2022
Das Problem der männlichen Engel
Vom Patriarchat bisheriger Imaginationen.
Inhalt
Das Alte und das Neue
Christusgeist ohne Christentum
Wie männlich ist die göttliche Welt?
Seele und Geist
Das entscheidende Weibliche – absolut degradiert
Ahriman, Michael und Demiurg
Zeus, Prometheus, Vatergott...?
Ungefühl und Unfreiheit
Freiheit – aber welche?
Die männliche Freiheit
Die Freiheit des Mädchens
Das Alte und das Neue
Man hat das Gefühl, dass die Welt immer weiter auseinanderdriftet. Anonymität und Pragmatismus nehmen zu, kapitalistische Machtkonzentration, Geopolitik und nackte Interessenverfolgung setzen sich fort. Eine die Menschheit einende Vision fehlt nicht nur – sie scheint weiter entfernt als je zuvor.
Es gäbe genügend Einigendes – die Bedrohung des Planeten durch Klimakatastrophe, Vernichtung des Regenwaldes, Artensterben, Wassermangel, weltweite Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Machtpolitik auf allen Seiten... Ein absoluter Paradigmenwechsel ist regelrecht immer notwendiger. Er wird aber natürlich nicht von selbst kommen – und die Mächte des Alten werden mit extremer Zähigkeit an ihrem Paradigma festhalten.
Das Neue wird an vielen Stellen sichtbar – überall da, wo es um wahrhaft Gemeinsames geht. Auf der aktuellen documenta vertritt das organisierende indonesische Kollektiv Ruangrupa dieses neue Paradigma, das zugleich tief in der indonesischen Kultur verankert ist: Teilen, Gemeinnützigkeit, Empathie.
All dies hat zutiefst mit dem urchristlichen Impuls zu tun, der allerdings nicht eine tiefe Weisheit noch sehr harmonischer Kulturen ist, sondern etwas Spirituelles. Der Mensch erhebt sich hier zu heiligen Erkenntnissen seines eigenen Wesens. Was kulturell eine Harmonie ermöglicht und auch über Jahrtausende hinweg für ein wirkliches Überleben schlicht notwendig war, ist bereits etwas sehr, sehr Tiefes. Ein spirituelles Erkennen tiefster Art, das zu tun hat mit dem Wirken eines Wesens, das das Wesen des Menschen selbst hütet, geht jedoch noch wesentlich weiter. Es eröffnet praktisch eine völlig neue Zukunft, letztlich den Beginn eines neuen Seinszustandes.
Das schnelle Reden davon, wie es heute in vielen Kreisen üblich geworden ist (,neues Bewusstsein’, ,Wassermannzeitalter’ etc. etc.), rührt nicht einmal ansatzweise an den Kern. Denn natürlich tun sich hier schnell die alten Konsumattitüden auf, narzisstische Regungen und anderes. Nicht der wird das Neue erreichen, der sich schon sehr ,neu’ dünkt – vielmehr hat das Christuswesen klar ausgesprochen, wie sehr der Geist der Demut (,der Kleinste unter euch’) untrennbar ist von dem Geist der Liebe.
Christusgeist ohne Christentum
Es spricht vieles dafür, dass das Neue ganz losgelöst vom Christentum kommen wird – dass sich also der Christusgeist gerade in jenen Menschen zunehmend finden wird, die mit dem ,Christentum’ keinerlei wirkliche Verbindung haben.
Das konfessionelle Christentum ist derzeit am Aussterben. Immer weniger Menschen fühlen sich einer Kirche zugehörig – und die unglaublich überwiegende Zahl junger Menschen erkennt auch gar keinen Sinn mehr darin. Gerade in jungen Menschen wächst dagegen die Sorge um die Umwelt, um den Planeten, um die eine Menschheit.
Dass das Christentum in seinen konfessionellen Erscheinungsformen hier in den Augen von jungen Menschen keinerlei Anknüpfungspunkte bietet, liegt zum einen in den erstarrten Formen, deren Bezug zu der realen Zukunft der Menschheit völlig unklar bleibt. Dies natürlich auch, weil keinerlei wirkliches Verständnis des Christuswesens mehr vorhanden sind, schon in den großen Kirchen nicht. Und wozu soll man den Zusammenhang mit einem Wesen suchen, das einem ohnehin niemand wahrhaft näherbringen kann? Zum anderen hat sich das Christentum natürlich auch ganz grundsätzlich diskreditiert – beginnend schon mit Staatsreligion, Verfolgung Andersdenkender, mit Kreuzzügen, Hexenverbrennung, Inquisition und nicht zuletzt endend im Frauenbild endloser Jahrhunderte.
Was soll einem eine Religion schon bieten, die latent oder auch ganz offen auf der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts fußt? Beginnend schon mit dem Alten Testament und der Frau als bloßes ,Rippen-Wesen’ und Ursache des ,Sündenfalls’, dann aber auch bereits im frühesten Christentum der Rolle der Frau als der, die zu schweigen hatte – und sogar in den vier Evangelien selbst: Warum berief der Mensch gewordene Gott nur Jünger? Warum rüttelte er nicht wirklich an den Grundfesten der Ungleichheit? Warum war es ein Mann, in dem sich das Gotteswesen inkarnierte? Warum sprach Christus dann vom ,Vater’ – und gab sich so als der ,Sohn’ zu erkennen?
Und falls die göttliche Welt umfassend vorgestellt wird – warum sind auch sämtliche Engel stets männlich und auch so dargestellt worden?
Wie männlich ist die göttliche Welt?
Gerade wer das Spirituelle, über das Physisch-Sinnliche Hinausgehende als absolut essenziell erlebt, ist hiermit vor quälende Fragen gestellt.
Auch die Argumentation, dass doch die geistige Welt jenseits der Geschlechter sei und auch so gedacht werden müsse, erscheint dann am Ende als allzu bequeme Ausflucht. Denn wir haben die alles erdrückende Tradition männlicher Engeldarstellungen über zwei Jahrtausende. Wir haben den Begriff des Vatergottes und des Sohnesgottes – und wir haben die eigene (überlieferte) Aussage des Christus Jesus, also des Menschensohnes und Gotteswesens in einem.
Können wir vieles noch auf das Patriarchat schieben, so ist dies bei den eigenen Aussagen des Gotteswesens nicht möglich. Dann bleibt nur noch anzunehmen, dass diese Worte entweder an die männlich dominierte Zeit angepasst waren, in der sie gesprochen werden mussten – oder aber, dass die göttlich-geistige Welt selbst in einer Weise konstituiert ist, die ein Sprechen von dem ,Vater’ und dann auch ,Sohn’ rechtfertigt. Möglicherweise sogar eine eher ,männliche’ Seinsweise von Engeln überhaupt.
Die erste Möglichkeit würde bedeuten, dass das Christuswesen, obwohl es sich bei der Jordantaufe für drei Jahre in einem Mann (Jesus) inkarnierte, radikal jenseits der Geschlechtertrennung zu denken wäre. Dies aber würde größte Anstrengungen des Denkens erfordern, selbst jeder Anklang an einen Artikel (der) müsste wegfallen, jede Erinnerung an Jahrhunderte auch der Darstellung des (!) Auferstandenen. Jeder Anklang an ,Vatergott’ und ,Sohnesgott’. Der Gottesbegriff selbst müsste grundlegend geändert werden – im Grunde bräuchte es eine vollkommen neue Sprache, um ein Wort zu schaffen, das zwar ,Gottheit’ meint, aber nicht mehr ,Gott’, weil auch dies noch radikal einseitig wäre.
Die andere Möglichkeit wäre, dass die göttlich-geistige Welt selbst in ihrem Wesen etwas beinhaltet, was sie im Verhältnis zur Schöpfung und insbesondere zum Menschen ,eher männlich’ machen würde. Diese Möglichkeit soll im Folgenden weiter untersucht werden – wie sie zu verstehen wäre und ob es sich letztendlich als eine reale Möglichkeit erweist oder nicht.
Seele und Geist
Die göttliche Welt zeichnet sich dadurch aus, dass sie bewusstseinsmäßig unendlich über dem Menschen steht. Wenn wir so etwas wie den Schöpfungsgedanken auch nur ansatzweise ernst nehmen, dann ist die Weisheit dieser Schöpfung immer wieder unfassbar. Man denke zum Beispiel einmal an das Verhältnis zwischen Erde und Sonne. Wäre es auch nur um ein Winziges anders, so hätte das Leben auf Erden niemals entstehen können. Ebenso wenig nicht, wenn die Anomalie des Wassers nicht existieren würde. Schon die kleinste Zelle ist ein Wunderwerk – um wieviel mehr die höheren Organismen! Dann das ungeheure Netz von Anpassungen und Abhängigkeiten, das Wunder der Ökologie eines großen Ganzen.
Und wenn ein Engel das ganze Schicksal eines Menschen im Bewusstsein haben und hüten soll, kann man sich erneut vorstellen, wie unendlich höher dieses Bewusstsein sein muss – und der Engel ist in der schon seit Jahrhunderten bekannten Stufe der Hierarchien oder Chöre ja nur die niedrigste Stufe.
Dem gegenüber steht nun der Mensch. Ein Wesen, das zwar auch Bewusstsein hat, vor allem aber zunächst Seele – und das Mysterium dessen, was wir ,Geist’ nennen, überhaupt erst entwickeln soll. Dies geschieht auch durch eine Hingabe an die geistige Welt, wodurch der Mensch von seinem zunächst gegebenen niederen Wesen loskommt und sich in die Sphäre des Geistes erhebt.
Diese Hingabe ist aber zumindest traditionell als eher ,weiblich’ konnotiert. In dieser Hinsicht wäre die sich zum Geist erhebende Seele weiblich, die geistige Welt männlich. Andere Vorstellungen ergänzten dies dadurch, dass die geistige Welt dann auch als ,befruchtend’, ja ,zeugend’ gedacht wurde, während die Seele die ,Gnade’, die ,Inspirationen’ und die zunehmende Vergeistigung ,empfing’.
Das entscheidende Weibliche – absolut degradiert
Aber diese Vergleiche sind schief, wenn sie wieder das Männliche und Weibliche nahelegen sollen. Denn sehr wohl empfängt die Frau vor der Entstehung eines Kindes die männlichen Samenzellen, aber der eigentliche Same ist die weibliche Eizelle. Sie kann nicht ohne die männliche Zelle und ihre Erbsubstanz wachsen – aber das ist auch alles. Sobald die winzige männliche Zelle mit ihr verschmolzen ist, geschieht das ganze Wunder, ausgehend von der weiblichen Zelle und ausgehend von dem ganzen weiblichen Organismus. Die männliche Zelle hat hier nichts ,gezeugt’, sie war einfach nur mit notwendig, wie ein winziger Schlüssel. Das ist aber schon alles.
Wie schief die traditionellen Bilder vom ,zeugenden Mann’ sind, kann man schon daran erleben, dass im Pflanzenreich, wo der winzige Pollenstaub auf einem weiblichen Fruchtknoten landet, wodurch dann die weitere Entwicklung möglich wird, auch niemand von ,Zeugung’ sprechen würde. Der männliche Blütenstaub ist einfach notwendig gewesen – mehr nicht. Es war einzig und allein männliche Selbstherrlichkeit und Unwissenheit, letztlich aber Tyrannei, die, von Aristoteles an, das Männliche als das Schöpferisch-Zeugende behauptete, das Weibliche als bloße Materie, reine Passivität, in die hinein angeblich gezeugt werde...
Dass beim Geschlechtsakt das Weibliche allein schon aufgrund der innerlich liegenden weiblichen Organe die passive(re) Rolle hatte, mag diesen Irrtum verständlich machen – zumal die Fortpflanzungsprozesse zunächst absolut unbekannt waren und von Zellen nicht das Geringste gewusst wurde –, im Rückblick erweist es sich gleichwohl als eine grenzenlose Hybris des Männlichen und absolute Degradierung des Weiblichen. Aristoteles nannte das Weibliche wortwörtlich ein gleichsam verkrüppeltes Männliches. Das Weibliche galt also von Anfang an als eine Fehlentwicklung – und ihm wurde dann die Rolle der passiven bloßen Materie zugesprochen, während das Männliche das Schöpferische, das Zeugende, das Geistige, das eigentlich Relevante repräsentierte.
Ahriman, Michael und Demiurg
Die Seele mag also vom Geist befruchtet werden – aber dies sagt nichts darüber aus, dass die Seele eher weiblich, der Geist eher männlich wäre. Schon die Artikel sind hier irreführend. Genauso gut oder sogar noch eher könnte man die geistige Welt gewissermaßen weiblich denken – aus einer Überfülle heraus weisheitsvoll spendend, wie die weibliche Brust bei einem Säugling, dem die Seele eher zu vergleichen wäre. Die Seele also als der Säugling – und die geistige Welt als etwas Unerschöpfliches, regelrecht Weibliches.
Dass dieser Gedanke gerade Anthroposophen so ungewohnt erscheint, dass er im Denken geradezu Verkrampfungen auslöst – wie etwas, das man noch niemals geübt hat –, zeigt nur die Dimension des Problems. Und es zeigt, dass das Höhere, Begnadende, Instruierende traditionell schlicht immer wieder männlich gedacht wird – das aber ist tiefstes patriarchales Erbe.
Letztlich liegt hier überhaupt eine zutiefst maskuline Vorstellung der göttlich-geistigen Welt vor. Diese göttlich-geistige Welt wird dann als Welt von Wesen mit souveräner geistiger Überschau vorgestellt, die weisheitsvoll die Geschicke lenken oder vielleicht sogar aus noch höherer Weisheit auf eine Lenkung verzichtet. Dennoch bleibt die geschaffene Welt das Geschöpf dieser geistigen Welt – und wird langsam in die Freiheit entlassen, vielleicht aber auch in die Katastrophe.
Wie aber wird diese geistige Welt mit ihren Wesen dann vorgestellt? Wie wird sie gedacht? Wie werden Engel, Erzengel, Cherubim, Seraphim gedacht? Jenseits des Geschlechts, klar, theoretisch. Aber schon die Art des Agierens ist vielleicht noch immer zutiefst männlich konnotiert. Bei den von der Anthroposophie Rudolf Steiners geschilderten Gegenmächten ist dies erst recht völlig offensichtlich – Luzifer und Ahriman als ihre Repräsentanten sind unglaublich eindeutig ,männlich’. Luzifer repräsentiert den selbstherrlichen Widerspruch, Ahriman im Extrem Kälte, Macht und Gewalt.
Im Grunde müsste die gute geistige Welt, dann um so weiblicher gedacht werden. Aber wie sollen aus einer guten ,weiblichen’ Welt die ,männlichen’ Widersacher hervorgegangen sein? Das geht auch nicht. Also wird auch die gute geistige Welt männlich gedacht – und ist es eben Michael, der in allem (männlich) ernst und absolut (männlich) unbeirrbar-standhaft der Gegenmacht entgegentritt. Zusammen mit den himmlischen Heerscharen – einem weiteren männlich-militärischen Bild.
Nirgendwo bietet diese Welt Raum für etwas Weibliches – es sein denn für Sophia, die weibliche Entsprechung zum ,Heiligen Geist’, der wiederum eher männlich gedacht wird. Diese absolute Unmöglichkeit, in der christlichen (aber auch anthroposophischen) göttlich-geistigen Welt etwas Weibliches zu finden, mag dazu beigetragen haben, dass im Mittelalter Maria einen absoluten Siegszug feierte und als Mensch bis in den höchsten Himmel versetzt wurde. Verständlich sind angesichts dessen aber auch gnostische Gedanken, die die Schöpfung einem niederen Wesen (Demiurg) zuschrieben, weil die Existenz des Bösen und die ,Verbannung’ der Seele in die Materie anders nicht begreiflich schien. Aus der Sicht der jetzt hier entwickelten Gedanken: Weil die Schöpfung überall zu männlich wirkte.
Zeus, Prometheus, Vatergott...?
Vielen Menschen, die in den lebenslang gewohnten Gedanken aufgewachsen sind, ist zunächst fast nicht begreiflich zu machen, was eigentlich gemeint ist. Aber man braucht sich nur einmal zu fragen: Worin würde sich männliche Weisheit und eine wirklich weibliche Weisheit eigentlich unterscheiden?
Für eine weibliche Weisheit in der geistigen Welt haben wir nahezu keinen Begriff, weil die Götterwelt von Anfang an männlich gedacht wurde. Nicht da, wo sie noch von Fruchtbarkeitsgöttinnen belebt war – aber spätestens da, wo männliche Götter jene stürzten und selbst die Herrschaft übernahmen. Nun auch die Herrschaft des Geistes über die Materie, womit praktischerweise die Frau gleich mit unterdrückt war, da sie mit der Materie identifiziert wurde – und womit der unselige Dualismus überhaupt in der Welt war.
Natürlich sollte der Geist im Menschen sich entwickeln. Aber musste er dies in einem krassen Dualismus tun, wie es jene Kirchenväter vorantrieben, die alles Leibliche verteufelten – und damit auch alles Weibliche, weil dieses ja die Begierden ,hervorrief’? In absoluter Blindheit wurde die Frau erneut zur Versucherin erklärt, nicht begreifend, dass es vor allem die männlichen Begierden waren, denen der Mann unterlag – oder gegen die er ankämpfte. Nicht erkennend also, dass es der Mann war, dessen Wesen von Anfang an zerrissen schien – und der darum auch ein zerrissenes Weltbild brauchte.
Dies beginnt schon bei Zeus, diesem selbstherrlichen Vergewaltiger, der tut, was er will und für den die Erde nur Spielwiese zu sein scheint. Es setzt sich fort in Prometheus, diesen klassichen Aufbegehrer, der den Menschen von den Göttern das Feuer stiehlt und den selbst das innere ,prometheische’ Feuer treibt, so zu sein wie Gott. Zerrissenheit, Getriebenheit, männlicher Machbarkeitswahn und männliche Hybris – aber auch männliche Schaffenskraft, männliche Schöpferpotenz, endlose Unzufriedenheit mit dem jeweils Erreichten.
Demgegenüber müssten die Gotteswesen, die ,in sieben Tagen’ die Welt schufen und am siebten Tag sogar ruhten, weil sie sahen, dass ,die Welt sehr gut war’, geradezu weiblich gewesen sein, weil sie eben nicht dieses ewig weiter Getriebene hatten, sondern etwas tief Harmonisches, Friedvolles, in sich Geschlossenes. Die Vorstellung vom Vatergott jedoch, der ,allmächtig’ seine Schöpfung schafft – und dann darauf wartet, dass diese ihn anbetet und als alleinigen anerkennt ... diese Vorstellung ist schon wieder zutiefst maskulin. Die Schöpfung degradiert auf diese Weise zum ,Statussymbol’ und Gott zu einem anbetungsbedürftigen Narzissten, der schon mal halbe Völkerschaften ausrottet oder auch die ganze Menschheit ertrinken lässt, wenn ihm nicht genügend Beachtung zuteil wird. Der Jahwe-Gott des Alten Testaments jedenfalls ist ein maskuliner, eifernder, gefühlloser Gott ohnegleichen.
Ungefühl und Unfreiheit
Gibt dies vielleicht den Schlüssel? Dass die göttliche Welt gefühllos ist – weil das Geistige nun einmal noch gar kein Gefühl kennt, sondern überhaupt erst die Seele?
Die Seele als die Frucht eines Zusammengehens von Geist und Materie, sodass zum ersten Mal so etwas wie Selbstgefühl entsteht? Aber was wäre dann Luzifers Regung? Dasselbe ins bloß Geistige übertragen? Eine Art geistiges Selbst-sein-Wollen, ohne im eigentlichen Sinne fühlen zu können?
Aber Gott selbst? Kann sogar Gott selbst etwas unmöglich sein, was erst der Mensch kann? Ist hier also der Kosmos als Ganzer in einer Entwicklung – die am Ende sogar der göttlichen Welt etwas schenkt, was sie nicht kannte? Und wie stellt man dies dann vor? Wie eine (männliche) Errungenschaft oder wie die Offenbarung gegenseitigen Bezogenseins aufeinander, eine urweibliche Qualität? Immer wieder kommen wir an den Punkt, uns radikal fragen zu müssen, wie wir eigentlich alles denken.
Aber warum sollte Gott seinen Sohn gesandt haben, wenn er die Welt nicht lieben würde? Wie hätte das Liebes-Wesen, das wir ,Christus’ nennen, sich opfern können, wenn es nicht bis ins Innerste Liebe wäre? Rein ,geistige’ Liebe? Noch immer keinerlei ,Fühlen’?
Aber es gibt überall Brüche. Das Alte und das Neue Testament passen nicht zusammen. Der Jahwe-Gott und Christus sind absolute Widersprüche. Die umfassende anthroposophische Schilderung, dass die Freiheit des Menschen erst durch die Existenz der Gegenmächte möglich wurde, bleibt absolut einseitig, denn sei erklärt nicht, warum diese Gegenmächte derart machtvoll wirken durften (!), dass die Menschheitsgeschichte fast von Anfang an – spätestens vom Beginn des Patriarchats an – von Mord und Totschlag bestimmt war. Wieso also musste die Menschheit, musste insbesondere der Mann so ungeheuer tief fallen? Und wo ist die Freiheit, wenn die Macht der Widersacher derart überwiegt?
Man kann argumentieren, die göttliche Welt habe nicht vorausgesehen, dass die Gegenmächte so stark werden würden. Aber selbst dann hätte sie jederzeit gegensteuern können – etwa die Impulse des Guten ebenfalls stärker in die Herzen senden, auf dass wieder ein Gleichgewicht bestünde und so wirkliche Freiheit möglich würde, nicht nur eine behauptete Freiheit, die die meisten Seelen ungerührt durchs Raster fallen läast, weil sie nie die Möglichkeit hatten, zwischen zwei gleichgewichtigen Wegen zu wählen.
Und was ist das für eine göttliche Welt, die ihre eigene Schöpfung hilflos herumirren lässt, auf völlig falschen Wegen? Es kann nur eine noch immer viel zu männliche göttliche Welt sein – ohne Gefühl. Oder mit schweren Fehlern in ihrer eigenen Schöpfung.
Freiheit – aber welche?
War die ,menschliche Freiheit’ wirklich nicht anders denkbar, als dadurch, dass der Mensch in eine Welt gestoßen wurde, wo er (insbesondere als Mann) der Versuchung der Macht und des Selbstwillens geradezu erliegen musste, während eine klägliche ,Stimme des Gewissens’ das Alibi dafür hergab, dass ja doch die Freiheit bestehen würde?
Können wir uns demgegenüber einmal denken, wie eine weibliche, eine wahrhaft fürsorgliche und liebende geistige Welt gehandelt hätte? Sie hätte ihre Geschöpfe nicht brutal ,in das kalte Wasser gestoßen’, fast nach dem Motto: ,Entweder er ist ein ganzer Mann oder er geht unter’. Sondern sie hätte ihre Geschöpfe innig, liebend begleitet, wie eine Mutter, wie eine große Schwester – und jeden Schritt behütet. Sie hätte das ihr anvertraute Geschöpf nach und nach zärtlich frei werden lassen, aber es nicht in die angebliche ,Freiheit’ gestoßen.
Sie hätte nicht zugelassen, dass sich die Menschheit in Hass und Kriegen, in Irrtum und Fanatismus gegenseitig zerfleischt – sondern hätte das wahre Wesen des Menschen so sehr beschützt, dass ein Abirren zwar auch möglich, aber nicht die überwältigende Realität gewesen wäre. Ist etwa ein Kind ,frei’, das vor die Tür geschickt wird, wo der Autoverkehr nur so rast, nichtsahnend Schritt vor Schritt setzend...?
Wir können uns also sehr wohl eine gewissermaßen mehr ,männliche’ geistige Welt vorstellen – dann stimmt das Phänomen der Freiheit, wie wir sie vorfinden, damit wunderbar überein, aber dann muss man den Gedanken fassen können, dass auch die Schöpfung selbst tiefe Einseitigkeiten und buchstäblich ,männliche’ Mängel haben kann. Mängel, die einer mehr weiblichen göttlichen Welt so niemals unterlaufen wären. Mängel, die mittlerweile in Richtung Katastrophe führen. Weil die Menschheit mit ihrer allzu männlich konzipierten ,Freiheit’ überhaupt nicht zurechtkommt. Weil es eine Freiheit ist, die sich im Prinzip nur Männer ausdenken können. Basierend auf der Illusion des autonomen Individuums.
Und letztendlich dann auf der Realität von Individuen, die zuviel Selbstgefühl und zu wenig Ander-Liebe entwickelt haben. Warum? Weil dieses fatale Ungleichgewicht in der Schöpfung von Anfang an angelegt war. Der Mensch sollte allein zu den Willensregungen des Guten kommen. Das wurde als seine Freiheit ,definiert’. Aber er wurde damit auch alleingelassen. Viel zu sehr. Immer wieder. Trotz des Christus-Ereignisses. Eine weibliche göttliche Welt hätte dies so nie getan. Das herrschende Konzept der Freiheit ist ein männliches. Es hätte demgegenüber auch eine andere Freiheit geben können. Eine viel weiblichere.
Die männliche Freiheit
Denken wir einmal an das Mädchen – urbildlich. Das Mädchen mit dem reinen Herzen. Hat dieses Mädchen etwa keine Freiheit? Es hat sie genauso wie alle anderen – aber seine Liebe zum Guten ist zu stark, zu treu, um davon je abzuweichen. Ist dies etwa keine Freiheit?
Wenn man dies nicht auch Freiheit nennt, zeigt dies nur, wie sehr man dieses Mädchen verkennt. Man nimmt das abstrakte Bewusstsein, das die innige Liebe zum Guten längst verloren hat, als Norm und sagt, das sei Freiheit. So müsse ,Freiheit’ aussehen, wenn sie mit Recht so genannt werden solle. Wie sehr man diesem Mädchen damit die Freiheit abspricht, ist erschütternd. Man hält es regelrecht für einen Zustand, der überwunden werden müsse, um bei dem wahrhaft Menschlichen, bei echter Freiheit anzukommen.
Erst müsse man den ,verlorenen Sohn’ haben, dann könne dieser auch wieder zurückkehren. Auch das ist wieder männliches Denken – ein Denken, wie es für die Leistungsgesellschaft typisch ist. Freiheit als etwas geradezu ,heroisch’ zu Erringendes, in einem dramatischen Entwicklungsprozess, der jederzeit auch scheitern kann. Wir bemerken überhaupt gar nicht mehr (und noch überhaupt nicht), wie sehr wir in ,männlichen’ Gedanken gefangen sind, fortwährend. Gedanken einer männlichen Schöpfung, eines männlichen Freiheitskonzepts und eines männlichen Entwicklungs- und Erlösungsweges. Als wenn es das weibliche Pendant nicht gäbe – und dieses nicht völlig anders aussähe!
Es war doch gerade der Mann, der so tief gefallen war, dass er sich in der Un-Freiheit geradezu häuslich einrichtete. Und nun wird dies gerade als Freiheit definiert? Es war der Mann, der ein Universum der Unfreiheit schuf, indem er alles andere unterdrückte und unterwarf – und nun soll er gerade der Hort sein, an dem die Freiheit erwacht? Welche Vergewaltigung des weiblichen Wesens! Nicht genug, dass der Mann es fortwährend unterdrückte und vergewaltigte – nun tut es auch noch die Definition der Freiheit selbst! Als wäre die Frau in ihrem edleren, friedvolleren Wesen noch überhaupt nicht frei genug! Überall also sehen wir die ungeheuerlichen Ungereimtheiten viel zu unhinterfragter Vorstellungen.
Freiheit sei nur möglich in einer Welt übermächtiger Widersacher – und wer ihnen am meisten verfällt, kann letztlich am freiesten werden, denn je schlimmer desto besser... Welch eine Logik ist dies!? Es ist eine Logik männlichen Leistungsdenkens und männlichen Heroentums. Die höchste Liebe, von der Steiner auch spricht, wird so nimmermehr erreicht. Es ist auf diesem Weg regelrecht aussichtslos.
Die Freiheit des Mädchens
Denken wir demgegenüber an das Mädchen. Ist es etwa nicht frei? Könnte es etwa nicht auch zur ,Pechmarie’ werden, die sich nach ihrer eigenen Lust und Lustlosigkeit richtet? Könnte es dies etwa nicht, wenn es wollte? Aber es will gar nicht! Und das ist seine wunderbare Freiheit – es will gar nicht!
Wie kann man der Pechmarie, die sich von ihren Lüsten bestimmen lässt, die Freiheit zugestehen, der lieblichen Goldmarie aber nicht? In Wirklichkeit ist sie freier als alle anderen, denn sie hat sich wahrhaft entschieden, die anderen aber werden fortwährend von den Widersachern getrieben und beherrscht. Hören sie überhaupt die andere Stimme? Falls sie sie hören, ist sie ihnen gleichgültig. Und das soll Freiheit sein? Frei ist noch die Goldmarie.
Seit Jahrtausenden aber dominierten Männer die Welt. Heute tun sie es weniger – aber das Männliche herrscht nach wie vor. Es herrscht im Trieb, schnell reich zu werden. Es herrscht in der alles dominierenden Kühle und Coolheit. Es herrscht in anonymen Macht- und Druckstrukturen, in Abstraktion und Effizienz, es herrscht in Geopolitik und Einfluss-Gier. Und dieses Männliche hat längst auch mehr und mehr die Frauen erfasst, sogar die Mädchen. Das Mädchen, von dem hier die Rede ist, hat überhaupt keine Chance mehr. Es ist heute im Grunde zum Spottobjekt geworden. Und das soll Freiheit sein?
Inzwischen wird es sogar so dargestellt, als sei ,Frau Holle’ ein patriarchales Indoktrinationsmärchen – und die Goldmarie ein bloßes Wunschobjekt der Männer. Es wird also schon ideologisch die letzte Möglichkeit beseitigt, dass ein Mädchen so sein wollen könnte wie die Goldmarie. Und das soll Freiheit sein?
Und doch hat ein Mädchen die Freiheit, gegen diese unvorstellbaren Widerstände so zu sein – und sich von all dem nicht beeinflussen zu lassen, weil die innere Stimme, das eigene Wesen, stärker ist. Aber nur in diesem einen Mädchen. Während die Welt um es herum weiter den Gegenmächten verfallen bleibt. Und das soll Freiheit sein?
Hätte dieses Mädchen als Schöpferin, als Mädchengöttin, überlegen dürfen, wie es die Menschen zur Freiheit kommen lassen könnte. Es hätte einen völlig anderen Weg eingeschlagen. Und es hätte die von ihm in die Existenz hineingeliebten Geschöpfe viel inniger, treuer und anmutiger begleitet. Die ganze Schöpfung wäre eine völlig andere.