21.10.2021

Der Terror des ,Common Sense’, oder: Von der Blindheit für das Einzigartige

Gedanken zu einer alles verändernden Frage.


Inhalt
Das schnelle Urteil des ,Common Sense’
Vom Geheimnis des Einzelnen...
...und dem des Mädchens
,In unseren Breitengraden’
Unlogisch, uninformiert, vordemokratisch und brutal
Worum geht es eigentlich?
Verstehen oder Terror?


Das schnelle Urteil des ,Common Sense’

Ein Mensch aus dem anthroposophischen Umfeld, der in einer gleichgeschlechtlichen Ehe lebt und den ich bisher als einen Freund betrachtet hatte, schrieb mir kürzlich:

Sorry, ich muss es dir hier leider auch sagen, einiges (!) was du schreibst, gefällt mir auch nicht. Ich stoße mich sehr, wie einige andere wohl auch, an deinem Thema betreffend „Mädchen“. Ich möchte hier mit Absicht nicht darauf eingehen [...]. Ich hoffe nicht aus Arroganz, aber ich stimme da einem, meiner Meinung nach vernünftigen, Konsens zu (und Common Sense), der hier (in diesem Fall West-Europa) aus mannigfaltigen Erfahrungen vereinbart und festgelegt worden ist.

Er urteilte hier auf der Grundlage meiner Webseite und dem bloßen ,Thema’ meiner Bücher – keinen einzigen meiner entsprechenden Romane hatte er selbst gelesen (nur den bereits 2015 erschienenen Roman ,Über den Abgrund’ kannte er).

Vom Geheimnis des Einzelnen...

Ich antwortete ihm:

Dass Du Dich an meinem Thema des Mädchens stößt, kann ich gut nachvollziehen. Selbstverständlich sind mir sämtliche Einwände hierzu absolut klar, ich behandele sie sogar in dem Roman ,Nur Maja’ und seiner Fortsetzung in allergrößter Ausführlichkeit. Dass man alle diese Einwände zunächst haben muss, ist mir völlig klar.

Aber der ,Common Sense’ ist eben auch (auch Westeuropa, auch historische Erfahrungen), dass ein Lehrer einen staatlichen Abschluss haben muss, dass Schüler Abitur haben müssen, dass eine Weltanschauung mit rassistischen Elementen (Anthroposophie?) nicht gut ist; dass, wer keine Arbeit hat, tendenziell ein Sozialschmarotzer ist; dass Kommunisten verdächtig sind; dass der Kapitalismus alternativlos ist; dass an Hierarchien kein Weg vorbei führt; dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist – oder gar ein Herdentier etc. etc.

Keiner meiner Romane ist dazu gedacht, einen neuen Common Sense zu schaffen. Jeder Roman schildert einzigartige, individuelle Begegnungen – Schicksalsbegegnungen, die per se gar nicht anders können, als individuell zu sein. Heute haben wir aber gewaltige Angst vor dem Individuellen – allein schon, weil wir fürchten, man könnte es zur Regel machen wollen. Die Regel aber ist der Tod des Individuums. Das Tabu übrigens auch. Es ist dann kein Platz mehr für das Individuelle. Wer ein Tabu übertritt, ist im Grunde schon ,pervers’ – was auch immer gerade als Tabu gilt.

Meine Romane sind radikal in Bezug auf einzigartige Situationen geschrieben – sie betreffen jeweils zwei Menschen und ggf. ihr Umfeld. Man kann auch sagen oder meinen: ,Hier müssen wir selbst das Karma abschaffen.’ Aber man kann das Einzelne schlichtweg nicht unter eine allgemeine Regel fassen.

In fast allen meiner Romane beschenken sich die ProtagonistInnen gegenseitig unglaublich. Für beide Beteiligten wäre eine Nicht-Begegnung ein ungeheurer Verlust. Willst Du das mit dem Common Sense auslöschen?

Und die nächste Frage, die sich ergibt, wäre: Steht der Common Sense sogar über dem Gesetz? In mehreren meiner Romane versucht die Umgebung, die Beziehung dieser zwei Menschen zu vernichten. Und die Frage ist: Hat sie ein Recht dazu? Woher nimmt sie es sich?

Jeder meiner Romane behandelt das Mysterium der Begegnung. Es gibt Begegnungen, die stellen sich frontal gegen den Common Sense. Haben sie darum weniger Recht darauf, geschützt zu werden? Geachtet? In Ruhe gelassen? Ich denke, unsere Gesellschaft könnte aus diesen Romanen allein schon in Bezug auf das Thema Toleranz unendlich viel lernen. Aber auch in Bezug auf eine Neubewertung des Common Sense. Worum geht es eigentlich? Eigentlich geht es immer wieder um das Wohl jedes Einzelnen. Und wenn es konkret um ein Mädchen geht, kann nur das Mädchen darüber entscheiden, was es als sein Wohl erlebt. Wer denn sonst?

Aber ich verstehe, wenn Du darüber gar nicht erst reden willst. Ich verstehe sehr viel.

Einige Tage später ergänzte ich diese Gedanken noch durch die folgenden:

Über etwas nicht reden zu wollen, hat sicherlich meistens zwei Gründe: Man hat sich über ein Thema eine endgültige Meinung gebildet, oder man hält den anderen für unbelehrbar – oder auch beides.

Für mich ist es eine entscheidende Wahrheit, dass man das Individuelle nie unter das Allgemeine subsummieren kann – denn dann beginnt die Herrschaft des Dogma. Was Du oder auch die Allgemeinheit im allgemeinen denken mag – und dann Common Sense nennt – findet seine Ergänzung und auch seinen Widerspruch in jenen Einzelfällen, die in das allgemeine Dogma einfach nicht hineinpassen. Hier dann wird das Dogma zum Verbrechen – am Einzelfall, den es terrorisiert. Der Konflikt ist unauflöslich, es sei denn, man beginnt, einen Blick für das Individuelle zu pflegen und zu gewinnen.

Ich schrieb, das mich das Mysterium der Begegnung tief beschäftigt, und das die ProtagonistInnen meiner Romane einander tief beschenken. Wie kann man sich darüber stellen? Dazu müsste man den jeweiligen Roman zumindest gelesen haben, sonst hat man gar kein Erlebnis von dem, was sich eigentlich, in Wahrheit, ereignet – bis ins Existenzielle, für die Seelen.

...und dem des Mädchens

Meine Gedanken setzten sich dann fort in dem Versuch, dasjenige anzudeuten, was eigentlich erst in einem ganzen Buch oder Roman wirklich erlebbar werden kann:

Von all diesem abgesehen bzw. es weit ergänzend, ist für mich die Gestalt des Mädchens eine Art Prophetin – in ihr lebt so viel und von ihr geht so viel aus, dass ich auch darüber ganze Bücher geschrieben habe. Aber die Essenz ist immer wieder: Das Mädchen ist der völlige Gegenpol all jener Tendenzen, die in uns allen leben und die das Bild unserer Zeit prägen. Vom bequemen Individualismus bis zur satten Unverbindlichkeit, vom Primat des Intellekts über den Verlust tieferer Empfindungen, von der Lähmung des Willens in Bezug auf innere Entwicklung bis zum sterbenden oder nie vorhanden gewesenen Idealismus, vom mangelnden Interesse oder Zuhörenkönnen bis zum stark verdunkelten Glauben an das Gute, und ich könnte hier noch Hunderte Färbungen nennen, die alle das ganze Drama unserer Zeit ausmachen.

Aber in der Regel interessiert das Wesen des Mädchens ja überhaupt nicht. Man geht weiter, man macht weiter, die Geschichte nimmt ihren Lauf. Kurzum, das Mädchen ist gleichgültig – aber es gibt einen Common Sense! Dieser ist in Wirklichkeit eine große Heuchelei – denn es interessiert auch nicht, wie sich Mädchen in der Schule fühlen, in der heutigen Welt überhaupt, inmitten eines kalten Kapitalismus etc. etc. Man hat kein Gespür für das Leiden einer Mädchenseele und ist hier auch völlig indifferent.

Aber ein Mädchen – immer idealisch gesprochen, und doch unmittelbar erlebbar, denn nicht zufällig hat die reine Seele bis ins Märchen hinein oft die Gestalt des Mädchens – hat sein Zentrum in der Sphäre unschuldiger Empfindungen (reines Herz) und einer unglaublichen Liebe zum Guten und Sehnsucht nach dem Guten (reiner Wille). Es sieht die heutige Welt und leidet tief an ihren Erscheinungen. Es ist offen für andere Wesen, Desinteresse kennt es eigentlich überhaupt nicht; es würde nie ein Gespräch abbrechen – und es hat einen tiefen Blick für das Individuelle und den Einzelfall, den es nie unter das blinde und gleichgültige Gesetz des Allgemeinen stellen würde.

Und auch in dieser Weise könnte ich noch unendlich fortfahren. Ich möchte sagen: Am Wesen des Mädchens berührt mich so unendlich viel, dass es in wenigen Absätzen überhaupt nicht darzustellen ist. Gleichzeitig sind dies Realitäten – jede aufrichtige Seele kann gleichermaßen wissen und empfinden, wie es um unsere Welt steht. Hier dann meine Romane ungelesen abzulehnen, weil irgendein Common Sense existiert (was genau besagt der eigentlich?), kann ich nur erleben als ein Völlig-daran-Vorbeigehen, was in ihnen eigentlich lebt. Denn es sind wirkliche Mysterien, heilige Dinge. Ich selbst würde sogar immer sagen: Man kann in ihnen das ätherische Christus-Geheimnis spüren. Allein schon, weil die Hauptpersonen Mädchen sind. Aber auch durch das Mysterium der Begegnung, das stets aufrichtiger ist, als es in der uns umgebenden Welt die Regel – oder der Common Sense – ist.

Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich wollte von meinen Romanen Zeugnis ablegen – verteidigen muss ich sie nicht, das können sie selbst. Aber es schmerzt mich zutiefst, wann immer ich erlebe, dass das Einzelne, Besondere, überhaupt nicht gesehen wird, sondern ein allgemeiner Common Sense brutal und blind darüber hinwegwalzt. Das sollte unter uns, die wir innerlich streben, nie geschehen. Die Blindheit für das Einzelne ist vielleicht DER Todespol unserer heutigen Welt. Ahriman hasst das Einzelne. Christus liebt es. Ahriman will abstrakte Gesetze. Christus will das Leben der einzelnen Seele.

,In unseren Breitengraden’

Auf diesen ausführlichen Versuch, dem immer schon fertigen ,Common-Sense-Urteil’ entgegenzustellen, worum es wirklich geht, erhielt ich einfach nur den nächsten Schlag ins Gesicht: Der vermeintliche, ehemalige Freund schrieb mir einfach nur, er würde spüren, dass ich mich gegen seine Empfindungen ,vehement und übersteigert wehren’ würde – und dass er mich tatsächlich ,womöglich für fast unbelehrbar’ halten würde.

Nichts von einem Nachdenken über meine Gedanken und vielen aufgeworfenen Fragen, nichts von einem Geltenlassen oder sogar Berührtwerden von einem anderen, weiteren Blick, nichts von einem Eingehen auf die essenzielle Frage: Was ist eigentlich das Einzelne?

Stattdessen fuhr er bloß fort:

Ich sehe Common Sense nicht als allgemein-gültiges Totschlag-Argument. Mir ist klar, Common Sense wird überall auf der Welt sehr unterschiedlich empfunden. So zum Beispiel scheint der Common Sense in Polen oder in vielen anderen Ländern sehr stark gegen gelebte LGBT+ gerichtet zu sein, obwohl so zu leben gesetzlich dort vielleicht gar nicht strafbar ist.

Und dann kam der abstrakte ,Common Sense’ erneut zur vollen Machtentfaltung:

Falls das ,Verlangen so groß wird, sexuell mit Kindern oder Jugendlichen zu verkehren’, solle die betreffende erwachsene Person ,tief in ihrer Seele nachschauen’, woher dieses Verlangen komme ,oder sich sogar dazu Hilfe holen’. Er richte sich danach, ,wie dieses Thema hier in unseren Breitengraden besprochen wird, in Gesetzen festgelegt worden ist und mir auch vernünftig erscheint’.

Zwei meiner Bücher habe er früher gelesen, und regelmäßig würden auf meiner Webseite auch ,ausführliche Erklärungen und Leseproben’ zu meinen anderen Büchern erscheinen. Auch jetzt hätte ich eine lange Mail geschrieben. Er habe vieles von mir ,nicht gelesen, aber schon genug, mir ein Bild zu verschaffen’ – offenbar das Bild, dass meine Romane dem ,Common Sense’ widersprechen!  

Er führte weiter an, dass meine Bücher und Artikel wohl, soviel er verstanden habe, auch starke Kritik hervorrufen würden (was aber nicht verwunderlich ist, da auch andere Menschen dem ,Common Sense’ anhängen, ohne den Einzelfall anschauen zu wollen oder mal einen einzigen meiner Romane wirklich zu lesen und dann zu urteilen). Mein Empfinden sei das eine, aber das andere sei, dass ich auf Widerspruch und Bedenken, wie in meiner Mail an ihn, ,sehr heftig’ reagieren würde.

Meiner Beschreibung der Mädchen-Seele könne er durchaus ,etwas’ abgewinnen. Und vielleicht würden andere Anthroposophen oder empfindsame Menschen sogar noch weiter mit meinen Beschreibungen mitgehen können. Dass ,etwas sehr Menschliches im besten Sinne’ bei Jugendlichen, ,wahrscheinlich vor allem bei Mädchen’, hervor scheinen könne, könne er nachempfinden. Und es sei sicherlich für einen Erwachsenen wunderbar, mit solchen jungen Menschen Zeit zu verbringen und zuzuhören, als Eltern, Familie, Lehrer ,und vielleicht auch mal als Freund’. So solle man ,die Kinder liebevoll begleiten’.

Hierbei bleibe es aber nicht in meinen Büchern. Es gehe auch um eine sexuelle Beziehung. Die Beziehung von einem erwachsenen Mann – jetzt auch Frau – zu einer ,Minderjährigen’ sei ein herausstechendes, wiederholendes Thema. Auch die Begegnung eines älteren Mannes mit einer jungen Studentin sei früher mal Thema eines Buches gewesen (das er gelesen hatte). ,Alt, Älter – Jung, Minderjährig’ sei ein großes Motiv. (Offenbar eines, das der ,Common Sense’ per se ablehnt!).

Die Mädchen-Seele werde in meinen Romanen und Artikeln ,esoterisch aufgeladen’ und dieses Mädchen ,sogar ermächtigt, eine sexuelle Beziehung mit einer erwachsenen, viel älteren Person einzugehen’. Wenn ,Leser’ (gemeint sind bloße Webseiten-Leser) dies ablehnten, würfe ich ihnen Brutalität und Blindheit vor, sie seien dogmatisch und kalt gegenüber einem eventuell individuellen Fall und von Gegenmächten ergriffen etc. Wenn Menschen sich gegen sexuelle Beziehungen ,von Erwachsenen mit Mädchen’ (man beachte die kategorische Vermeidung des Wortes ,zwischen’) aussprechen, würde ich mit ,Unverständnis’ reagieren. Und er glaube, ,für viele’, jedenfalls für ihn, wirke es ,wie eine große Mauer’, die ich mir selber hochgezogen hätte, und er finde es ,schreie’ nach einem ,Ihr versteht mich alle nicht!’.

Unlogisch, uninformiert, vordemokratisch und brutal

Über diese Antwort und das, was darin deutlich wurde, war ich wirklich erschüttert. Was von ihm als ein ,Sich vehement und übersteigert wehren’ bezeichnet wurde, war schlicht der bedingungslose Versuch und das Bemühen, die Erkenntniselemente zusammenzutragen, um die es in dieser Frage geht. Nur in Bezug auf irgendeine mathematische Frage oder rein subjektiven ,Geschmack’ wäre dies nicht nötig. Denn sein ,Empfinden’ betraf und betrifft ja eine eminente Erkenntnisfrage – und hatte darüber hinaus nicht zuletzt auch mit der Frage zu tun, wie sich zwei Menschen gegenüberstehen, zwischen denen bisher vermeintlich eine ungeteilte Wertschätzung existierte.

Mit seinem Wort von ,unbelehrbar’ bestätigte dieser Mensch nun auf einmal, dass er nicht einmal bereit war, auch seinen Standpunkt zu hinterfragen, während ich von Anfang an deutlich gemacht habe, dass ich den Common Sense in vielerlei Hinsicht nachvollziehen kann. Seine Formulierungen aber zeigten, dass er über das Schema-Denken gar nicht hinauskam.

,Falls das Verlangen zu groß wird, sexuell mit Kindern oder Jugendlichen zu verkehren’ – worum geht es hier eigentlich!? Kein einziger meiner Protagonisten hat ein solches Verlangen, und allein das zeigt mir, wie extrem hier geurteilt wird. Jeder Protagonist verliebt sich in einen konkreten anderen Menschen – das und nichts anderes ist der unhintergehbare und bedingungslose Ausgangspunkt. Ich könnte also im gleichen Stile antworten, wie dieser Mensch es tat, und schreiben: Sein Empfinden ist das eine, das andere ist, dass er ,sehr heftig’ – danebenliegt, damit aber urteilend Unrecht begeht.

Dies setzt sich in solchen Bemerkungen fort, wie ich (!) würde ein Mädchen ,sogar’ dazu ermächtigen, eine sexuelle Beziehung mit wem auch immer einzugehen. Das Mädchen ist (!) dazu ermächtigt, das muss ich gar nicht tun – und könnte es nicht einmal. Das Problem ist also, dass dieser Mensch dem Mädchen etwas abspricht, was sein unveräußerliches Recht ist. Damit herrschen in seinem eigenen Denken ,polnische Verhältnisse’.

Aus all solchen Gründen war ich nur um so bestürzter über sein völlig stoisches Beharren auf dem ,Common Sense’, dem er anhängt, obwohl er selbst darauf hinweist, wie überaus problematisch dieser z.B. für seine Lebensweise bereits im unmittelbaren Nachbarland ist – bestürzt aber auch über seinen völlig unreflektierten Hinweis auf die Gesetzeslage. Offenbar ist vielen Menschen absolut nicht bekannt, dass auch Jugendliche (nicht ,Kinder’!) ab vierzehn Jahren sexuell mündig sind – und daher Beziehungen auch unter Einschluss von Sexualität zwischen Menschen jeden Alters ab vierzehn erlaubt sind (und bereits zu einer Zeit waren, als gleichgeschlechtliche Beziehungen noch strafbar waren).

Daher kann ich meine Frage nur wiederholen: Steht der Common Sense sogar über dem Gesetz? Oder welches anti- und vordemokratische Verständnis steht hinter der Auffassung, dass ein Mädchen nicht selbst entscheiden könne, mit wem es eine Beziehung haben möchte – und wohin eine von Liebe geprägte Beziehung vielleicht unter anderem auch führt?

Vielleicht müssen sich ja diejenigen ,Hilfe holen’, die die Beziehung zwischen einem Mädchen und einem Mann (oder einer Frau) schlichtweg verurteilen; schlichtweg nicht bereit sind, die Beziehung (und das Mädchen) selbst sprechen zu lassen; auch nicht bereit sind, die Gesetze anzuerkennen – und die so tatsächlich ihr Herz, in dem nämlich der Blick für das Individuelle zu finden wäre, vorbehaltlos auf dem Altar des ,Common Sense’ opfern. Und, wie ich abschließend nochmals betonen möchte: die Mädchen gleich mit. Denn auch diesem Menschen sind sie egal, die Entscheidungen und Empfindungen des einzelnen Mädchens zählen für ihn gar nicht, sie kommen in seinen Zeilen überhaupt nicht vor. Alles wird von einem einzigen ,Argument’ (,Common Sense’) erstickt, das eines jeden Menschen unwürdig ist, der eine wirklich spirituelle Weltanschauung in sich tragen würde. Abstrakt werden hier zugleich die Mädchen infantilisiert, in eine ,Opferschablone’ gepresst und der Erwachsene pervertiert. Reale Menschen erstarren zu Schemen, über die das Urteil bereits von vornherein gefällt ist.

Selbst der gewöhnliche Menschenverstand weiß und spürt, dass sogar für den Common Sense gilt: Keine Regel ohne Ausnahme. Offenbar aber ist die ,Haltung’ nicht weniger Menschen dazu viel kategorischer. Und man sieht alles unter einem einzelnen Element, das man aus dem Ganzen herausseziert. Alles, was ich geschrieben habe, ist jedenfalls an diesem Menschen abgeprallt. Dann muss man das Gespräch wirklich aufgeben. Ein AfD-Anhänger hätte sich der Fülle von Gedanken kaum kategorischer verschließen können. Auch er hätte den ,Common Sense’ zur absoluten Wahrheit erklärt. Je starrer das Schema, desto selbstgewisser das Urteil.

Dies alles hatte ich jenem Menschen erwidert und geendet mit den Worten:

Ich hoffe, Du wirst mit den hartherzigen Urteilen des Common Sense, der genau weiß, welche Menschen einander lieben dürfen und welche nicht, irgendwie glücklich.

Worum geht es eigentlich?

Zusammenfassend muss ich sagen, dass mich diese Offenbarung eines einstmaligen Freundes mich in mehrfacher Hinsicht erschüttert hat.

Das Eine ist, dass es von Anfang an nicht um die Qualität des Einander-Zuhörens ging – eine Qualität, die ein Mädchen zweifellos tiefgehend besitzt (ich spreche auch hier stets vom Wesen des Mädchens, wie ich es in meinen Büchern erlebbar zu machen suche).

Ein Zweites ist, dass hier überhaupt erst die Qualität von ,Freundschaft’ beginnen würde. Aber man muss es nicht einmal Freundschaft nennen, in Wirklichkeit beginnt alles wahrhaft Menschliche mit Fähigkeiten und Handlungen dieser Art. Ohne ein Zuhören, ein Aufeinander-Eingehen, ohne Empathie und Ver-stehen (den Standpunkt des Anderen einnehmen können), hat die Sphäre des Menschlichen noch überhaupt nicht wahrhaft begonnen. Wie aber soll dann einst ein Zeitalter der Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit anbrechen können? Das Mädchen trägt es schon jetzt in diese gegenwärtige Zeit hinein.

Alles fließt dann in der Blindheit gegenüber dem einzelnen Fall zusammen. Der ,Common Sense’ steht über allem – man muss gar nicht weiterdenken. Er ist der Gedankenpolizist, der alles weitere beendet: Stopp, Umleitung.

Damit wird es unmöglich, seine Augen und sein Herz – seine Wahrnehmung und sein wirkliches Urteilen – für den einzelnen Fall zu öffnen. Schon für die Wahrnehmung zu öffnen, dass es überhaupt keine ,Fälle’ gibt, sondern nur einzelne Geschehnisse, sich ereignende Begegnungen, vielleicht sogar Schicksalsbegegnungen – in jedem Fall aber Begegnungen, für die es kein anderes Kriterium gibt als das, was sich in dieser Begegnung konkret ereignet. Das allgemeine Kriterium muss sehr wohl sein: Dient es den beteiligten Menschen? Schenkt es ihnen etwas? Werden sie von diesem gleichsam heiligen Dritten, ihrer Begegnung, beschenkt? Aber um diese Fragen beantworten zu können, muss man diese Begegnung ja vorurteilslos, unbefangen und aufrichtig miterleben – wie will man vorher urteilen können? Es geht schlichtweg nicht.

Wo einem aber bloße Buchrücken, ,Leseproben’ und grobe Zusammenfassungen oder ,Erläuterungen’ reichen, um ,sich ein Bild zu machen’, da ist die Herrschaft des ,Common Sense’ ungebrochen. In Wirklichkeit hat man sich dann auch nur von den bloßen Leseproben etc. nicht einmal berühren lassen. Man hätte sie sich auch sparen können.

Das Nächste ist dann, dass man nicht einmal über die Gesetzeslage informiert ist. Oder vielmehr: Vielleicht ist man es ja teilweise sogar – aber selbst dann spielt dies keine Rolle, denn auch hier übernimmt sofort jene Gedankenpolizei, die noch über dem Gesetz steht: ,Was das Gesetz erlaubt, ist mir doch egal, der Common Sense, dem ich mich unterworfen habe, sieht es anders.’

Und in engstem Zusammenhang damit steht eben das Herauslösen dieses einen Aspekts – Sexualität – aus dem Ganzen. Nur so entsteht dann die abstruse Vorstellung, in meinen Romanen ginge es um Erwachsene, die ,das Verlangen haben, sexuell mit Jugendlichen zu verkehren’. Man ist nicht einmal ansatzweise bereit, zu erleben, um was es wirklich geht: um das Sich-Verlieben eines ganz konkreten Menschen (Junge, Mann, Frau) in ein ganz konkretes Mädchen. Und noch weniger ist man bereit, zu erleben, worum es ebenfalls wirklich geht: um die Tatsache, dass das Mädchen diese Liebe zu erwidern beginnt. Oder sich vielleicht sogar zuerst verliebt (wie in dem Roman ,Mädchenkarma’).

Verstehen oder Terror?

Und nachdem man sich auf dies alles bereits in keiner Weise eingelassen hat, lässt man sich dann auch auf das andere nicht wirklich ein: Dass Sexualität ein unabtrennbarer Teil des Lebens und auch der Liebe ist – sobald die Liebe auch erotisch ist und der Wunsch nach ebendieser gemeinsam erlebten Sexualität entsteht.

Was der Gedankenpolizist machtvoll verhindert, ist ja die bloße, im Grunde sehr einfache Erkenntnis, dass auch ein Mädchen dies ebenso wollen kann, schön finden und sich davon beschenkt erleben kann wie jeder andere Mensch, dessen ,Geschlechtsreife’ erwacht ist. Einem Mädchen dies abzusprechen, gehört eben bereits zu der inneren Brutalität des ,Common Sense’ dazu, der sich für seine Haltung überhaupt nicht mehr rechtfertigen muss, weil er die Gedanken ja von vornherein unterworfen hat. Damit aber auch das Mädchen. Denn nun hat es kein Recht mehr, zu sagen, was es selbst empfindet – und selbst, wenn es dies aussprechen würde: Es würde nicht zählen.

Wer aber so mit einem Mädchen umgeht – so völlig rücksichtslos, hochmütig und besserwisserisch (,erwachsen’ eben) –, der muss sich nicht wundern, dass ich mit jedem Roman auch das Recht des Mädchens verteidige, selbst zu beurteilen, zu empfinden und zu erleben, was eine Begegnung für es bedeutet. Dieses Recht ist unhintergehbar – und jeder, der es beschneiden will, handelt nicht im Sinne des Mädchens, sondern nur im Sinne des ... Common Sense. Wir sehen also, dass dieser auch frontal gegen das Mädchen gerichtet sein kann. Gegen den einzelnen Fall ist er immer gerichtet, schon per Definition. Der Einzelfall zählt für ihn gar nicht. Aber das Mädchen eben auch nicht, und das ist es, worum es in meinen Romanen eben auch geht. Auch das einzelne Mädchen wird dem Common Sense gnadenlos geopfert.

Wir kommen also nicht weiter, sondern verharren für immer in einem vor-individuellen Bewusstsein und einem Blick, der für das Einzigartige des einzelnen Geschehens für immer blind bleiben wird, wenn wir nicht zugeben, dass jede Begegnung einzigartig ist – und dass es nicht darum geht, was der ,Common Sense’ für ,verboten’ hält, sondern warum. Erst dann wird der Blick wieder frei für jenes andere Warum: Jenes nämlich, warum jede Regel auch ihre Ausnahmen hat bzw. braucht. Denn wo diese nicht mehr zugelassen werden, weil man sie als Ausnahmen erkennt, da beginnt der Terror. Geschichte und Gegenwart sind voll von Beispielen.

Diesen Terror können wir nur verhindern, wenn wir uns mit ihm nicht gemein machen. Der Common Sense kann Gewalt gegenüber Mädchen gar nicht verhindern – sonst gäbe es gar keine mehr. Er kann aber verhindern, dass es auch Begegnungen und Beziehungen gibt, die vom Mädchen bejaht und gewollt werden. Dass das Mädchen darauf aber ein Recht hat – und dass es auch fähig ist, selbst zu entscheiden, zu erleben, zu empfinden und selbstverständlich auch zu denken –, ist das Thema meiner Romane. Jene Fälle, wo ein Mädchen eine Begegnung ablehnt, brauchen von mir nicht beschrieben zu werden, das erledigt eine Armada anderer Autoren. Das Thema, dass ein Mann der Liebe eines Mädchens möglicherweise gar nicht würdig sein kann, behandle ich sehr wohl auch – bis hin zum Thema Missbrauch (,Der Verlorene und das Mädchen’, ,Mädchen-Opfer’). Ich weise aber auch darauf hin, dass es oft gerade die nicht sind, die andere verurteilen, die es sind (,Sex Offender’).

Das letztgültige Urteil kann nur bei einer Instanz liegen – der Seele des Mädchens selbst. Wer dies nicht begreift oder einfach nicht begreifen will, sollte vielleicht einmal anfangen, meine Romane zu lesen.