22.06.2022

Der Antisemitismus, der Norden und das Mädchen

Gedanken gegen die Kurzsichtigkeit.


Inhalt
Echte Betroffenheit
Maximaler Schaden
Das Problem BDS
Reaktionäre Stereotypen
Wahrhaftigkeit statt Nabelschau
Die wirkliche globale Lage
Indonesische Visionen
Das Mädchen
Nachträge vom 23.6.2022


Echte Betroffenheit

Die documenta hat ihren Skandal. Von der ,Schande der Documenta’ ist die Rede, ja von der ,Documenta der Schande’. Die ,Jüdische Allgemeine’ hat die geballten Fragen zusammengefügt:[1]

Die weltweit wichtigste Kunstausstellung documenta sorgt seit Wochen für einen Antisemitismusskandal nach dem nächsten, jeder für sich genommen mit einer Tragweite, wie man es bis vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätte. Es ist ein Scheitern, das seinesgleichen sucht.
Wie also kann es sein, dass jüdische Künstler aus Israel von der Weltkunstausstellung in Kassel gezielt ausgeschlossen wurden? Wie kann es sein, dass Proteste von jüdischen Verbänden gegen diese Entscheidung komplett ignoriert wurden? Wie kann es sein, dass auf der documenta das wohl scheußlichste antisemitische »Kunstwerk« ausgestellt wurde, das seit 1945 öffentlich in Deutschland zu sehen war?

Der Artikel beginnt mit der persönlichen Ebene. Mit dem persönlichen Erleben jüdischer Mitbürger angesichts eines viele Meter großen Banners, auf dem unter sehr vielem anderen auch eine allein schon durch ihre Schläfenlocken als jüdisch dargestellte Person mit Haifischzähnen und großer Zigarre als Symbol des Kapitalismus auftaucht:[1]

Ganz gleich, mit wem diese Zeitung in den letzten Tagen zwischen Berlin und Bonn oder Konstanz und Kiel gesprochen hat – mit Schoa-Überlebenden, Künstlern, Funktionären, Journalisten oder ganz normalen Gemeindemitgliedern –, die Betroffenheit, das Entsetzen, ja der Schock unter jüdischen Deutschen ist immens.

Hier wird es konkret. Hier spürt man unmittelbar, um was es geht. Es geht darum, dass jede Stereotype, die eine bestimmte Gruppe von Menschen subtil oder offen entmenschlicht, nur mit Hass korrespondieren kann – ihn säen, ihn bestätigen, ihn reproduzieren, ihn salonfähig machen. Jeder Hass degradiert den anderen zu etwas in letzter Konsequenz Unter-Menschlichem – und degradiert schon die eigene Seele zu etwas nicht mehr wahrhaft Menschlichem. Deswegen sind Stereotype so unhinnehmbar. In ihnen hat das Menschliche immer schon abgedankt. Die Juden haben damit nicht nur im Holocaust die ungeheuerlichste Erfahrung überhaupt gemacht – sondern sogar über diesen absoluten Wahnsinn hinaus seit vielen Jahrhunderten christlichen Abendlandes.

So unscheinbar die Figur in dem ungeheuer großen Bild sein mag – sie bleibt unannehmbar. Sie steht für alles, was wahre Kunst nicht will. Kunst kann Gewalt thematisieren und schärfstens kritisieren, soll dies sogar auch. Aber sie darf nicht ihrerseits dämonisieren, will sie ihren eigenen Auftrag und ihre eigenen Ideale nicht hoffnungslos verraten.

Maximaler Schaden

Das Kollektiv Taring Padi hat nicht nur sich damit keinen Gefallen getan, sondern es hat einen maximalen Schaden angerichtet – für sämtliche 1700 Künstler und weit darüber hinaus, für die Diskurskultur, für die Menschlichkeit, für die wahren Anliegen der Zukunft.

Dies begann schon mit dem Lavieren darüber, ob man nur einen Teil des Bildes verhängen und kontextualisieren sollte. Dann sollte das ganze Bild schwarz verhängt bleiben – wobei eher die Zensur wahrgenommen worden wäre und nicht die Gründe. Es sei nun ,ein Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs’, ließen die Künstler verlauten und wollten noch immer keinen spezifischen Antisemitismus erkennen. Damit wären sie geradezu Märtyrer gewesen. Dass hier der documenta-Leiterin Sabine Schormann eine größte Verantwortung zukommt, ist zweifellos. Jedes Lavieren hat nur dazu beigetragen, dass das Ganze zu einer ,total verfahrenen und würdelosen Situation’ geführt hat, wie Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, es mit Recht formulierte. Er war es aber auch, der auf die tiefe Notwendigkeit eines Austausches gerade jetzt hinwies:[2]

Es wird höchste Zeit, im Rahmen dieser Documenta ein Gespräch zu beginnen, die Künstler zu hören, aus welcher Weltsicht diese Bilder so entstanden sind und seitens der Documenta öffentlich zu erklären, warum diese Bilder hier auf Widerstand und Ablehnung stoßen.

Jede Form von Antisemitismus, und wäre eine Figur noch so klein und gedankenlos entstanden, ist auf deutschem Boden undenkbar. Sie sollte es aber auch weltweit sein. Nur gilt dies dann für jede Art von Rassismus. Wir wissen aber, dass dies keineswegs der Fall ist – sondern dass Rassismen und üble Nationalismen weltweit gedeihen und sogar häufig wieder auf dem Vormarsch sind.

Der Schaden ist auch deshalb so groß, weil Hass und Rassismus überhaupt nicht das Anliegen von Taring Padi ist – man muss es wiederholen – und weil jetzt das Gespräch über die verschiedenen Arten von Hass, Rassismus und Erniedrigungen noch weniger möglich sein wird als zuvor schon. Dieses Gespräch ist aber so notwendig wie nichts anderes.

Und mancher derer, die sich insbesondere von nichtjüdischer Seite her schon im Vorfeld maximal ereifert haben, spielt selbst ein doppeltes Spiel. Denn je mehr man die Frage ,Antisemitismus’ geradezu gigantisch aufbläst, desto weniger muss man sich mit allen übrigen Fragen auseinandersetzen, die diese documenta so sehr aufwirft wie kaum eine zuvor.

Das Problem BDS

Dass die Israel-Boykott-Bewegung BDS, zu der manchen Künstlern der documenta eine Nähe vorgeworfen wird, extrem fragwürdig ist, steht kaum in Zweifel. Ein ausführlicher Bericht im ,Tagesspiegel’ lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nicht nur, dass der Boykottaufruf für immer der Nazi-Parole ähnelt ,Kauft nicht bei Juden!’ Es geht ja weiter. Mitgründer Omar Barghouti sagt, kein Palästinenser werde jemals einen jüdischen Staat in der Region akzeptieren. Das BDS-Logo ist das kleine Strichmännchen Handala, populäre Comicfigur eines palästinensischen Zeichners, bei dem ,Israelis grundsätzlich mit Hakennase dargestellt’ werden – diese ,begehen jüdische Ritualmorde und können bloß durch Maschinengewehre gestoppt werden’.[3]

An der Berliner Humboldt-Universtiät brüllten BDS-Mitglieder ,eine Veranstaltung nieder, bei der eine Holocaust-Überlebende auftreten sollte. Am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, rief die Gruppe zum Israelboykott auf.’ Verschiedene Berliner BDS-Aktivistinnen nennen Gaza ein ,israelisches Konzentrationslager’ oder bezweifeln, ob es sich in Israel überhaupt um echte Juden handle.[3]

Dennoch ist die Bewegung selbstverständlich nicht einheitlich, und das Bundesverwaltungsgericht urteilte, dass ein Beschluss der Stadt München, öffentliche Räume für BDS-Veranstaltungen zu verweigern, nicht haltbar sei.[3] Der ,Tagesspiegel’-Artikel schildert die Extreme. Man macht sich jedoch ebenso eines Extremismus schuldig, wenn man nicht mehr begreift, dass in dem Nahost-Konflikt zwei Seiten aufeinanderprallen – und natürlich sogar noch mehr.

Selbst der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, Autor eines epochalen achtbändigen ,Handbuch des Antisemitismus’ in Geschichte und Gegenwart, sagt:[4]

Der Palästinenser ist nicht in erster Linie ein Judenfeind, sondern er lebt in bedrückten Verhältnissen, und der Bedrücker ist der Staat Israel. Das ist ein politisches Motiv. Antisemitismus ist immer zuerst und in aller Regel ein persönliches Motiv. Ich mag den oder die nicht, weil... [..] Wenn ich etwas gegen die Vereinigten Staaten habe, weil sie einen sinnlosen Krieg gegen den Irak geführt haben, bin ich dann ein Kritiker der amerikanischen Politik oder bin ich ein Feind aller Amerikaner? Ich bin mir mit der Hälfte der Amerikaner, die diesen Krieg damals verabscheut haben, völlig einig. [...] Mein Eindruck ist, dass das Thema Antisemitismus zur Universalwaffe geworden ist. [...] BDS ist eine politische Meinungsäußerung zur Durchsetzung politischer Forderungen. Die Bundesregierung ist da übers Ziel hinausgeschossen.

Ein Kommentar in der Frankfurter Rundschau bekräftigt dies:[5]

Schon vergessen, dass Städte wie Frankfurt und München den Zugang zu kommunalen Veranstaltungsorten verweigerten – mit Hinweis auf BDS und den Bundestag? Nie davon gehört, dass es massive Einflussversuche auf die Freiheit der Lehre an Universitäten gab, weil zu Seminaren über Nahostpolitik angebliche BDS-Sympathisanten eingeladen waren? Zwei Beispiele für viele.

Schon direkt nach dem Bundestagsbeschluss, den BDS als antisemitisch zu kategorisieren, wenn auch offiziell rechtlich unverbindlich, waren es nicht irgendwelche belanglosen Stimmen, die sich gegen diesen Beschluss erhoben. Mehr als dreißig LeiterInnen deutscher Kultureinrichtungen, darunter Goethe Institut, Berliner Festspiele, Stiftung Humboldt Forum, Haus der Kulturen der Welt und die Kulturstiftung des Bundes, schlossen sich zur ,Initiative GG 5.3 Weltoffenheit’ [o] zusammen, um den Diskursraum so offen wie möglich zu halten, weil sonst die Freiheit von Kultur und Wissenschaft bedroht ist.

2020 sollte einer der namhaftesten afrikanischen Politologen, der kamerunische Postkolonialismusforscher Achille Mbembe, die Ruhrtriennale eröffnen. In einem seiner Bücher hatte er in Bezug auf Israel von einer ,Apartheidspolitik’ gegenüber den Palästinensern gesprochen. Der neue Beauftragte der Bundesregierung ,für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus’, Felix Klein, unterstellte ihm ,antisemitische Äußerungen’. Namhafte Intellektuelle forderten daraufhin Innenminister Seehofer in einem offenen Brief auf, Klein zu entlassen. Dies und der Bundestags-BDS-Beschluss insgesamt zeigt, wie schnell sich der Diskurs verengen kann – um in einer schleichenden Weise die Demokratie selbst zu untergraben.[6]

Reaktionäre Stereotypen

Aus einer Art ungeheuren Selbstgerechtigkeit heraus können nun gerade ehemalige Vertreter des Tätervolkes dazu übergehen, andere Kulturen zurechtzuweisen – während gegen den handfesten Antisemitismus auf deutschen Straßen und in deutschen Städten viel zu wenig getan wird, denn Wegschreiben kann man ihn schlecht.

Gewisse Feuilletonisten scheinen sich regelrecht zu freuen, dass der ,GAU’ nun tatsächlich passiert ist – sie suhlen sich geradezu in selbstgerechten Vorwürfen gegen die Künstler, die documenta, deren Leiterin, gegen Claudia Roth und jeden, der jetzt ,unverzüglich seinen Hut zu nehmen hätte’. Wieviel unterschwelliger Hass hier mitschwingt, könnte man auch einmal analysieren. Aber das ist noch nicht alles. Auch nicht die gewaltigsten Verbalisierungen – Nils Minkmar etwa spricht in der ,Süddeutschen’ von ,steuerlich finanziertem Antisemitismus in monströsem Ausmaß’. Kleiner geht es nicht!

Sondern bei manchen dieser Kommentatoren bricht sich unverhohlen ein eigener Rassismus Bahn, der sicherlich sofort bestritten werden würde, was aber nur die eigene Blindheit zeigt. Der besagte Minkmar etwa schreibt über die Künstler aus Indonesien – und man beachte den ganzen Duktus:[7]

Denen, so die Botschaft der Eröffnungsreden, gehe es eben um Konzepte des Zusammenlebens, um Kunst als kollektiven Prozess und Fragen der globalen Ungleichheit – und eben nicht um die Fragen, die die Bundesrepublik oder Europa bewegen. Es war ein zunächst ganz sympathisch anmutender Ansatz, der allerdings Risiken barg, denn bei aller Öffnung zur Welt bleiben unsere Sorgen ja brisant, sind unsere Konflikte, geschweige denn unsere Verbrechen ja nicht aufgehoben, als sei Kassel für die Dauer der Documenta etwa eine indonesische Insel unter Palmen. Das wurde nicht bedacht, und nun sehen wir statt eines Festes des guten Wetters mit fröhlichen Menschen einen Skandal ungeheuerlichen Ausmaßes: die Förderung von drastischem Antisemitismus mit öffentlichen Mitteln.

Schon allein das erste Wort: ,Denen’. Bereits das ist eine Abwertung, die, würde sie sich zeichnerisch umsetzen, mühelos in auch physiognomischen Stereotypen münden könnte. Und dann die weiteren Sätze – wie entlarvend! Die Bundesrepublik oder Europa bewegen also nicht Fragen der globalen Ungleichheit! Was denn dann? Und dann der nächste Satz: ,Es war ein zunächst ganz sympathisch anmutender Ansatz...’ Wie überheblich-paternalistisch will man sich denn noch gerieren?! Dann geht es wieder um ,unsere’ Sorgen, die, wie Minkmar richtig sagt, unsere Verbrechen waren – die Deutschen waren die Nazis! Das gerade nimmt ihnen das Recht, jetzt allen anderen Völkern die Welt zu erklären, erst recht nicht von oben herab die Lage gerade in Deutschland. Demütig müsste man sein, wenn man darauf hinweist, wie sehr jeder nur leise antijüdische Anklang hierzulande eine offene Wunde ist.

Minkmar aber fährt wie die Selbstherrlichkeit in Person fort: ,als sei Kassel ... etwa eine indonesische Insel unter Palmen.’ Das Stereotyp setzt sich fort mit seinem unsäglichen Gerede ,eines Festes des guten Wetters mit fröhlichen Menschen’. Vielleicht hätte er sich das Banner einmal wirklich anschauen sollen. Offenbar hat er völlig übersehen, dass auch die Indonesier eine grauenvolle Geschichte und tiefe Traumen hinter sich haben! Das aber ist koloniales Bewusstsein in Reinform. Für Minkmar sind ,die’ einfach nur ,Palminsel-Bewohner’.

Und WELT-Chefredakteur Poschardt? Er nannte die documenta eine ,antikapitalistische Folklore’ und eine ,niedliche Völkerschau des Globalen Südens’.[8] Völkerschauen – das waren früher die Zurschaustellungen kolonialisierter Menschen in einer Art Menschenzoo. Und was die Künstler an Visionen für ein künftiges Zusammenleben mitbringen, das ist für Poschardt ,Folklore’, nicht ernst zu nehmen, denn diese Menschen haben sozusagen noch überhaupt nicht unseren Stand erreicht, sie sind noch kindlich-naiv...

Wahrhaftigkeit statt Nabelschau

Anstatt in großer Selbstherrlichkeit die ,deutsche Schuld’ zu einem ,Sündenstolz’ zu machen, wie es der Philosoph Hermann Lübbe einmal kritisierte,[6] würde gerade das einzigartige Verbrechen des Holocaust den Deutschen eine noch viel größere Verantwortung auferlegen, als nur den Superpolizisten zu spielen, was Spuren von Antisemitismus angeht. Demut statt Selbstgerechtigkeit, schrieb ich.

Die Welt besteht nicht nur aus der deutschen Schuld – und mehr noch: die deutsche Schuld hat nach 1945 nicht aufgehört. Man sollte endlich einmal die Augen für die volle Wirklichkeit öffnen. Millionen Juden waren erst zwei Jahrzehnte lang ermordet, da geschahen in Indonesien im Zuge der Machtergreifung des Diktators Suharto[9] landesweite Massenmorde an bis zu drei Millionen Menschen, sobald sie nur verdächtigt wurden, Beziehungen zum Kommunismus zu haben. Und was taten der deutsche,[10] der israelische,[11] der amerikanische[12] und britische Geheimdienst? Sie unterstützten das Suharto-Regime – genau wissend, was da geschah. Und Kanzler Kohl war bis zu Suhartos Rücktritt 1998 diesem freundschaftlich verbunden.[13]

Und immer und immer kann man behaupten, ja, das war die Vergangenheit. Die sechziger, die siebziger, die achtziger, die neunziger Jahre... Aber es hört ja nicht auf! Im Gegenteil. Die Heuchelei geht immer weiter. Ein Artikel in derselben Ausgabe der ,Süddeutschen Zeitung’, in der gleich vielfach der ,documenta-Skandal’ thematisiert wird, bringt die geballte Verlogenheit auf den Punkt, nicht einmal global, sondern nur in Bezug auf Afrika:[14]

In der Realität ist Europa oft weit davon entfernt, ein demokratisches Afrika zu unterstützen. Es trifft sich vor allem mit der Elite, egal wie korrupt sie ist. „Freunde zu Besuch“, twitterte der Regionalbeauftragte Afrika des Auswärtigen Amtes neulich, als er eine Delegation aus dem furchtbar regierten Äquatorialguinea empfing. Müsste nicht die Opposition des Landes der wahre Freund sein? Angela Merkel empfängt in Berlin den durch plumpe Wahlfälschung an die Macht gekommenen Präsidenten Félix Tshisekedi und lässt sich auch noch lächelnd mit ihm fotografieren. Es sind Bilder, die vielen Kongolesen im Gedächtnis bleiben, die sie daran erinnern, dass es oft nur Geschwätz ist, wenn der Westen von Demokratie redet. Sie erleben es so: Wenn in Uganda der beliebte Oppositionspolitiker Bobi Wine zusammengeknüppelt wird, schweigt die europäische Politik meist; ebenso, wenn in Äthiopien massenhaft Journalisten verhaftet werden. Stattdessen fließt die Entwicklungshilfe an korrupte Regierungen, die versprechen, alles Mögliche zu tun, damit keine Flüchtlinge nach Deutschland kommen [...].

China, so der Artikel weiter, sei in den Augen der Afrikaner zumindest ehrlich. Die Chinesen wollten zwar nur die Rohstoffe, lassen aber zumindest Bahnen und Straßen zurück, selbst wenn auch diese nur auf Pump. Und Russland verspreche ebenfalls nichts, außer ,anders zu sein als Frankreich’. Das aber reiche oft schon – ,weil viele nichts mehr erwarten von Europa’. Ist das nicht bis ins Tiefste erschütternd? Ein Europa, das nur da investiert, wo es darum geht, die Grenzen zu schließen und Afrikaner an der Flucht aus der Ausweglosigkeit zu hindern?

Die wirkliche globale Lage

Vor dem Hintergrund der Wirklichkeit ist es für die meisten Menschen weltweit, wenn man ihnen mit ,Antisemitismus’ käme – mit einer kleinen Figur in einem 9 x 12 Meter großen Bild, das jetzt in Deutschland über Tage und vielleicht Wochen die Spalten der Zeitungen füllen wird –, nicht einmal mehr lachhaft, es ist ein Wahnwitz.

Denn ein afrikanisches, ein asiatisches, ein südamerikanisches Leben ist dem globalen Norden, ist Europa, ist Deutschland nahezu nichts wert. Es ist, wie wenn der berühmte ,Sack Reis in China umfällt’, um ein ebenfalls rassistisches Bild zu bemühen, das aber die Realität abbildet!

Wir wissen, dass in Amazonien Todesschwadrone ihr Unwesen treiben. Dass in diversesten Ländern die Korruption blüht. Dass Diktaturen und ,Failed States’ jede Entwicklung unmöglich machen. Und wir ziehen uns bequem auf die Haltung zurück, das sei ,nicht unser Problem’. Es ist aber lückenlos bekannt, wie gravierend der Kolonialismus in all diese Länder eingegriffen hat. Wie sehr eine falsche, ideologische und sogar egoistische Politik des Nordens den Süden bereits in den siebziger und achtziger Jahren in tiefe Schuldenkrisen gestoßen hat – wo dieser sich sehr oft noch immer befindet.

Wie ,Entwicklungspolitik’ fast immer auch eigenen Interessen diente – und ohnehin immer nur einen Bruchteil der Militärbudgets ausmachte, mit denen man zum Beispiel einen Staat gegen einen anderen bewaffnete (und nicht selten auch umgekehrt). Wie eine gigantische EU-Überproduktion lokale Märkte regelrecht zertrümmerte. Und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Es gibt einen Holocaust des Nordens gegenüber dem Süden – und dieser ist vom Norden so perfektioniert worden, dass er ihn nicht einmal mehr wahrnehmen muss, weil ja alles so schön ,schuldlos’ abläuft...

Die Schuld des Nordens ist untilgbar – und das ist für viele nur deshalb kein Problem, weil sie sie nie wirklich anerkannt haben und dies auch weiterhin nicht tun werden. Würde man es, so müsste sich die Welt komplett ändern, radikal, bis an die Wurzel gehend. Aber stattdessen wird man die Geopolitik weiterführen. Mit Diktatoren zusammenarbeiten, wo es den eigenen Interessen dient. Und es kann gar nichts Besseres passieren, als dass es eine ärmere Hälfte der Welt gibt, die für immer der preiswerte Rohstofflieferant bleibt. Denn nur so funktioniert das Konzept des ,Nordens’. Nur dann geht es auf. Es muss die Verlierer geben. Sonst könnten wir den gigantischen Wohlstand gar nicht halten.

Und das – das ist Rassismus pur. Täglich. In jedem Moment. Es ist der Boden, auf dem wir stehen. Es ist die Heuchelei, die uns schon gar nicht mehr auffällt. Weil wir sie sowieso nie sehen wollten.

Indonesische Visionen

Die Indonesier haben nicht vergessen, wer den über drei Jahrzehnte herrschenden Diktator Suharto unterstützt hat. Trotzdem sind sie nach Kassel gekommen. Voller Positivität. Mit einer mitreißenden Herzlichkeit. Mit einer tiefen Menschlichkeit. Sie haben alle Hierarchien abgelehnt – haben die Begegnung mit den Kasselern gesucht, haben die vorhandenen Mittel ganz offen mit allen geteilt, haben die Künstlerliste in einem Straßenmagazin veröffentlicht.

Aber was tut man? Man sieht bei 1700 Künstlern und Kollektiven auf einem einhundert Quadratmeter großen Wimmelbild eine Figur, die unglücklicherweise Schläfenlocken hat – und schon explodiert alles. Und Sascha Lobo im ,Spiegel’ titelt sogar: ,Willkommen auf der Antisemita 15’ [o]. Damit hat er die gesamte documenta zu einem hässlichsten Stereotyp gerinnen lassen.

Wir sind so selbstgerecht, dass wir lieber ein Haar in der Suppe finden, als uns auf einen einzigen neuen Schritt einzulassen. Es ist wie eine grandiose Erlösung, die documenta jetzt als eine bloße Völkerschau und Indonesien als bloße Palminsel abhaken zu können. ,Die Palminsel mit den Antisemiten’. Das – das genau ist das Problem des Nordens. Hier tritt es so offen und so hässlich auf, dass es sich nicht mehr verstecken kann. Die documenta mag durch dieses Riesenbild jetzt unter anderem auch eine ,documenta der Schande’ geworden sein. Aber das ist nichts gegen die ungeheure Schande, die der Norden Tag für Tag ist, voll bewusst und in stoischer Selbstherrlichkeit immer wieder neu alles leugnend.

Und die Gäste aus Indonesien und aller Welt kamen trotzdem. Kamen trotzdem bis hierher, in den Norden – und kamen mit offenen Händen. Und was tun wir?

Was diese Gäste aus aller Welt tun, ist, den Blick – auch unseren – auf das Leben zu richten. Kunst war immer der Bereich insbesondere intellektuellen Konsums, gerade im Norden. Einer, der das am meisten versucht hat, aufzubrechen, war Beuys. Die legendäre documenta 5 aus dem Jahr 1972 – wo Beuys radikal die Menschen mit einbezogen hat, in Gespräche, in Diskussionen, in die absolut zukunftsoffene Frage: Wie wollen wir leben? Was ist eigentlich menschlich? Wann werden uns diese Fragen wichtig? Wann hören wir auf, heuchlerische Mauern hochzuziehen, uns hinter Sachzwängen zu verschanzen und die Verhältnisse als gegeben hinzunehmen?

Und die gleichen Fragen, nur auf wieder eigene Weisen, haben die Menschen aus dem globalen Süden – die mit der documenta einen Aufbruch in eine andere Zukunft zumindest als möglich zeigen wollen. Erlebbar machen wollen. Jenseits jedes intellektuellen Kunstgenusses, der am liebsten alles beim Alten lässt. Und Kanzler Scholz ,verzichtet’ jetzt sogar auf den Besuch der documenta [o]. Eskalation auf allen Ebenen.

Das Mädchen

Was hat dies alles nun mit dem Mädchen zu tun? Unendlich viel. Mädchen sind die wehrlosesten Wesen dieser Erde. Ob wir nun an die Genitalverstümmelung afrikanischer Mädchen denken (und zugleich daran, dass Kolonialismus und Missionierung die Rolle der Frau oft geschwächt haben) oder die Situation von Mädchen und Frauen bei den Taliban (die von den USA jahrelang unterstützt wurden) oder unendlich vieles andere. Schon Mädchen müssen aufgrund von Armut etwa in Indonesien als Hausangestellte arbeiten, [o] leben auf Müllkippen,[o] werden sexuell versklavt und anderes mehr.

Und jedes Mal können wir die Schuld von uns abwälzen. Denn wir sind nicht die USA. Oder wir sind nicht die Taliban. Oder wir versklaven niemanden. Oder, oder, oder... Und mit demselben Intellekt, der uns jeden Tag neu reinwäscht, können wir auf einem Wimmelbild eine Figur entdecken, die einem Antisemitismus entspricht – und uns herrlich erregen, als die obersten Hüter aller Moral im Universum. Können uns herrlich aufregen über die ,Palminsel-Bewohner’ mit ihrer ,antikapitalistischen Folklore’, können endlich, endlich Nazi-Vergleiche anstellen, die sonst ja immer verboten sind. Und können nach dem ganzen anstrengenden Echauffement uns dann endlich, endlich wieder zurücklehnen in dem Bewusstsein, alles nur Menschenmögliche dafür getan zu haben, dass sich das Grauen nie wiederholen wird. Und die documenta? Die hat ohnehin nie wirklich interessiert...

Und wunderbar können wir wieder wegsehen – wie schon unsere Urgroßväter weggesehen haben, als die Juden abtransportiert wurden. Jetzt wird ja niemand mehr abtransportiert – erst recht nicht bei uns. Und was geht uns das Mädchen auf der Müllkippe an?

Aber das Mädchen steht da, mit großen Augen. Es entlässt uns nicht. Es steht da mit großen Augen – solange, bis wir das intellektuelle Denken verlassen und das Fühlen beginnt... Und da erst beginnt die Wahrheit. Da beginnt sie.

Und dann kann das Mädchen das Herz noch etwas lehren. Es ist eine tiefe, schlichte, verletzliche Wahrheit. Und sie lautet: Rechthaben hat noch nie jemandem geholfen. Rechthaben macht oft blind. Auch hier schaut das Mädchen mit großen Augen, unschuldigen Augen. Und wer in seiner Selbstgerechtigkeit noch nicht versunken ist, hört die Botschaft – weil er sie fühlt. Auch diesmal...

Und das Mädchen fragt gleichsam: Wie kann sich jemals etwas ändern, wenn ihr nicht beginnt, einander zuzuhören? Einander euren tiefsten Schmerz zu erzählen? Und auch den des Anderen zu spüren. Fangt an... Noch heute... Jetzt... Fangt jetzt an. Es ehrlich zu meinen. Bis in die tiefsten Tiefen eurer Herzen hinein. Meint es ehrlich!

Das Mädchen ist nicht nur das wehrloseste Wesen dieser Erde, sondern auch das aufrichtigste. Das Mädchen ist am wenigsten nachtragend, eigentlich überhaupt nicht, weil es fortwährend auf das Gute gerichtet ist – auf die Zukunft. Mit einer heiligen Sehnsucht ohnegleichen. Und mit großen Augen sieht es uns an, fragend ... wann wir diese verlernt haben. Und wie wir diesen Zustand ertragen können...

Jeder macht einmal Fehler. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, wie wir aufhören können, die Fehler zu einer Normalität werden zu lassen, zu einem Dauerzustand. Wann lernen wir, unsere Nächsten so zu lieben wie uns selbst? Und wann lernen wir, zu spüren, dass unsere jetzige Lebensweise damit unvereinbar ist? Weil wir auch unser Innerstes damit jeden Tag neu vergewaltigen? Und dies nur deshalb nicht sehen, weil wir lieber den Splitter im Auge des Anderen suchen... Im Auge des Mädchens aber ist kein Splitter. Und es blickt uns an. Traurig. Bestürzt. Mit einer zartesten Beharrlichkeit...
 

Nachträge vom 23.6.2022


Mittlerweile hat der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, darauf hingewiesen, dass im Rahmen des umfangreichen documenta-Programms auch – offenbar weitgehend unkommentiert – restaurierte Filme aus den 70er Jahren zu sehen sein sollen, die ganz real pro-palästinensische Propagandafilme sind, entstanden im Umfeld des früheren japanischen Linksterroristen und Regisseurs Masao Adachi [o], Mitglied der ,Japanischen Roten Armee’ [o o], bei deren Selbstmordanschlag 1972 auf dem Flughafen in Tel Aviv 26 Menschen starben [o]. Damit gerät die documenta endgültig in eine absolute Schieflage und erweist sich der kuratorische Kontrollverlust als verheerend. Die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann hat bereits eine systematische Untersuchung auf weitere kritische Werke angekündigt [o]. Der entstandene Schaden aber ist jetzt längst erschütternd, unabsehbar und regelrecht tragisch. Denn die Vorkommnisse sind so belastet und werden zusammen mit den umfassenden Reaktionen darauf das Klima so vergiften, dass die tief wesentlichen Fragen gerade unterdrückt werden – und man kann sich einmal fragen, welche Kreise sich gerade darüber freuen werden...

Ein Mitglied von Taring Padi, dessen Banner aus dem Jahr 2002 jetzt wieder abgehängt wurde, sagte inzwischen, man sei naiv gewesen. Man habe die eine Figur nicht als orthodoxen Juden erkannt und wisse auch nicht mehr, wer die Szenen vor zwanzig Jahren gemalt habe [o]. Sabine Schormann erläuterte den geschehenen Prozess, gemeinsam mit der Bildungsstätte Anne Frank sind nun Diskussionen und Gespräche geplant [o]. Und am Abend entschuldigte sich Ruangrupa vollumfänglich: ,Wie wir jetzt vollständig verstehen, knüpft diese Bildsprache nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in beispiellosem Ausmaß angegriffen und ermordet wurden. Wir nutzen diese Gelegenheit, um uns über die grausame Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus weiterzubilden und sind schockiert, dass diese Figur es in das fragliche Werk geschafft hat.’ [o]. Der volle Text geht noch wesentlich weiter [o]. Dies lässt doch wieder tief hoffen, dass es zu echten Durchbrüchen der Begegnung kommen wird – und diese documenta das werden kann, was sie werden wollte: eine visionäre Botschaft von Menschlichkeit, Freundschaft und jenen Wegen, die diesen Planeten retten können.

Quellen

[1] Philipp Peyman Engel: documenta der Schande. Jüdische Allgemeine, 22.6.2022.
[2] So begründen Kunstkollektiv und Documenta die Verhüllung. Spiegel.de, 21.6.2022.
[3] Maria Fiedler, Sebastian Leber & Nicola Kuhn: Vorwurf: Antisemitismus. Tagesspiegel, 22.6.2022.
[4] Historiker Wolfgang Benz über den Documenta-Skandal. Tagesspiegel, 22.6.2022.
[5] Bascha Mika: Für Weltoffenheit. www.fr.de, 11.12.2020.
[6] Ralf Hanselle: Mehr Gespräch wagen. Cicero, 11.12.2020.
[7] Nils Minkmar: Rocky Horror Picture Show. Süddeutsche Zeitung, 22.06.2022.
[8] Ulf Poschardt: Die Documenta hat sich sehenden Auges mit vulgärem Antisemitismus gemein gemacht. WELT, 20.6.2022.
[9] Jess Melvin: There’s now proof that Soeharto orchestrated the 1965 killings. University of Melbourne, 26.6.2018.
[10] Jonas Mueller-Töwe: Der Genozid und Deutschlands heimliche Hilfe. t-online, 13.7.2020.
[11] Eitay Mack: How Israel helped whitewash Indonesia’s anti-leftist massacres. +972 Magazine, 9.9.2019.
[12] Stephen Wright: Files reveal details of US support for Indonesian massacre. AP News, 18.10.2017.
[13] Rainer Werning: Unrühmliche Connections. südostasien 4/2015, 33-35.
[14] Bernd Dörries: Warum viele Afrikaner Putin positiver sehen. Süddeutsche Zeitung, 22.6.2022.