05.08.2019

Erden-Liebe zwischen Wahrhaftigkeit und korrumpierenden Dogmen

Offener Brief an einen „Spiegel“-Journalisten.


Inhalt
Worum es geht
Orwell oder Erdrettung für Hedonisten?
Einstein oder Vogel Strauß
Ein trauriges Menschenbild
Von den drei Alternativen
Was wäre wenn...


Worum es geht

Lieber Stefan Schultz,

vor einer Woche schrieben Sie auf „Spiegel online“ den Artikel „Wie Greta unser Denken prägt“. Sie begannen damit, Ihr Erlebnis zu schildern, als sie im luftverpesteten Delhi auf Ihre Frau warten mussten.

"Hazardous Air", gefährliche Luft, warnte mich meine App und zeigte ein Männchen mit Gasmaske, das röchelnd am Boden liegt. [...] Weil der Flug meiner Frau verspätet war, stand ich letztlich rund anderthalb Stunden mit brennenden Augen und Lungen auf der Straße herum und erwog in einem Anflug von Galgenhumor, wieder mit dem Rauchen anzufangen.

Sie schrieben, dass Sie in der südchinesischen See zwischen Plastikmüll herumgeschwommen, in Vietnam an stinkenden, chemieverseuchten Flüssen vorbeigefahren sind, in indischen Bergdörfer die Bewohner ihren Müll einfach den Abhang hinunterkippen haben sehen. Und dann schrieben Sie jene Sätze, die man in den Medien im Grunde niemals liest – und die fast schon allein von Mut und Authentizität zeugen:

Als ich in Delhi auf meine Frau wartete, kamen mir all diese Erfahrungen wieder in den Sinn. Es war, als könnte ich zusehen, wie die Menschheit die Natur an all diesen Orten gleichzeitig zerstört. Ich dachte an das Bevölkerungswachstum, daran, wie bald noch viel mehr Menschen noch viel mehr Wälder, Flüsse und Ökosysteme vernichten werden. Die Verzweiflung, die diese Vorstellung auslöste, war so intensiv, dass mir fast die Beine wegsackten. […] Ich habe auf einer tiefen, existenziellen Ebene gespürt, wie wir unseren Planeten zugrunde richten, wenn wir unserem Leben einfach möglichst viel abgewinnen wollen.

Ich werde auf diese denkwürdigen Sätze zurückkommen.

Sie schreiben weiter:

Mir ist klar, dass ich durch meine Reporterreisen zur Ökokatastrophe beitrage. Ich weiß, wie wenig es bringt, dass ich zum Beispiel Ökostrom beziehe und noch nie ein eigenes Auto besessen habe. Durch meine Fliegerei verursache ich trotzdem tonnenweise CO2 - auch wenn ich dieses nachträglich per Atmosfair ausgleiche. […] Ich habe zuletzt über Agent-Orange-Opfer im Vietnam berichtet und über die prekären Lebensumstände bulgarischer Gastarbeiter in ihren Heimatdörfern. Ich halte es nach wie vor für sinnvoll, solche Missstände zu thematisieren. Ungerechtigkeiten aufzudecken. Benachteiligten eine Stimme zu geben. Lesern neue Perspektiven zu eröffnen, zum Beispiel auf Migranten.
Ich halte außerdem das Reisen an sich für sinnvoll. Weil man dabei lernen kann, besser mit Andersartigkeit umzugehen. Was wiederum helfen kann, Gesellschaften toleranter und freier zu machen.
Der Preis solcher Vorteile, nichtsdestotrotz, ist eine Bedrohung des Ökosystems. Und damit unserer Existenz. Am Ende kann man Toleranz und Gerechtigkeit nicht einatmen.

Das alles sind wunderbare Erkenntnisse. Die Berichte über globale Zusammenhänge sind unerlässlich, zumal, wie Sie schreiben, gerade jetzt ,Autokraten weltweit auf dem Vormarsch sind’.

Und dann kommt Ihnen noch ein weiterer Gedanke: Neben privaten Klimaschutzbemühungen müsse dringend eine ,systemische Lösung’ her. Dafür sollte man zum Beispiel ,Petitionen einreichen, für das Klima demonstrieren oder bei "Fridays for Future" mitmachen’.

Sie schreiben, dass wir unseren Planeten zugrunde richten, dass Umweltwissenschaftler schon sehr lange vor den verheerenden Folgen unserer Lebensweise warnen und versuchen, ,einen ökologisch vertretbaren Handlungsspielraum für die Menschheit abzustecken’. Greta habe nun endlich eine ,emotional mitreißende Geschichte’ daraus gemacht, ,die die Massen mobilisiert’ – so dass nun ,der politische Druck für einen Systemwandel insgesamt zu wachsen scheint’.

Ein für den Klimaschutz förderlicher Trend sei inzwischen auch … in China im Gange. In Peking sei die Luft in den letzten Jahren deutlich besser geworden, weil ,die Chinesen etwas Zentrales begriffen haben: Der Mensch wird sich vermutlich nie grundsätzlich ändern.’ Hier wirke ein ganz anderes als das Greta-Narrativ: der ,chinesische Traum’, die ,Entwicklungsdiktatur, die dem wirtschaftlichen Wachstum alles unterordnet, auch grundlegende Menschenrechte’.

Ökoaktivisten sagen mitunter, dass die Abschaffung des Kapitalismus die Lösung ist. Für realistisch halte ich das nicht. Erfolg versprechender scheint mir der Ansatz, den die Autokraten in Peking verfolgen.

Die Autokraten investieren in erneuerbare Energien, Elektromobilität und viele weitere grüne Technologien … weil man damit inzwischen reich werden kann, ein ,kapitalistischer Erfolgsfaktor’. Das sei realistischer als Verbote, Subventionen und rein privater Klimaschutz. Und Sie enden:

Es wäre schön, wenn wir aus freien Stücken ein nachhaltigeres, selbstloseres Leben führen würden. Doch das traue ich weder Chinas wachsender Mittelschicht noch Deutschlands klimabesorgten Klimasündern zu. Und mir selbst auch nicht.

Orwell oder Erdrettung für Hedonisten?

Ich finde die Lücken Ihrer Argumentation erschreckend. Zwischen ihrem unglaublich bewundernswerten Erleben, als Sie auf Ihre Frau warteten, und ihren übrigen Gedanken klafft eine riesige Lücke – und Sie sehen sie nicht einmal.

Ich beginne mit dem Naheliegendsten: Kann aus ,grünen Technologien’ je ein ökonomischer Erfolgsfaktor werden, wenn die Menschen nicht auch umdenken? Oder wenn nicht konsequent die Umweltlasten und -kosten der fossilen Energien in die Preise hineingenommen werden? Dann braucht man weder Subventionen noch Verbote. Aber – entweder grüne Technologie ist kostengünstiger, weil alle Kosten einberechnet werden, oder das Bewusstsein der Menschen ändert sich und bildet auch dann eine nachfragende Kraft, wenn es nicht unbedingt günstiger ist. Anders kann auch China die ,grünen Technologien’ nicht zu einem Erfolgsfaktor machen – es sei denn, durch Zwang, wie ja auch durch Zwang und Überwachung dort der ,gute, soziale Mensch’ in Orwellscher Weise ,erzogen’ werden soll (etwa durch Abzug sozialer Punkte, wenn man bei Rot über die Ampel geht und vieles andere, Sie kennen diese Planungen).

Wenn der Mensch sich nicht ändert – warum sollte er nicht erzogen werden wie in einem Orwell-Staat oder wie im Dritten Reich oder wie es sich die aufkommenden Autokraten in diversen Ländern längst erträumen? Ist der nach Annehmlichkeiten strebende Bürger nicht das geborene Herdentier, das durch eine populistisch-nationalistische Ökodiktatur einfach nur dazu gebracht und gezwungen werden muss, nachhaltig zu leben? Haben wir nicht längst historisch und weltweit gesehen, dass Unterdrückung funktioniert, wenn sie nur Brot und Spiele dazuliefert? Der perfekt führbare Bürger, der sich durch vernünftigen Zwang umweltkonform verhält und durch alle möglichen Apps dennoch ,glücklich’ ist?

Oder lieber doch den durchkapitalisierten Hedonisten, der stets nach dem Sonderangebot greift – und, wenn alle Umweltkosten mit eingerechnet sind, also nach dem richtigen Produkt? Erdrettung 2.0 light, indem man auf die ,kapitalistischen Urinstinkte’ setzt und alle sich gut fühlen, weil sie möglichst klimaneutral um die Welt jetten und ,Fun’ haben, ihren Status aufbessern, ihre Selfies machen, ihre Lüste befriedigen und steigern?

Einstein oder Vogel Strauß

Was Sie übersehen, ist, dass man existenzielle Probleme nicht mit demselben Denken lösen kann, das sie verursacht hat. Das hat schon Einstein erkannt – und dennoch spielt jeder das Theater mit, behält die Maske auf und verhält sich so, als ginge es doch anders. Die menschliche Bequemlichkeit und der Hang zum Vogel-Strauß-Verhalten (Kopf in den Sand) sind grenzenlos. Bis zuletzt wird man sich einbilden, dass ,der wahre Kapitalismus’ es doch ,richten’ werde!

Das ist das große Narrativ, dem alle unterliegen: Der Kapitalismus ist DIE Lösung, DAS Heil und das Elysium … wenn die Menschen nur nicht so egoistisch wären. Und niemand hat den Mut, zu erkennen, wie nackt der Kaiser mit seinen ,Kleidern’ ist. Denn wo liegt der blinde Fleck? Darin, dass der Kapitalismus ja gerade auf den Egoismus setzt und ihn befeuert!

Der Mensch oszilliert von Natur aus zwischen mehr an sich selbst denkenden Impulsen und sozialen, fürsorglichen, empathischen Impulsen. Das ist seine wahre Natur! Die ,zwei Seelen in der Brust’, die schon Goethe kannte. Und der Kapitalismus ist die einzige Gesellschaftsform, die brutal die eine Seite … nicht einfach nur ernst nimmt, sondern herauskitzelt und belohnt. So ernst und wirklichkeitsgemäß muss man die Sache doch einmal sehen!

Und was wollen Sie denn anderes erwarten, wenn Generation um Generation so erzogen wird? Was anderes wollen Sie erwarten, als dass man das Konkurrenzverhalten und den Selbstbehauptungswillen schon mit der Muttermilch aufsaugt? Wissend, dass es immer weniger Arbeitsplätze gibt – und wenn nicht immer weniger, dann immer entwertetere, prekärere, immer mehr Lohnsklaven-Arbeitsplätze (der berühmte Job im Callcenter). Zählt man die alle mit, dann haben wir natürlich fast eine sagenhafte Vollbeschäftigung – aber zu welchem Preis! Also – schon jedes Kind weiß, dass es immer weniger gute, echte, wirkliche Arbeit gibt – und dass es sich durchsetzen muss, weil es sonst auf Hartz IV gesetzt wird. Und alle jagen der Mär nach, dass von Hartz IV ja nur die leben müssen, die ,nicht arbeiten wollen’. Also was wird das Kind tun? Fleißig sein, Lernstoff abspeichern, brav sein Abi machen, Exzellenzcluster-Unis besuchen und gehorsam jene ,Humanressource’ werden, als die es hoffen kann, gnädig noch einen der besseren Jobs zu ergattern.

Und dieses Horrorszenario, genannt postmoderner Turbokapitalismus, nennen Sie alternativlos?

Ein trauriges Menschenbild

Aber ich sage Ihnen: Sie haben ein sehr trauriges, verkorkstes Menschenbild. Schauen Sie sich möglichst viele Jugendliche einmal an – und studieren Sie auch die Herzen, die Seelen! Da ist nicht eine Seele, die den Kapitalismus toll findet. Nicht eine, die noch halbwegs denken und fühlen kann. Solange man innerlich noch jung ist, durchschaut man dieses Mega-Narrativ als das, was es ist: die reinste Lüge, ein höllischer Betrug, der die Menschen gegeneinander ausspielt und dadurch erst die Welt schafft, in der wir leben.

Glauben Sie, Greta bewegt die Herzen aus irgendeinem Nichts heraus? Nein, sondern weil so unglaublich viele Menschen noch spüren, dass es um mehr geht als um ein ,Unsere tägliche App gib uns heute’. Sie trauen sich ein nachhaltigeres, selbstloseres Leben nicht mehr zu. Vielleicht, weil Sie schon zu alt sind. Mit dem Alter versteinert das Herz, und man verliert das wirkliche, tiefere Fühlen. Aber nochmals: Schauen Sie einmal in die wirklichen Herzen der jungen Menschen. Und fragen Sie sie einmal, in welcher Welt sie leben wollen würden, was für eine Welt sie jubelnd begrüßen würden. Neben der ,Besser-schneller-geiler’-Fraktion gibt es unendlich viele junge Menschen, die sich eine völlig andere Welt wünschen!

Das ist natürlich auch eine Bewusstseinsfrage. Nur einer von tausend wird nicht völlig in der eigenen Seele korrumpiert, wenn er rund um sich alle anderen den Müll die Abhänge hinunterschütten sieht. Und doch ist inmitten von Vietnamkrieg, drohendem Atomtod und sterbenden Flüssen eine ganze Generation aufgestanden und hat für den umfassenden Frieden demonstriert – Frieden mit allen Menschen weltweit, Frieden mit der Natur. Die Geburt der Umweltbewegung – der Schwester der Friedensbewegung. Wenn Sie nicht glauben, dass das die wahre Natur des Menschen ist – und nicht der degenerierte Schnäppchen- und Genussjäger, den der Kapitalismus aus den Menschen gemacht hat und macht –, dann haben Sie noch nicht tief genug nachgedacht. Und mehr noch: nicht tief genug nachgespürt, innerlich, auch selbst.

Der Kapitalismus, von dem Sie jetzt neue ,Erfolgsgeschichten’ erhoffen, hat den Menschen zu dem seiner selbst entfremdeten Wesen schlechthin gemacht. Dickens’ ,Scrooge’ ist doch nur ein Zerrbild dessen, was der Kapitalismus aus jeder Seele macht. Und es zeugt von der Seelenenge, die er auch jedem Menschen eintrichtert, sich Alternativen gar nicht mehr vorstellen oder an sie glauben zu können (Thatchers berühmtes ,There is no alternative!’). Das Scheitern des real existierenden Sozialismus hat offenbar die halbe westliche Menschheit in eine Art Schockstarre fallen lassen – und die andere Hälfte in ein ewiges hämisches Grinsen erstarren lassen: ,Siehst du? Und so wird es allen Alternativen gehen, denn es gibt keine.’

Die Jugend durchschaut all diese Lügen noch. Und manche haben den Mut und gründen Kommunen, gründen Tauschringe, gemeinnützige Projekte aller Art – und es funktioniert! Und wie sollte es auch nicht, liegt es doch in der Natur des Menschen. Ich frage mich, wie lange man diese Wahrheit noch brutal in den Staub treten will, um den zerstörerischen Weg weiterzufahren, bis an die Wand.

Toleranz und Gerechtigkeit kann man nicht einatmen, sagen Sie. Aber Toleranz und, mehr noch, Empathie sind die Lebensluft der Seele. Wer das nicht mehr hat, ist schon erstickt und ist schon seelisch tot. Es laufen haufenweise toter Kapitalisten und Egoisten auf der Erde herum. Aber Mensch sein kann man nur mit dem seelischen Atem wahrer menschlicher Regungen. Und ohne diese wird die Erde einst nicht mehr bewohnbar sein, weil trotz aller ,grünen Technologie’ der Kollaps kommen wird – wenn nicht in der Luft, dann anders. Der Kapitalismus kann die Erde nicht retten, denn er ruiniert die Seelen.  Und wie soll eine völlig korrumpierte, mitleidlose Seele, die die Abhänge vermüllt, die Flüsse vergiftet und das Klima aufheizt, die Erde retten? Sie ruiniert sie doch gerade. Und wird es auch tun, wenn die eine oder andere ,umweltnähere’ Variante billiger ist. Würden wir die wahren Kosten einpreisen, würde keine Redaktion mehr irgendeinen Flug bezahlen können.

Von den drei Alternativen

Was bedeutet das? Es gibt nur drei Alternativen: Kollaps, Ökodiktatur oder – Einsicht.

Sie behaupten mal eben zwischen zwei Zeilen, der Mensch ändere sich nie. Das ist allein schon eine völlige Geschichtsvergessenheit. Wenn dies so wäre, hätten wir auch heute noch den Kampf der Großreiche – denken Sie, das halbwegs Friedliche der heutigen Welt liegt nur an den Atombomben? Es liegt auch an Vietnam und am Dritten Reich. Nie wieder Krieg – diesen Gedanken gab es früher nicht. Die Antike hat ganze Landschaften entwaldet – aus Unwissen. Heute geschieht dies nur noch aus zwei Gründen: Entweder aus verachtenswertester Profitgier einiger Weniger – oder aus purer Armut. Beides bedingt einander. Schaffen Sie ein anderes Gesellschaftssystem, und Sie drehen der nackten Gier den Hahn ab – und Sie beenden zugleich die Armut.

Dafür fehlt nur zweierlei: Der menschlich-politische Mut und eine neue Erziehung, die nicht Humanressourcen heranzüchten will, sondern wahren Menschen den Weg ebnen. Wer eine Rückkehr zum wahrhaft menschlichen Bildungsideal humanistisch-idealistischer Tradition für unmöglich hält, beweist nur einmal mehr seine innere Verhärtung und  Unbeweglichkeit, seine Hörigkeit gegenüber dem Ist-Zustand und dessen angeblich, ach so unendlich großen ,Sachzwängen’. Als wäre die dem Ende zugehende Erde und die immer mehr sich verweigernde Jugend kein Sachzwang! Mein Gott, wie arrogant und mutlos und reaktionär können Politiker denn sein? Und Journalisten!

Aber da ist nun dieses wahre Erleben von Ihnen, diese Authentizität – da, mitten im verpesteten Delhi:

Es war, als könnte ich zusehen, wie die Menschheit die Natur an all diesen Orten gleichzeitig zerstört. [...] Die Verzweiflung, die diese Vorstellung auslöste, war so intensiv, dass mir fast die Beine wegsackten. […] Ich habe auf einer tiefen, existenziellen Ebene gespürt, wie wir unseren Planeten zugrunde richten […].

Da, in diesen Sekunden echter Erfahrung – haben Sie da noch in Kategorien von ,Kapitalismus’ oder was auch immer gedacht? Nein – sondern Sie haben nur gespürt, was geschieht. Unendlich existenziell gespürt, in einem Moment unendlicher Selbstlosigkeit, die reine Liebe war – reine Liebe zu diesem Planeten.

Und wenn Sie das bezweifeln, kehren Sie noch einmal zurück zu diesem Erleben. Und wenn es nicht tief genug war, dann vertiefen Sie es! Kehren Sie zurück auf die existenzielle Ebene, die nicht ein Erleben eigener Überlebensangst ist, sondern viel, viel tiefer reicht – nämlich eine grenzenlose Verbundenheit mit all dem bedeutet, was wir unter ,Erde’ verstehen: unsere Erde, diese Erde, die einzige, die wir haben.

Und wenn Sie dieses Erleben dann auch nur eine Sekunde ernst nehmen – dann wissen Sie, was Spiritualität ist. Es ist nämlich in seinem tiefsten Kern Selbstlosigkeit, die Essenz realster Liebe. Da muss man sich nicht eine Minute lang auf Diskussionen einlassen, sondern einfach nur den realen inneren Erlebnissen und Tatsachen ins Auge sehen – das reicht völlig. Nehmen Sie das ernst, dass Sie in diesen wenigen Sekunden ein spirituelles Erlebnis hatten. Ein Erlebnis dessen, wie alles in Wirklichkeit ist.

Denn mit eingeschlossen liegt darin ein tiefes Wissen darum, wie es sein könnte. Und alles andere, wirklich alles andere ist dann ganz und gar sekundär, nachträglich aufgelagert, alles wieder zuschüttend – also all dieses: ,Der Mensch ändert sich nie’ und was dergleichen Lügen noch mehr sind. In diesem einen existenziellen Moment wussten Sie sehr wohl, dass es auch völlig anders sein könnte.

Dass Sie nun aber, wieder zurück in Ihrem gewöhnlichen Journalisten-Bewusstsein, stattdessen den Kapitalismus zum Hoffnungsträger machen, schreibe ich weniger der Tatsache zu, dass das ,Projekt Globale Gesellschaft’ ausgerechnet von der Bill Gates Stiftung (!) finanziert wird, sondern einzig und allein Ihrer Unfähigkeit, jene existenziellen Sekunden so ernst zu nehmen, wie sie genommen werden wollen und müssen. Mit anderen Worten: Sie haben trotz allem einen Verrat an diesen vielleicht tiefsten Momenten Ihres bisherigen Lebens begangen.

Was wäre wenn...

Der Kapitalismus wird auch weiter mit aller Macht dafür sorgen, dass solche Momente in den Seelen der Menschen überhaupt nicht auftreten. Man kann sagen, diese Sekunden in Ihrer Seele waren aus Sicht des Kapitalismus ein Betriebsunfall. Er wird schon dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkommt. Und da es leider nun schon mal vorgekommen ist, auch dafür sorgen, dass man sich mit allen möglichen Lügen das Gewissen wieder reinwäscht. Denn was soll man auch mehr tun, als Ökostrom zu beziehen, selbst kein Auto zu haben, in Redaktionssitzungen um etwas Flugaskese zu werben und den ,guten’ Kapitalismus (mit grünen Technologien etc.) voranzupeitschen? Damit ist man doch bereits die weltrettende Avantgarde schlechthin, oder nicht?

Nein – auch hier gibt Ihnen Ihre wahre Seele die wahre Antwort. Denn Sie selbst geben sogar zu, dass das ganze Kapitalismusargument eine halbe Ausrede ist! Auch das ist wieder eine bewundernswert authentische Aussage. Da haben Sie Ihrer wahren Seele einmal halb die Tür offengelassen. Und Sie schreiben weiter: ,Ich habe bislang keinen Weg gefunden, diesen Widerspruch aufzulösen.’ Immerhin bemerken Sie diesen! Die Seele fühlt den Widerspruch, das heißt, ihre Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt ist irgendwo aufrichtig. Vielleicht sogar mehr als nur ,irgendwo’. Aber dann hören Sie Ihrer Sehnsucht doch einmal zu! Anstatt sie sofort mit irgendwelchen ,möglichen Maßnahmen’ zuzudeckeln. Was bleibt Ihrer wahren Seele denn noch übrig, wenn Ihr Kopf und Intellekt sein Heil gleich wieder im ,grünen Kapitalismus’ zu erkennen glaubt? Was wäre, wenn der ,grüne Kapitalismus’ auf immer eine solche Schimäre bleiben wird wie der real existierende Sozialismus? Eine reine Lüge, ein Nichts, ein netter ,Versuch’, der aber grandios scheitern wird, weil er viel zu naiv war?

Was wäre, wenn die Erde überhaupt nur zu retten ist, wenn man mit seiner wahren Seele wirklich ernst macht – statt sich fortwährend neu korrumpieren zu lassen, einspinnen zu lassen in das Netz der Lügen, das der Kapitalismus verbreitet, nicht zuletzt über die Natur des Menschen selbst? Finden Sie es wirklich einfacher, Menschenrechte zu beseitigen als den Kapitalismus? Und was, wenn nur noch letzteres uns das ,Recht’ auf einen überlebenden Planeten bewahren könnte? Wenn alles andere erst recht nicht realistisch ist?

Ist es nicht der Kapitalismus gewesen, der nun schon seit Jahrhunderten das Fühlen der Menschen unterjocht hat? Der einerseits den immer kälteren Intellekt eisern ausgekleidet hat mit dem Dogma: ,Du musst kämpfen; alles, was zählt, ist Konkurrenz; wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Alle anderen wollen dich über den Tisch ziehen, also sei schneller!’ Und der insbesondere im Fühlen nur die niedersten Instinkte angesprochen hat, um alle anderen Empfindungen auszulöschen? So dass sie wirklich nur in existenziellen Sekunden einmal zur Erscheinung kommen? Wissen Sie, wie sehr man in früheren Jahrhunderten auch zusammengearbeitet hat? Vielleicht auch, weil man es musste. Weil es gar keinen Sinn hatte, gegen die Natur und gegen die Witterung als Einzelner sein Glück zu versuchen. Gleichwohl – die Menschen erlebten sich noch als unter ein Schicksal gestellt. Was wäre, wenn man statt des Egoismus in den folgenden Jahrhunderten die Zusammenarbeit gefördert hätte?

Was wäre, wenn man es jetzt tun würde? Und nochmals: Zahllose Jugendliche möchten gar nichts anderes – sie wollen in einer solchen Welt leben und nicht in der real existierenden, von zwei und mehr Jahrhunderten Kapitalismus verseuchten Welt. Für die Jugend ist unsere Welt ungefähr das, was für Sie Delhi war: Ihnen brannten nur die Augen – den heutigen Jugendlichen brennen und tränen die Herzen vor seelischer Luftnot! Bedenken Sie das einmal. Und wenn Sie keine Kinder haben, stellen Sie sich vor, Sie hätten welche! Und dann vereinbaren Sie es noch einmal mit Ihrem Gewissen, dem Kapitalismus journalistisch die Heldenrolle für die Rettung der Erde zu-zuschreiben.

Was wäre, wenn Greta schon morgen sagen würde: Mit dem Kapitalismus werden wir die Erde nicht retten können. Und Ihr alle wisst es. Ihr lauft nur vor Euren eigenen Antworten weg. Hört mal auf Eure Seelen! Und sei es, in jenen Sekunden, wo Ihr auf Eure Frau wartet…