2021
Sieben Leben als Einsatz für die Zukunft
Eine Offenbarung, wo wir stehen.
Inhalt
Hungerstreik junger Menschen
Die Dekadenz der Zyniker
Abgehoben und abgeschnitten
Radikaler Gleichheitsimpuls
Bedingungslosigkeit
Der einzige Reichtum
Hungerstreik junger Menschen
Weil ich meine Seele nicht ständig von den Schlagzeilen der großen Medien bombardieren lasse, erfuhr ich erst heute von dem unbefristeten Hungerstreik sieben junger Menschen vor dem Reichstag (ein Mitglied der Gruppe brach die Aktion ab, ich bleibe trotzdem bei der ursprünglichen Zahl sieben).
Diese fordern ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidat*innen über den ,Mord an der jungen Generation’ und das Versprechen, einen Bürger*innenrat einzuberufen, in dem Sofortmaßnahmen gegen die Klimakrise, unter anderem eine 100% regenerative Landwirtschaft, besprochen werden.
Sieben junge Menschen. Warum zieht dies Aufmerksamkeit an? Weil sie jung sind. Weil man sagt, ,Jugend ist Zukunft’. Weil wir die Jugend idealisiert haben, als das Schützenswerte von allem – Kinder und junge Menschen –, bis hin zur Heuchelei. Denn was kümmert uns das Schicksal der jungen Generation wirklich?
Diese jungen Menschen konfrontieren die übrige Welt mit ihrer Überzeugung, dass das Wohl der jungen Generation und aller, die nach ihr kommen, den ,Erwachsenen’ in Wirklichkeit viel zu egal ist. Wenn junge Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, sind wir betroffen und entsetzt – aber wenn ihr ganzes Leben und ihre Zukunft und die Zukunft künftig junger Menschen auf dem Spiel steht ... betrifft es uns nicht. Viel zu wenig. Viel, viel zu wenig. Noch immer. Wir selbst verspielen die Zukunft der jungen Menschen.
Diese sieben setzen ihr Leben aufs Spiel, um das Leben zu retten. Weit mehr als ihr eigenes.
Die Dekadenz der Zyniker
Wie erfuhr ich von diesem Hungerstreik? Ich entdeckte auf Facebook durch Zufall einen Post von Christian Grauer, einem Zyniker, dem ich seit Jahren nicht mehr begegnet war, und der zu dem von ihm verlinkten ,Spiegel’-Bericht schrieb:
Endlich mal was neues: Suizidaldemokratie! Gegen diese Form der Erpressung sind die professionellen Lobbyisten der Industrie ja wahre Waisenkinder. Liegt das am Fernunterricht, oder woher kommt diese völlige Entfremdung von der Wirklichkeit?
PS: ich habe übrigens auch Wünsche! Ich hungerstreike jetzt solange, bis Steuern abgeschafft werden, Andreas Scheuer entlassen wird und Annalena Baerbock von der Kandidatur zurücktritt. Wer macht mit? Suizidaldemokratie ist Teamwork!
Dieser Sarkasmus zeigt die ganze Dekadenz der heutigen Seele – und sie merkt es nicht einmal mehr. In absoluter Selbstherrlichkeit bespiegelt sie sich in ihrer eigenen vermeintlichen Großartigkeit. Hier ist der Narzissmus gleichsam eimerweise zu schöpfen.
Was Grauer nicht einmal begreift, ist, dass ein öffentliches Gespräch etwas anderes ist als eine politische Maßnahme. Die Konfrontation mit diesen jungen Menschen und ihren Botschaften würde es jedem Einzelnen ermöglichen, sich ein eigenes Urteil zu bilden – aber die Kandidaten scheuen davor zurück. Sie haben Angst, sich zu blamieren. Sie haben Angst, sich in der Konfrontation zu blamieren. Sie haben Angst vor dem Urteil vieler, wenn sie sich überhaupt darauf einließen. Sie haben Angst – in jeder Hinsicht.
Ein Kanzlerkandidat redet doch nicht mit jedem – und schon gar nicht öffentlich. Er/sie bestimmt selbst die Rahmenbedingungen. Kanzlerkandidaten sind mächtig und brauchen eine Aura. Mit Demokratie hat das nichts zu tun, es ist schlicht ein Machtspiel.
Die zweite Forderung der jungen Menschen ist die nach einem Bürger*innenrat – und etwas Demokratischeres gibt es eigentlich gar nicht. Ein solcher Rat käme direkt aus dem Volk und wäre weitgehend frei von dem Lobbyismus der milliardenschweren Meinungsmanipulatoren. Was er fordern oder beschließen würde, wäre noch immer sehr offen – aber die Kräfteverhältnisse lägen wieder näher bei den Menschen selbst.
Abgehoben und abgeschnitten
Kanzlerkandidaten sind nicht die neuen Kaiser. Sie haben sich nicht nur als ,Auserwählte’ vor dem Volk zu zeigen, sie haben sich auch den Fragen des Volkes zu stellen, der Kritik, den Hoffnungen, den Forderungen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sahra Wagenknecht zu so einem Schritt bereit wäre. Laschet, Scholz und Baerbock besitzen diese Größe nicht.
Man mag die jungen Menschen mit ihrer ,Ein-Punkt’-Forderung für naiv halten – aber aus ihrer Sicht ist die übrige Menschheit naiv, die noch immer nicht begriffen hat, wie ernst es ist. Die diese junge und alle künftigen Generationen einem Schicksal überlässt, das schlimm wird – und den ganzen Planeten.
,Die letzte Generation’ nennen sie sich – die letzte Generation, die die Klimakatastrophe noch aufhalten, noch wirklich begrenzen kann. Aber Laschet hat im Ahrtal sogar noch gelacht. Der Ernst ist noch nicht angekommen. Sind viele Seelen zu Ernst überhaupt noch wirklich fähig?
Die meisten Menschen haben die Verbindung zum Leben, zur Natur, zur Mitwelt, zur Schöpfung, zum Wunder radikal verloren – oder hatten sie nie. Ein Kind hat sie noch. Viele Menschen der jungen Generation haben sie. In den jungen Seelen gibt es viel Wahrhaftigkeit und einen großen sozialen, einen echten Liebes-Impuls. Von einem Christian Grauer sind sie geradezu diametral entfernt. Die jungen Menschen konfrontieren die Älteren mit ihrem Unernst, ihrem Bewusstseinsschlaf, ihrem Sich-Eingerichtet-Haben in einer Un-Welt, die so keine Zukunft mehr hat.
Radikaler Gleichheitsimpuls
Der Mut und die Entschlossenheit dieser jungen Menschen ist ebenso zu bewundern wie ihre Authentizität. Sie nennen die Kanzlerkandidaten ,Du’ – Armin, Olaf, Annalena – und machen auch damit radikal Ernst mit Augenhöhe. Keine Diskriminierung mehr nach Alter. Kein falscher Schein. Kein Nimbus. Ihr wollt die Menschen in die Zukunft führen? Dann bekennt, was Ihr vorhabt! Seid Ihr Euch bewusst, dass die Menschheit vielleicht bald gar keine Zukunft mehr hat? Ist Euch klar, was von Euch jetzt gefordert ist?
Die jungen Menschen spüren den radikalen Gleichheitsimpuls – der Grundlage für jedes künftige Zeitalter der Brüderlichkeit ist. Und der heute so radikal bekämpft wird durch immer neue Ungleichheit, durch Geld, durch Macht, durch immer neu und immer stärker sich entwickelnde klaffende Unterschiede. Künstliche Unterschiede, durch die manche sich ,gleicher als gleich’ machen. Aber auch ein Kanzlerkandidat ist nur ein ,Du’ – nichts weiter. Alles andere ist Fake.
Diese jungen Menschen sind für ihre Forderungen und ihren Einsatz – den Einsatz ihres Lebens – vorbehaltlos zu bewundern. Sie fordern fast etwas Selbstverständliches. Öffentliches Gespräch – und einen Bürger*innenrat. Politiker dürfen sich nicht erpressen lassen. Aber das ist keine Erpressung. Erpressung ist das Andere – das, was täglich stattfindet. Die angeblichen Sachzwänge. Die Macht des großen Geldes und der reaktionär beharrenden Kräfte, die das Weiter-So predigen und inszenieren. Das – das ist die alltägliche Erpressung unserer Politiker. Und ihre Gefangenschaft steht auch den drei Kanzlerkandidat*innen ins Gesicht geschrieben.
Die hungernden Aktivist*innen könnten ihre Befreiung sein. Aber die drei haben Angst. Auch sie wollen lieber ein Weiter-So, wie es eben gespielt wird: Mit Macht. Mit Nimbus. Mit verdeckten Karten und viel Ungesagtem. Bloß keine Blöße. Das Beste für diese Art Politiker ist der Nimbus, sie täten ganz viel zum Wohl aller. Wann wird es Politiker geben, die so ehrlich sind, dass sie sagen: Ich tue mein Bestes. Ich stelle mich all euren Fragen. Ich arbeite zwölf Stunden am Tag. Aber ich bin auch nur ein Mensch. Wenn ihr mich wollt, mache ich weiter...
Bedingungslosigkeit
Junge Seelen sind bedingungslos. Sie haben Ideale, sie stehen ein für Wahrheiten – und daneben haben Halbheiten oder sogenannte ,Realpolitik’ keinen Platz. Realpolitik ist ein bloßes Ausweichen vor der Wahrheit. Ein Sich-zufrieden-Geben mit der Tatsache, dass auch die anderen fortwährend nur ausweichen. Junge Seelen können das nicht akzeptieren. Mit Recht. Denn der Mensch ist dazu bestimmt, ein Bedingungsloser zu sein, ein Unbedingter. Diese jungen Menschen spiegeln einem, dass man sich nicht fesseln lassen darf. Weder von Geld, noch von Macht, noch von angeblichen Sachzwängen, noch von dem Dogma, man dürfe sein Leben nicht riskieren, um wahrhaftig zu bleiben.
Wenn Baerbock sagt: ,Aber es darf nicht sein, dass sich Menschen durch einen Hungerstreik in solche Gefahr bringen und ihr eigenes Leben riskieren.’, dann richtet sie ein reines Dogma auf – oder reiht sich ein in die toten Rufer, die ein solches Dogma nachbeten, ohne es begründen zu können. Das Leben ist heilig? Aber warum wird es dann im real existierenden Turbokapitalismus derart mit Füßen getreten, wie jeder weiß? Das Leben ist heilig? Aber warum rasen wir dann mit großer Geschwindigkeit auf Abgründe zu? Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, lautete ein weises Wort der Achtundsechziger-Generation. Diese junge Generation tritt mit völlig verwandelten Impulsen, aber ähnlichen Erkenntnissen hervor.
Was manch einer hochmütig als mangelnden Realismus verurteilt, entlarvt nur den mangelnden Idealismus alt gewordener Seelen. Eine Menschheit, die sich von den Verhältnissen bestimmen lässt, anstatt diese selbst zu gestalten – und zwar wahrhaft menschlich –, hat aufgehört, ihr eigenes Wesen wahrzumachen. Oder noch überhaupt nicht angefangen. Die jungen Menschen spüren zutiefst, worum es geht. Und wer sie lächerlich macht, hat innerlich eigentlich schon lange abgedankt, ist eine Art seelische Schlacke am Baum des Lebens.
Vor fünf Jahren schrieb ich meinen Roman ,Sonnenmädchen’. Dort trat auch ein junges Mädchen in einen Hungerstreik, um die Welt zu verändern. Eine Seele, die mit voller Kraft die Welt der Ideale in sich leben lässt, kann nicht anders, als alles, was sie hat und ist, in die Wagschale zu werfen. Wie eine lebendige Fackel. Denn wie sonst kann man andere Seelen entzünden? Es geht nur mit voller Bedingungslosigkeit. Mit einer Begeisterung, die vor Liebe wirklich brennt, geradezu verbrennt. Wie eine Sonne...
Was wir begreifen müssen, ist, dass die Zeit der Unwahrhaftigkeit und des mangelnden Ernstes wirklich zu Ende geht.
Vor uns tun sich Abgründe aller Art auf – wenn wir nicht lernen, das Menschliche zutiefst zu erkennen und wahrzumachen. Bis in alles hinein. Das war auch die Botschaft von Beuys, der in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag hat.
Der einzige Reichtum
Die Welt ist bedroht, weil die menschliche Seele bedroht ist. Die Seele steht vor dem Kollaps – und deswegen steht die Welt vor einem solchen. In Seelen, in denen der Idealismus nicht mehr brennt, schwärt die dumpfe Glut eines längst zu mächtigen Egoismus, vereint mit Bequemlichkeit, Blindheit, Scheuklappen und sogar Arroganz. Die Menschheit spaltet sich in jene, die unmittelbar erkennen, wieviel wir falsch machen – und in jene, denen es letztlich ziemlich egal ist, Hauptsache sie selbst haben ihre ,Schäfchen halbwegs im Trockenen’. Und dann gibt es die Vielen, denen der Idealismus hinausgeprügelt wurde, weil man sich auch um sie selbst einen Dreck geschert hat.
Auch das Problem rechten Gedankenguts wächst auf dem Beet eines bloßen Materialismus, der sich außerdem um soziale Gerechtigkeit nie wahrhaftig genug gekümmert hat, sondern wo der ,soziale Ausgleich’ immer nur das Feigenblatt eines stets obszöner werdenden Reichtums einiger ganze Weniger war.
,Geld ist nicht alles’? Aber für viele steht es an erster Stelle – und sie sind es, die den ganzen Planeten mit ihrer Macht kontrollieren. Und wer mit all seinem Geld schließlich auch ,philanthrope’ Zwecke verfolgt, kann der Unwahrhaftigkeit dennoch nicht entgehen – denn der Weg, zu obszönem Reichtum zu kommen, hat bereits viel mehr Schaden angerichtet, als im Nachhinein wieder ausgeglichen werden kann. Wer reich sein will und es zulässt, reich zu werden, dessen Seele ist bereits korrumpiert. Es gibt nur einen menschlichen Reichtum: Die wahren, reinen Ideale der Seele. Und wahr sind sie nur, wenn in ihrem Mittelpunkt das Ideal der Brüderlichkeit brennt.
Die jungen Menschen nennen die drei Kanzlerkandidat*innen ,Du’. Die drei aber weichen ihnen angstvoll aus und wollen den Wahlkampf mit keinem Risiko belasten. Wer trägt wohl die wirklichen Ideale im Herzen?