07.03.2020

Tragik und Zukunft der linken Bewegung

Gedanken nach dem Freitod der österreichischen Attac-Aktivistin Carla Weinzierl.


Inhalt
Hintergrund
Was offenbart Carlas Tod für das Ganze?
Von der falschen Dominanz des Denkens
Die große Aufgabe

Hintergrund

Vor wenigen Tagen traf Carla Weinzierl, ehemals Obfrau von Attac Österreich, für sich die Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden. Ihr eigenes „Testament“ zeigt, dass sie ein brennendes Herz hatte. Ein offizieller Nachruf des Vorstandes von Attac Österreich suggeriert eine psychotherapeutische Tragik. Die tieferen Hintergründe des internen Konflikts offenbart jedoch Carla selbst in einer Zusammenfassung und auch in der allerletzten Korrespondenz.

Was offenbart Carlas Tod für das Ganze?

Wer den Mut zu einem großen Wurf und notwendig etwas längeren Gedanken-, Gefühls- und Willensgang hat, möge mit neugieriger Geduld das Folgende lesen...

Der Freitod einer Aktivistin offenbart die tiefe Notwendigkeit, Entfremdungsprozesse schon im Beginn ihres Auftretens aufrichtig und vollkommen ehrlich anzusprechen. Die Frage ist, ob diese Notwendigkeit und die ganze Frage des Umganges damit überall ernst genommen wird. Oder ob man doch klammheimlich zur Tagesordnung übergeht. Denn diese Prozesse werden zunehmen. Und die Frage ist, ob man – wenn überhaupt – nur darüber spricht, wie „damit umzugehen“ ist, oder ob man sich einmal, viel grundlegender, in ganzem Ausmaß fragt, wie solche Prozesse möglich sind.

Und wie man in einer Bewegung, die links und tief human und pluralistisch sein will, solche Prozesse überhaupt zulassen kann. Denn eigentlich kann man das nicht. Eigentlich ist das Ideal einer links-ökologisch-sozial-lebensbejahenden Bewegung, dass solche Entfremdungsprozesse gar nicht stattfinden dürften – und dass IMMER etwas schiefgelaufen ist, wenn Einzelne die Empfindung haben, gehen zu müssen oder auch nur nicht mehr wertgeschätzt zu werden. DAS sind doch die Punkte, die ins Zentrum des Problems oder der Frage führen, das ist die Wunde, um die es geht und in die, wenn auch nur Einer geht, immer schon der Finger hineingelegt ist.

Eine Quintessenz ist, Differenzen in der Sichtweise und persönliche Hintergründe, Interessen etc. so früh wie möglich radikal ehrlich zu offenbaren. Das ist eine wesentliche Bedingung und Notwendigkeit, bei deren Verwirklichung viel erreicht wäre. Wer schafft das schon? Wenn es gelänge, wäre zunächst für Sekundenbruchteile ein „machtfreier Raum“ erreicht – und wenn man einander aufrichtig zuhören würde, würde dieser Sekundenbruchteil Dauer gewinnen, länger andauern können.

Aber die große Frage ist dann doch: Und dann? Was jetzt? Wie nun weiter? Werden sich nicht doch bald wieder die Differenzen GELTEND machen und wird nicht doch irgendwann eine sich halbwegs einige Mehrheit versuchen, eine Minderheit auszugrenzen, kaltzustellen, Containment betreiben oder was auch immer, wie subtil auch immer? Wie sehr schaffen wir es, alle Sichtweisen zuzulassen? Zu bejahen? Wertzuschätzen? Sie zusammenwirken zu lassen? Das Berechtigte zu erkennen und sich selbst zu hinterfragen?

Und noch weiter: Ich glaube, es geht nicht nur um Sichtweisen auf Inhalte, Strategien, Prioritäten etc. und dazugehörige Differenzen. Ich glaube, die Beschränkung auf DIESE Frage wäre bereits ein Teil des PROBLEMS. Denn diese Frage, so wesentlich sie ist, betrifft nur ein Drittel der Seele, nämlich das Denken, die Rationalität. Und wie wir immer wieder erleben, ist diese Ebene, in der es um „Inhalte, Strategien, Prioritäten“ geht und man darüber diskutieren kann, tagelang, nächtelang, eine Ewigkeit, der Punkt, wo Differenzen aufbrechen, weil jeder unglaublich leicht eine „andere Sichtweise“ hat, wie geringfügig auch immer, und wir wissen sehr genau, wie leicht es ist, hier auseinanderzubrechen und Ausgrenzungen beginnen zu lassen, ja wie einen Flächenbrand noch zu befeuern.

Von der falschen Dominanz des Denkens

Die immer wieder ungeheure Beschränkung auch linker Bewegungen auf die Ebene der Ratio und Diskussionen ist ein Teil des Problems, denn es ist ein Grund ihrer Zersplitterung. So wichtig „Analyse, Taktik etc.“ auch ist, so sehr sie auch den Sturz des Zarenreiches etc. ermöglicht hat, so sehr hat sie kurz darauf auch die Selbstzerfleischung ehemaliger Genossen ermöglicht – und die Schrecken der Stalinzeit. Das Denken und die Ratio hat also zwei Seiten: Klarheit – und Zersplitterung.

Was überhaupt fast nie zur Sprache kommt, gerade in einer so „aktionsbetonten“ Bewegung, ist das Fühlen, sind die Gefühle. Wir haben da eine lange Tradition – sowohl im Abendland überhaupt („Ich denke, also bin ich“), als auch gerade in der Linken („das ist was für Frauen, ein guter Mann, äh, Linker, lässt sich von Gefühlen nicht von der notwendigen Analyse, Taktikfestlegung etc. etc. abbringen“). Diese Tradition ist zutiefst unheilvoll – und sie wirkt bis heute weiter. Und sobald Entfremdungsprozesse einsetzen, beginnt um so mehr die Totalkonzentration auf bloße Argumente, während die wachsenden Antipathien total ausgeblendet werden. Beginnende Feindschaft wird buchstäblich … rationalisiert. „Begründungen“ müssen dann dafür herhalten, warum eine bestimmte Anschauungen richtiger, besser und „zielführender“ sei und daher Superiorität beanspruchen darf. Das Patriarchat lässt grüßen!

Grundlegend hat die Linke die Frage der Wertschätzung und des emotional schützenden und nährenden Umganges noch nicht einmal ansatzweise aufgegriffen oder ihre Bedeutung be-griffen. In meinen Augen liegt hier der ganz große Weg in die Zukunft.

Wir wissen nicht RATIONAL, dass eine andere, bessere Welt möglich ist, sondern wir FÜHLEN es. Das Denken und Erkennen ist nur der zweite Schritt, das klare Verstehen, das sich ereignet. Bleiben wir dann aber auf der mehr rationalen Ebene, kann es ganz schnell sein, dass wir die eigentliche Wurzel abschneiden. Und das hat auch ungeheure Bedeutung im Umgang miteinander. Denn was uns vereint, ist eben NICHT die Anschauung über die richtige Position, Taktik, Analyse etc., sondern das GRUNDGEFÜHL. Sobald der Schwerpunkt sich aber woandershin verlagert, haben wir bereits etwas falsch gemacht. Dann braucht niemand die linke Bewegung mit einem „Teile und herrsche“ zu zerstören, dann machen wir es günstigerweise sogar selbst.

Mit dem Fühlen hängt das Wollen zusammen. Wir alle WOLLEN die Welt zum Besseren verändern. So haben wir zwei Drittel der Seele, die uns einen würden. Zwei regelrechte Welten, die man aber erst einmal lernen müsste, zuzulassen und mit ihnen zu wirken – das ist wesentlich schwieriger als beim Denken, das ja so klar ist und mit dem eine jahrhundertelange abendländische Tradition gelernt hat, umzugehen und es zum Alleinherrscher zu machen. Und wir machen es nun genauso! Ständig geht es um Gedanken, noch die feinsten Differenzen in der Sichtweise werden ausziseliert und festgehalten. So lange, bis klar ist, wer gehen muss, weil Mehrheiten geschaffen und in Stein gemeißelt wurden.

Da werden dann auch Gefühl und Wille in den (falschen) Dienst genommen, nämlich nicht mehr auf das Eigentliche gerichtet, sondern auf Antipathie (gegen die andere Anschauung und die andere Person) und Bekämpfung (dieser Anschauung bzw. Person) und Ausgrenzung (dito). So funktioniert Zersplitterung – indem das eigentlich Einende, nämlich Fühlen und Wollen, korrumpiert und missbraucht werden, um sich gegeneinander zu richten. Weil man den anderen und seinen Standpunkt nicht als Bereicherung erfährt, als Stärkung des Ganzen, sondern als Gefährdung der Durchschlagskraft des eigenen Standpunktes (der ja immer richtiger ist).

Die große Aufgabe

Die Linke hat also eine einzige große Schwäche: Sie missbraucht fortwährend ihr Fühlen und ihr Wollen. DAS ist (für die Linke) gemeint, wenn es heißt: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Entweder die linke Bewegung blüht, weil jeder den Anderen schätzt, weil er ihn als Mit-Bruder und -Schwester mit einem tief verwandten Fühlen und Wollen ERKENNT, während die Unterschiede der Ansichten sehr, sehr unwesentlich werden – oder sie verwelkt und stirbt ab, weil fortwährend das Andere, Unwesentliche, aber in unserer Kultur ach so Bedeutsame die Hauptsache wird, ja sogar noch wie unter ein Riesenbrennglas (Lupe) gelegt wird: die Ansichten und hier ganz besonders die Differenzen!

Eine andere Welt ist möglich! Pluralismus könnte den Widerstand, den Aufbruch, die Aktion und sogar die Analyse, die Taktik, die Strategie zum BLÜHEN bringen. Wir müssten nur aufhören, den Schwerpunkt auf die eigene Anschauung zu legen und hier Selbstverwirklichungs- und Mehrheitsbeschaffungs-Trips zu fahren.

Einen großen Graben gibt es jedoch, und die vielleicht letzte Frage ist, wie dieser zu überbrücken ist. Ich meine jene Polarität – die sich ja EBENSO ergänzen könnte – von „Realos“ und „Fundis“. Wer sich in der politischen Landschaft umschaut, weiß, was für ein Problem damit aufgeworfen ist. Was ist Weltfremdheit? Wann verrate ich meine Überzeugungen? Wann schließe ich im Dienste der Sache Kompromisse? Geht das überhaupt? Oder kompromittiere ich mich damit nur selbst? Wann bin ich ins System integriert und keine Gefahr mehr für dieses? Wann habe ich meine eigenen tiefsten Gefühle und meinen wahren Willen … verraten? Wann brenne ich nicht mehr, sondern glaube dies nur noch? Wann entflamme ich nicht mehr die Herzen – sondern verwalte nur noch Schein-Entflammtheiten, in mir selbst und in anderen? Und man kann sogar ein flammender Realo und ein erloschener Fundi sein. Es ist eine Frage der inneren Aufrichtigkeit und der Lebendigkeit im Allerinnersten. Hier beginnt die wirkliche Gewissensforschung – die jeder für sich selbst leisten muss.

Da, wo in einer linken Bewegung Macht ins Spiel kommt – Macht nach innen, Macht gegen andere, Gleichgesinnte, da hat diese linke Bewegung immer schon verloren. Es gibt also sehr zentrale Fragen:

1. Wie erziehen wir uns selbst (jeder Einzelne sich) dazu, Pluralismus nicht nur auszuhalten, sondern zu LIEBEN?
2. Wie lernen wir, unser Fühlen und Wollen nicht nur als Nebensache zu betrachten, sondern als Hauptsache – und diese zwei Bereiche der Seele als eine ganze Welt zu erleben, die der EIGENTLICHE Kraftquell jeder linken Bewegung ist?
3. Wie lernen wir, jeden (JEDEN!) Menschen in dieser Bewegung als BEREICHERUNG zu erleben und uns darüber zu freuen, dass er da ist?
4. Wie lernen wir, jene Punkte zu erkennen, wo dieses Vorherige nicht gegeben ist, sondern sich Differenzen, Machtstrukturen etc. einschleichen – und wie lernen wir, diesen erkaltenden, tötenden Egoismus, der sich wie ein Krebs auch in unseren Zusammenhängen immer wieder ausbreiten will, mit Feuer, Wärme, mit LEBEN und LIEBE zu heilen?
5. Wie geben wir also Raum für das Tiefste und Ehrlichste in jedem Einzelnen – wie entwickeln wir INTERESSE dafür, weil wir die Verschiedenheit gerade LIEBEN, und wir bringen wir dieses ganze Positive miteinander in Einklang?

Das sind die großen Fragen – die wir nicht zerreden dürfen, sondern die wir FÜHLEN müssten – und WOLLEN müssten...