in. And not to second guess what the fandom would like.
Das unbeschreibbare Geschenk
Was macht diesen Film nun so herausragend? Es ist zweierlei – zum einen die Ästhetik. Es gibt wohl kaum ein Anime, das immer wieder so unglaublich schöne Bilder gibt. Die betörende Schönheit vieler Szenen ist nur mit Filmen wie ,Das Geheimnis von Kells’ zu vergleichen – die dort aber wieder ganz anders ist. Das andere aber ist die Schönheit der Handlung, insbesondere einer Handlung, einer Handelnden: die innere Schönheit Maquias, die durch ihr Handeln vom Mädchen zur Frau wird – ohne dass man sagen könnte, wann oder ob dieser Übergang wirklich stattfindet oder ob dies überhaupt wichtig ist.
Und vielleicht macht dies gerade den unglaublichen Reiz des Filmes aus. Maquia nimmt sich des Babys an, das sie findet – und sie tut es für das Baby und für sich selbst, denn bis dahin war sie einsam. Zugleich ist sie von Anfang an absolut selbstlos, denn sie trifft keinen rationalen Entschluss, sie folgt ihrem Herzen, ihrem Mitleid – sie kann gar nicht anders. Aber ihre Tat ist radikal, denn von nun an tut sie alles für das Kind. Sie will ihm eine Mutter sein – und weiß doch zunächst überhaupt nicht, wie das geht. Aber das alles ist unwesentlich, denn getrieben von einem unerschütterlichen Willen der Hingabe wird ihr Muttersein für Erial geboren. Sie wird es, weil sie es werden will. Wille und Werden sind eins. Man kann sagen: Sie empfängt die heilige Taufe der Mutterschaft durch ihre bedingungslose Hingabe.
Vielleicht klingen diese Sätze abstrakt, vielleicht lesen sie sich unverständlich – aber vielleicht liegt dies dann nur an dem Leser, der sich dies nicht vorstellen kann. Doch vielleicht muss man den Film wirklich erst selbst sehen, vielleicht führt nichts daran vorbei. Dieser Film macht betroffen – zumindest dann, wenn man sein Herz noch auf der rechten Stelle hat. Er macht betroffen, weil er einen wieder spüren lässt, was Hingabe ist. Er tut dies auf fast magische Weise. Denn möglicherweise gibt es andere Filme, die dies ebenfalls spüren lassen, Dramen, Tragödien, melodramatische Szenen. Doch ,Maquia’ übersteigt diese – denn dieser Film macht das Wesen der Hingabe zu einer gleichsam transzendenten Erfahrung. Gerade indem er sie, die Hingabe in Gestalt von Maquia, in eine Fantasy-Welt versetzt, wird sie umso realer. Denn mag man bei ,realen’ Filmen im Unterbewusstsein immer noch wissen, dass hier gerade Schauspieler eine Szene spielen, oder wissen, dass dies angesichts des realen Lebens doch vielleicht ,übertrieben’ sei, eben ,melodramatisch’ – so enthebt einen die Fantasiewelt des Films ,Maquia’ dieser Überlegungen oder halbbewussten inneren Urteile. Bei Maquia ist nichts gespielt – Maquia ist so, und deshalb ist es ganz und gar echt ... und deshalb so überwältigend.
Das Sich-Einlassen der eigenen Seele kann einem dennoch niemand abnehmen. Wenn die Seele sich auf diesen Film aber einlässt, so wird sie mit einer unglaublichen Katharsis beschenkt. Katharsis, griechisch Läuterung, Reinigung, war das tiefgreifende Erleben, das die Griechen beim Anschauen einer Tragödie im Theater kannten. Die Seele wird zutiefst erschüttert – aber gerade diese Erschütterung tauft sie gleichsam mit einer völligen Neugeburt. Wer dies nicht kennt und wer einen Vergleich braucht, dem kann man vielleicht sagen: Was eine Sauna für den Körper ist, gleichsam ein Wunder, das ist Katharsis für die Seele. Aber diese Katharsis kennt jeder, der einmal aus tiefster Seele geweint hat. Leid und Schmerz ziehen wie eine Pflugschar durch die Seele ... aber wenn alle Tränen geweint sind, ist es, wie wenn ein linder Engel mit seinem Flügel durch die Seele streicht. Es folgt ein Frieden, der nicht weiter beschreibbar ist. Das ist Katharsis. Und das ist auch das Wunder dieses Filmes. Denn ohne Tränen wird man nicht hinausgehen – aber es sind Tränen, die einen fortwährend beschenken...
,Stärker als heute in der realen Welt’
Unsere Zeit leidet an einer unglaublichen Verflachung der Gefühle – und an einem wirklichen Verlust. Es gibt nur ein Gegenmittel: man muss die Tiefe wiederfinden. ,Maquia’ hilft einem dabei. Er ist ein Gegenmittel. Okada selbst bestätigt das zuvor Gesagte, indem sie das zentrale Motiv ihres Films wie folgt in Worte fasst:
I wanted to convey very intimate and very deep emotions. Maquia and Ariel, Leilia and Krim, those relationships are stronger than what you can actually experience in the real world, which is why I made the background a fantasy world instead of the real world. If we tried to convey these deep relationships in a real city or our world, it might seem fake because the emotions are so deep. So that's why this story happens in a fantasy world.
Ist es nicht bestürzend, dass wir so weit gekommen sind, tiefe, sehr tiefe Empfindungen für ,Fake’ zu halten? Fast schon unweigerlich? Anstatt uns zu fragen, wie das geschehen konnte? Anstatt uns zu fragen, warum die ,moderne’ Seele so oberflächlich ist? So gefühlsarm?
In einer Kritik heißt es, wie um gerade dies auf unglaublich erschütternde Art zu beweisen [o]:
Die kindliche Mutter ist über lange Strecken vielleicht ein wenig zu gefühlsduselig, verwirrt und ihrer Rolle einfach nicht gewachsen. Das passt natürlich zu einer Mutter, die nicht vorbereitet und plötzlich aus ihrem Umfeld gerissen wurde, kann aber so manchen Geduldsfaden sicherlich überspannen.
Wer dies schreibt, bemerkt nicht, wie tot und bloß noch ,konsum-verwöhnt’ die eigene Seele bereits ist. Mit kalten, hochmütigen Urteilen wird etwas bewertet, an dessen Wesentlichem man völlig vorbeigeht, weil man völlig verlernt hat, zu erleben. Die Seele ist kalt und flach, öde und leer geworden – und fühlt sich in ihrer ganzen herablassenden Nichtigkeit noch immer lebendig, weiß aber gar nicht mehr, wie hässlich sie bereits geworden ist, wie nichtig, wie tot...
Doch kehren wir zu dem einzigartigen Film zurück. Wir haben bereits gesehen, dass das zunächst fast Hilflose von Maquia bedingungslos zu der Essenz dieses Filmes dazugehört. Maquia überlegt eben nicht, bevor sie sich entscheidet, das Baby bedingungslos zu lieben und für es zu sorgen. Sie überlegt nicht, ob sie dies kann oder nicht – sie tut es einfach. Sie ist ein Engel, ohne es zu wissen. Ein Engel mag zunächst hilflos sein – aber er hat unendlich viel Herz. Der obige Kommentator mag unendlich gewandt und selbstgewiss ,Urteile’ fällen – aber er ist herzlos. Er ist, ohne es zu wissen, ein Unmensch... Der Unmensch urteilt über den Engel, weil dieser ihm zu ,töricht’, ,gefühlsduselig’ und ,die Geduld überspannend’ erscheint. Das ist die furchtbare Signatur unserer Zeit...
In mehreren Interviews sagte Okada, dass das Thema ihres Films nicht eigentlich Mutterschaft ist, sondern die Tiefe menschlicher Bindungen. Nun schließt sich dies nicht aus, denn Maquia erlebt die allertiefste Bindung, indem sie die Mutterschaft sucht und auf sich nimmt und bedingungslos zu leben versucht. Und auch wir wissen, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu den allertiefsten Bindungen gehört, die existieren oder möglich sind. Worauf es ankommt, ist, das Wesen dieser Bindungen wiederzuentdecken. Was gibt die Tiefe einer solchen Bindung, was ist ihre heilige Essenz?
Man wird immer wieder nur auf die gleiche Antwort kommen: Es ist die Liebe. Es ist wirkliche Hingabe. Dieses Wunder – das Wunder von Hingabe. Und hier kehrt sich alles um. Was Leid ist, ist zugleich Geschenk, was Schmerz ist, ist zugleich Zeugnis der Liebe. Was Trennung ist, ist zugleich ewige Verbindung, weil die Liebe eine heilige, eine leuchtende Erinnerung gewebt hat – das Wunder der Hibiol-Tücher, mitten in den Tiefen der Seele...
Es ist ein Wunder, wenn Maquia am Ende ihrer langen Reise die Worte der weisen Meisterin korrigieren kann. Sie hat ihre Warnung nicht beachtet, sie hat sich nicht vor Gefühlen und emotionalen Bindungen gehütet – aber nun begreift sie, dass dies gerade das größte Geschenk in ihrem Leben war und immer sein wird. Und obwohl die Meisterin längst verschwunden ist, sehr wahrscheinlich nicht mehr am Leben, kann sie im Geiste zu ihr sprechen, geradezu gesegnet vom Leuchten all ihrer schmerzlichen und zugleich schönen Erinnerungen: ,Weise Meisterin, ich bin so dankbar, dass ich Erial lieben durfte!’
Stärker als Tod und alles Leiden
Dieses Erleben ist etwas Allergrößtes in der Geschichte des menschlichen Bewusstseinsentwicklung, denn grandios steht in der Menschheitsgeschichte die Frage da: Warum das Leiden – und welchen Sinn hat dieses?
Der große Lehrer Buddha hatte die Antwort, dass das vergängliche Leben notwendigerweise zu Leiden führe, dass dies nicht erstrebenswert ist und dass der einzige Weg der Befreiung eine Befreiung von allem Anhaften ist, was den Kreis der Wiedergeburten beendet. Wer sich nicht mehr emotional bindet, weder an Menschen noch an anderes, der wird dem vom ,Durst nach Dasein’ in Gang gesetzten Rad der Wiedergeburten und des Karma enthoben und geht in das Nirvana ein.
Fünfhundert Jahre nach Buddha kam das Christus-Geschehen. Das Gotteswesen selbst verband sich mit dem menschlichen Schicksal und aller weiteren Menschheitsentwicklung und goss den Liebesimpuls in die Welt, der seitdem von jeder Seele aufgenommen werden kann. Die Realität dessen kann nur begriffen werden, wenn man jenseits aller Dogmen dieses Wesen wirklich denken kann, wenn man bereit ist, entsprechend große, kosmische Begriffe zu fassen – wie es die ersten christlichen Jahrhunderte noch vermochten. Das Geheimnis des Logos – Welten-Schöpfer-Wesen und Welten-Liebe-Wesen in einem.
Seit dem Christus-Geschehen ist Leben mehr als Leiden, ist Leiden mehr als Sinnlosigkeit, ist es etwas völlig anderes. Früher war Leiden sinnlos, negativ, ein Rätsel, ein dem Menschen auferlegtes Schicksalsjoch. Früher hatten auch schon Eltern ihre Kinder geliebt und umgekehrt, aber das waren Blutsbande. Und dennoch erschien das Leid sinnlos, das notwendig eintrat, wenn eines das andere zu Grabe tragen musste. Wozu das alles?
Doch dann kam das Christus-Geschehen. Seitdem ist die Liebe das eigentliche, das einzige Geheimnis. Seitdem ist alles von Liebe überleuchtet, durchdrungen und geheilt. Das Leid der Trennung bleibt anwesend – aber es ist etwas hinzugetreten: das Erleben einer nie wieder aufzulösenden Verbindung. Die Bande der Liebe sind stärker als der Tod – das war und ist das Grunderleben jener Liebe, die seit dem Christus-Geschehen in den Herzen leben kann. Der Tod kann Menschen voneinander trennen, aber er kann nicht ihre Liebe und ihre eigentliche Verbindung zueinander aufheben. Diese ist ewig, sie endet nicht. Sie ist un-endlich.
Und so ist die Liebe dasjenige Erlebnis im Menschenherzen, was der Seele die absolute Gewissheit von der Ewigkeit des Menschenwesens geben kann. Der Körper ist dann zeitweilige Hülle, die zeitweilig abgelegt wird, ohne dass dies das Wesen betrifft. Und die Gewissheit ist: Die, die sich lieben, werden wieder miteinander verbunden sein, die Trennung ist nur vorübergehend. Das ist der nicht zu ermessende, der weltenweite Schritt von Buddha zu Christus. Die Vergänglichkeit des Leibes ist überhaupt nicht entscheidend.
Das Evangelium macht bis auf das berühmte Christus-Wort, dass Johannes der Täufer der wiedergekehrte Elias sei, keine Aussagen zur Tatsache wiederkehrender Erdenleben. Es ist das ungeheure Verdienst Rudolf Steiners, in der Anthroposophie die große Erkenntnis des Ostens mit dem heiligen Liebesimpuls des im Westen erschienenen und erkannten Christus vereint zu haben. Reinkarnation und Christentum. Aber der Christus-Impuls selbst, das Erscheinen der Liebe im Menschenherzen, ist in Wahrheit Beweis genug. Das eine Leben im vergänglichen Erdenleib endet – aber die Liebe endet nicht. Also werden sich die Liebesbande fortsetzen – es kann gar nicht anders sein.
,Maquia’ verliert kein einziges Wort über Christentum oder Buddhismus. Aber es ist ein erschütterndes Zeugnis über die Wirklichkeit, die Realität des Christus-Impulses im Menschenherzen – und dieses Zeugnis ist ein Anime-Film einer in Fernost geborenen und aufgewachsenen Frau und ihres wunderbaren Teams japanischer Anime-Künstler. Die trostlose Wahrheit Buddhas und der weisen Meisterin, dass man alle Bindungen lösen müsse, um erlöst zu werden, ist überwunden. Denn das wahre Geheimnis, das wahre Geschenk und die wahre Begnadung ist die Liebe. Die Liebe befreit, indem sie bindet. Die Liebesbande sind gerade die wahre Befreiung. Und das Mädchen Maquia beweist, dass die Liebe alle Blutsbande übersteigt, völlig unabhängig von ihnen ist.
,Weise Meisterin, ich bin so dankbar, dass ich Erial lieben durfte!’