2020
Das Mädchen als Zukunft
Warum wir ohne eine grundlegende Erkenntnis das Menschliche nicht finden werden.
Inhalt
Vom Blühen und seiner Vernichtung
Toxische Maskulinität – und ätherische Wahrhaftigkeit
Vom Blühen und seiner Vernichtung
Ich würde einen solchen Film wie ,Jojo Rabbit’ nicht besprechen, wenn sich daran nicht immer wieder etwas zeigen würde – etwas, was bis heute nicht wahrhaft erkannt wird.
Wir leben als Menschheit in einem Graubereich, der zugleich ein Abgrund ist. Wir versäumen unsere Menschheit – wir verraten sie. Das wirkliche Menschsein ist noch etwas ganz anderes. Wir sind gerade seine Mörder. Diese Art von Holocaust ereignet sich fortwährend. Das Versagen, das wirkliche Menschentum auf die Erde zu bringen. Wahrzumachen, was wir wirklich sind.
Was fast jenseits des Vorstellbaren liegt, kann man auch fast nicht in Worte fassen. Und doch ist es ganz nahe – in jedem von uns. Denn das gewöhnliche Menschsein ist nur das Dissoziations-, das Entfremdungsprodukt dessen, was wirk-lich werden möchte – oder einmal wollte. Die Rede vom ,inneren Kind’ ist nicht falsch, aber sie muss tief genug verstanden werden. Jedes Kind ist ein werdender Mensch. In jedem Menschen, der sich auf Erden inkarniert, will etwas absolut Einzigartiges ans Licht treten und sich offenbaren. Und doch wird dieses wahrhaft Menschliche durch das, was wir ,Kultur’ nennen, gerade erstickt. Daher muss man sagen: Ein Kind ist mehr Mensch als der Erwachsene.
Hätten wir eine wahrhaft menschliche Kultur, würde der Erwachsene das Menschentum mehr offenbaren als ein Kind – weil auch ein Erwachsener nie ,er-wachsen’ wäre, weil eine Art heiliger Entwicklungsprozess die Essenz des menschlichen Lebens wäre: Das Leben als nie endender Inkarnationsvorgang, der erst im Moment des Todes seine höchste Vollkommenheit erreicht hat. Wie eine Blüte, die immer schöner wird...
Die Blüte des Menschen aber blüht heute nur in der Jugend auf – und schon der junge Erwachsene erstarrt innerlich bereits wieder, verliert seine innere Beweglichkeit, Wandlungsfähigkeit, sein wahres Heiliges... Und oft verblüht schon die Jugend innerlich wieder, hat vor dem Kind nicht das Geringste voraus, im Gegenteil...
Bei manchen Mädchen ist dies anders. Bei ihnen entfaltet sich eine innere Aufrichtigkeit, die sich nicht sofort an die äußere Welt anpasst – etwa an das Diktat der Coolheit und der Oberflächlichkeit, die heute so stark wirken wie weltbeherrschende Dämonen. What they are. Das sind sie wirklich – und nur wir erkennen es nicht.
Unsere Kultur bestraft Aufrichtigkeit, Empfindsamkeit, Verletzlichkeit. Unser Kultur bestraft jede innere Nähe zu unserem inneren Kind und unserem inneren wahren Wesen. Das bedeutet, es wirken stärkste Kräfte, die dieses wahre Wesen des Menschen bekämpfen, damit es sich niemals offenbart. Damit es schon dem kleinen Jungen ausgetrieben wird – als ,mädchenhaft’ – und den Mädchen etwas später. Jemand wie Carol Gilligan hat dies eindrücklich beschrieben, in ihren Büchern ,In a Different Voice’ (1982) und ,Joining the Resistance’ (2011). Doch weil das ,Normale’ als ,normal’ gilt, fällt die zugrundeliegende Tragik niemandem auf. Nach und nach akzeptiert jede Seele, sogar die des Mädchens, dass man Gedanken und Gefühle voneinander trennen muss, dass man nicht völlig aufrichtig sein darf, wenn man ,Beziehungen’ behalten will, dass jeder irgendwo nur mit einer Maske agiert, die ihn letztlich sowohl von sich selbst als auch von der Welt entfremdet. Und dennoch geschieht dies alles, unwandelbar.
Und doch gibt es manche Mädchen, die sich noch nicht völlig unterworfen haben – die noch in Verbindung mit sich selbst und ihrem eigenen Herzen und damit auch noch in wirklicher Verbindung mit ihrer Umwelt sind. Nicht ,cool-interessiert’ wie ein Junge, sondern mit ihrer ganzen Seele.
Man kann sich einmal fragen, ob der Film ,Jojo Rabbit’ auch nur denkbar gewesen wäre mit vertauschten Rollen: Ein Junge als sich versteckendes Opfer, Jude, und ein Mädchen als ... überzeugte Hitleranhängerin? Niemals. Allein daran kann man schon unendlich viel begreifen – wenn man es einmal wirklich nachempfindet. Denn es bedeutet nichts anderes, als dass die Seele eines Mädchens den das Menschliche korrumpierenden Gegenmächten mehr Widerstand entgegensetzt, für diese Mächte weniger einnehmbar ist, durch sein so anderes Wesen viel geschützter ist.
Toxische Maskulinität – und ätherische Wahrhaftigkeit
Was für ein Wesen hat die Seele eines Mädchens? Jeder Mensch, der wirklich mit dem Empfinden in diese Frage eintaucht, kann die Antworten selbst erlebend finden. Man muss nur einmal die heiligen Qualitäten spüren, um die es geht. Den Mut haben, dies innerlich zuzulassen. So sagt Thomasin McKenzie über ihren Besuch im Konzentrationslager Theresienstadt:[1]
It doesn’t feel like it should be a place where people are allowed to walk around and take pictures and tour, or even talk amongst themselves. [...] Walking around it, it just felt wrong. You could really feel the fear and the devastation that had been soaked into the walls.
Würden solche Worte, die ganze Art und Qualität dieser Worte, wohl jemals von einem Jungen – oder gar einem Erwachsenen – gesprochen werden? Und falls ja – um wieviel seltener? Aber was zeigen diese Worte: Sie zeigen die ganze, noch zutiefst lebendige Empfindung der Ehrfurcht eines Mädchens – das lebendige, aufrichtige Verbundensein ihrer Seele mit einer Realität. Und das ist es, was die Seele eines Mädchens so besonders macht. Sie ist mit der Realität noch verbunden – und die Seele eines Jungen schon nicht mehr. Schon viel weniger. Schwindend. Der Erwachsene mag noch einiges spüren, aber bei ihm geht es dann mehr über den Kopf, das Wissen.
Das Mädchen weiß auch, was in Theresienstadt passiert ist. Aber sie fühlt noch unmittelbar – und ist dadurch wirklich noch damit verbunden. Der Erwachsene ist immer schon distanziert. Bis dahin, dass man wie ein Tourist an solchen Orten herumgehen und sie ,besichtigen’ kann, Fotos machen und miteinander sprechen. Während Thomasin McKenzie so tief spürt, dass man dort eigentlich nicht einmal herumgehen dürfte, oder eben nur mit größer Scheu und Ehrfurcht – gegenüber den Menschen, mit denen sie sich durch ihre große Empfindsamkeit verbunden fühlt, obwohl sie sie nie kennengelernt hat.
Für sie ist das kein rationaler Prozess – es ist eine unmittelbare Empfindung. In ihrer Seele spricht noch das Innerste. Und in den meisten anderen spricht es nicht mehr. Nicht so deutlich. Nicht so unmittelbar. Nicht so wirklich und real.
Einem Interviewer fiel das besondere Wesen dieses Mädchens, dieser inzwischen schon jungen Frau, so sehr auf, dass er (oder sie?) es in folgende Worte fasste:[2]
What struck me as I spoke with Thomasin [...] is her imagination, her quiet thoughtfulness; she takes her time, offers long, contemplative pauses as she gathers her thoughts. There’s something ethereal about her sense of wonder and imagination, someone with consideration beyond her years but who maintains the curiosity of childhood.
Und dieses – dieses Ruhig-Gedankliche, geradezu Ätherische, Zuversichtliche, Imaginative, was einen so reif und so kindlich zugleich erscheinen lässt –, das gerade ist dieses Wesen eines Mädchens.
Der volle Gegensatz dazu war die Härte der Nazi-Zeit – aber man kann genauso gut sagen: Die Härte unserer heutigen Zeit, des Kapitalismus, der Geopolitik, des Hate-Speech. Thomasin McKenzie selbst sagt über die Bezüge von ,Jojo Rabbit’ zur Gegenwart:[2]
[...] it was definitely something that was on everybody’s minds – the current political climate and this toxic…. I don’t know if it was masculinity, but certainly toxic hatred, and thinking about how that was reflected in the world today.
Sie spürt also sehr genau, dass der Wahnsinn des Faschismus nicht einfach abstrakt toxischer Hass, sondern spezifisch eine toxische Maskulinität war, ein spezifisch männlicher Wahnsinn. Und dieses wahnsinnig gewordene Männliche wirkt weiter – bis heute. Und zwar warum? Weil das Toxische darin besteht, die Seele zuerst zu verleugnen und dann zu vernichten. Dies geschieht tagtäglich. Dies ist die Gegenwart. Wir leben in einer Gegenwart, in der die Seele – erst recht die Seele eines Mädchens – überhaupt nicht vorgesehen ist.
Heute ist die Seele eines Mädchens der ,Störfall’ schlechthin, der ,Größte Anzunehmende Unfall’ (GAU). Würde man die Seele eines Mädchens heute ernst nehmen, so würde sie zu einer Kernschmelze des ganzen bisherigen Systems führen – und das Menschliche würde aufblühen wie eine Blume aus dem Asphalt...
,You could really feel the fear and the devastation that had been soaked into the walls.’ Verzweiflung und Verleugnung, Entfremdung und Verhärtung haben sich aber in den Wänden unser aller Seelen eingesaugt. Die ganze Menschheit ist ein Ghetto, in dem das wahrhaft Menschliche nicht zur Offenbarung kommen darf, sondern gerade vernichtet werden soll. Wenn wir das einmal in seiner ganzen Tiefe empfinden werden, wird eine neue Zukunft anbrechen. Die Zukunft der Mädchen – die gerade die wahrhaft menschliche Zukunft sein wird.
Quellen
[1] Matt Grobar: What ‘Jojo Rabbit’ Star Thomasin McKenzie Learned From Working With Unconventional Auteur Taika Waititi. Deadline.com, 6.12.2019.
[2] The Jojo Rabbit and Leave No Trace star talks about “toxic hatred”, finding her character’s history, and how she’d like to play an alien one day. thespool.net, November 2019.