19.02.2023

Die Qualität des Lebens

Rede von Bundesminister Dr. Erhard Eppler [für wirtschaftliche Zusammenarbeit] auf der 4. Internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft Metall am 11. April 1972 in Oberhausen (Ruhr) | Quelle.


Vorbemerkung: Diese Rede von Erhard Eppler vor über einem halben Jahrhundert (!) hat an Aktualität nicht das Geringste eingebüßt. Im Gegenteil. Man kann sich an ihr zutiefst bewusst werden, was seitdem erreicht wurde und was noch immer versäumt wird, während reaktionäre Partikularinteressen noch immer eine ungeheure Macht haben und den Diskurs weiter zu dominieren, einzuhegen und zu lenken versuchen. Der entscheidende Eindruck ist, dass nach dem wahrhaft und radikal Menschlichen nirgendwo ernsthaft und aufrichtig gefragt wird. Viel zu sehr ist die ,Qualität des Lebens’ nach wie vor Hohlformel bloßer Sonntagsreden. Das menschliche Zusammenleben grundsätzlich neu zu denken, geschieht nicht nur noch immer nicht – es scheint immer weniger zu geschehen. Und dies ist so, weil man immer weniger den politischen Mut hat, Alternativen zum kapitalistischen Dogma wirklich zu denken.

I. Von der Quantität zur Qualität

Wir sprechen heute von Qualität des Lebens [...], weil wir an der Quantität irre geworden sind. [...]

[...] Sicher scheint nur, daß dasselbe Wirtschaftswachstum, das unser Leben in den letzten 100 Jahren in vielem angenehmer gemacht hat, es schließlich auch unerträglich machen kann.

Was wir, auf unser Land bezogen, langsam in unser Bewußtsein aufnehmen [...], haben die Komputer des Klubs von Rom für den ganzen Globus durchgerechnet.

Ich wundere mich nicht so sehr über die Ergebnisse als über die, die sich darüber wundern. [...] Sicher scheint zu sein, daß die Menschheit in durchaus absehbarer Zeit an Grenzen stößt, von denen wir uns vor fünf Jahren noch nichts träumen ließen. Spätere Generationen werden wahrscheinlich die Köpfe darüber schütteln, wie lange wir zu der simplen Einsicht gebraucht haben [...]. [...] Sie werden manches als windschiefe Ideologie erkennen, was sich heute als realitätsbewußter Pragmatismus gibt. [...]

II. Von der Negation zur Position

[...] Natürlich kann man, wie der Rektor des Massachusetts Institut of Technology, Jerome B. Wiesner, formulieren: „Nicht die Maschine, sondern der Mensch wird im Mittelpunkt des künftigen Geschehens stehen.“ Nur: Wenn man den Sonntagsreden der letzten 20 Jahre glauben darf, steht er da schon so lange, daß er vom vielen Stehen schon reichlich müde ist.

Auch wenn wir meinen, die Qualität des Lebens steige in dem Maße, wie es Menschen gelingt, sich selbst zu verwirklichen, kann dies eine Leerformel bleiben, es sei denn, wir fragten weiter, wie der Mensch sich selbst am besten verwirklichen könne.

Dies aber führt notwendig zur Frage nach den menschlichen Bedürfnissen. [...]

Wenn es um die Bedürfnisse des Menschen geht, sind Ökonomen, Psychologen, Soziologen, Anthropologen, aber auch Philosophen und Theologen gefordert. Daß sie sich niemals einigen werden, ist kein Argument gegen eine Wissenschaft von den menschlichen Bedürfnissen. Wir brauchen eine solche Wissenschaft.

[...] Daß der Mensch Nahrung, Kleidung, Wohnung braucht, wird niemand bestreiten. Aber wie befriedigen wir im Städtebau das doppelte Bedürfnis nach Kommunikation und Distanz? Wie das Bedürfnis nach körperlicher Bewegung für die Kinder in unseren Mietshäusern? Ohne Zweifel gibt es ein Bedürfnis nach einer menschenfreundlichen Umgebung, nach etwas Schönem, aber wie soll diese schönere Umgebung aussehen? [...] Aber wie soll das menschlichere Reisen aussehen? [...] Niemand wird widersprechen, wenn wir Gesundheit als Grundbedürfnis des Menschen bezeichnen. Aber wie muß diese Gesellschaft beschaffen sein, wenn wir auch die psychische Seite der Krankheit wirksam angehen wollen? [...]

Antiliberale Dogmatiker haben geglaubt, [...] daß das Bedürfnis nach Gerechtigkeit sich schließlich von selbst erledige, wenn durch Nahrung des Wohlstandes jeder materiell gesichert sei. Die letzten Jahre haben das Gegenteil bewiesen. Gerade da, wo materielle Wünsche erfüllt sind, bricht die Frage nach der Gerechtigkeit wieder auf.

Ebenso könnten sich übrigens marxistische Dogmatiker irren, die meinen, religiöse Bedürfnisse verschwänden, wenn die materiellen gedeckt sind. [...]

Der Begriff der Lebensqualität, vorerst nur negativ faßbar, wird seine eigene Dynamik entfalten. Er wird die Dürftigkeit des landläufigen Pragmatismus offenlegen, ideologische Vorstellungen durcheinanderwirbeln, alte Gegensätze relativieren und neue aufreißen.

III. Neue Maßstäbe

Daß wirtschaftliches Wachstum nicht als Maßstab für den Fortschritt taugt, wird bald nicht mehr umstritten sein. Daß die Verdoppelung des Schlaftablettenkonsums [...] sich statistisch als Erhöhung des Lebensstandards niederschlägt, wird bald ebenso als Kuriosum gewertet werden wie die Tatsache, daß die Arbeit der Hausfrau im eigenen Haushalt nicht in das Bruttosozialprodukt eingeht, wohl aber die – bezahlte – Arbeit im fremden Haushalt. Die Lebensqualität eines Kleinkindes dürfte jedenfalls ziemlich genau proportional zu der Zeit sein, in der die Mutter sich auf das Kind konzentrieren kann.

Im übrigen gibt keine der gängigen Rechnungsarten darüber Auskunft, ob das wirtschaftliche und menschliche Potential eines Landes sorgfältig genutzt, teilweise verschwendet oder bereits überbeansprucht wird, ob damit mehr oder minder dringende Bedürfnisse befriedigt werden, ob Investitionen die Zukunft sichern oder gefährden. [...]

Es kommt nicht darauf an, den menschlichen Erfindungsgeist zu frustrieren, sondern ihn auf neue Aufgaben zu lenken. [...]

[...] Wenn die Bedürfnisse des Menschen innerhalb ökologisch fixierbarer Grenzen befriedigt werden sollen, werden alle, vom Geologen bis zum Psychologen, einander zuarbeiten müssen. [...]

Sicher werden wir es uns nicht mehr leisten können, wissenschaftlich-technische Möglichkeiten nur deshalb zu realisieren, weil sie realisierbar geworden sind. Politiker tun gut daran, weniger an Sachzwänge zu glauben. Auch Expertenvoten werden wohl noch etwas kritischer zu betrachten sein als bisher, zumal Experten dazu neigen, das für sie Wünschbare als unerläßlich, das von ihnen Verworfene als absolut unmöglich darzustellen. Wir müssen uns von dem Aberglauben trennen, daß die Technokraten schließlich immer einen Ausweg wüßten aus den Sackgassen, in die sie uns führen.

Dies erfordert auch eine Verschiebung der Beweislast. Soll ein neuer Großflughafen gebaut werden, so muß die Beweislast für seine Notwendigkeit bei denen liegen, die ein Interesse daran haben [...].

Die lapidare Feststellung, daß der Stromverbrauch sich jeweils in einer bestimmten Zeitspanne verdopple, reicht allein noch nicht aus, den Bau eines Kraftwerkes zu rechtfertigen. Es könnte ja auch sein, daß solche Zahlenreichen schließlich ins Absurde führen [...].

IV. Von der Ökonomie zur Ökologie

Der Übergang von der Ökonomie zur Ökologie wird sich auch in den privaten und öffentlichen Investitionen niederschlagen. [...]

Der Preis eines Produkts wird zunehmend auch die sozialen Kosten der Produktion einschließen. [...]

Die öffentlichen Investitionen werden rascher wachsen müssen als die privaten, da ein ständig wachsender Teil der menschlichen Bedürfnisse (vom frischen Wasser bis zur Bildung) nur von öffentlichen Einrichtungen [oder solchen der Zivilgesellschaft mit non-profit-Ausrichtung, H.N.] gedeckt werden kann. [...]

In den letzten Jahren zeigten Meinungsumfragen, daß die wenigsten Arbeitnehmer den Eindruck hatten, es gehe ihnen besser, wenn sie beträchtliche Erhöhungen ihrer realen Löhne und Gehälter hinter sich hatten. [...] Mancher kommt heute mit dem Mittelklassewagen auch nicht rascher zur Arbeit als vorher mit dem Kleinwagen. [...]

[...] Gewerkschaften, die sich mitverantwortlich fühlen für die Lebensqualität ihrer Mitglieder, werden nicht unwichtiger, wohl aber politischer. [...] Daß die Gewerkschaften darauf bestehen müssen, daß der Produktivitätszuwachs der Wirtschaft [...] dem Arbeitnehmer zugute kommt, versteht sich von selbst. [...]

Eine andere Frage ist, welchen Rang das Leistungsprinzip haben soll, woran Leistung abzulesen ist und worauf sie sich richtet. [...] Die Leistung einer engagierten Kindergärtnerin fördert die Lebensqualität von Kindern wesentlich mehr als die Leistung des Herstellers von Zuckerwaren, dessen scheußlich gefärbte Bonbons die Kinder aus dem Automaten holen, um sich damit [...] die Zähne zu ruinieren.

Der Herr Bundespräsident beanstandet immer wieder, daß nur in Ausnahmefällen Frauen für Auszeichnungen vorgeschlagen werden. Auch hier zeigt sich, welch windschiefes Bild von Leistung wir haben.

Einem anderen Menschen über eine schwierige Zeit hinwegzuhelfen, auch das Tragen von Leid, kann eine höhere Leistung sein, als seine Mitmenschen von der Unentbehrlichkeit überflüssiger Konsumgüter zu überzeugen.

Solange Leistung verlangt wird um der Steigerung von Produktion und Konsum willen, wir die große Verweigerung nicht zu überwinden sein. Aber die Erfahrung zeigt: Wo es darum geht, Menschen das Leben lebenswerter zu machen, werden manche – vor allem junge Leute – leistungswillig, von denen es niemand erwartet hat. Was wir brauchen, sind einleuchtendere Ziele und humanere Maßstäbe für die Leistung.

V. Herausforderung an die Politik

[...] Was jetzt zu bewältigen ist, dürfte die Dogmatiker in Ost und West ebenso in Verlegenheit bringen wie diejenigen, die sich auf ihren Pragmatismus all zuviel zugute halten. [...] Wahrscheinlich werden die Dogmatiker noch einige Zeit versuchen, das ganze Thema als einen besonders raffinierten Subversionsversuch gegen ihre etablierte Ordnung abzutun, ehe sie sich daran machen werden, es einzufangen und ideologisch zu integrieren.

[...] Wo wirtschaftliches Wachstum unangefochtenes Ziel der Politik ist, wird Politik vor allem das administrative Gerüst [...] zu liefern haben [...]. Wo Qualität des Lebens gefragt ist, wird der Politiker [...] den Ökonomen, auch den Unternehmer, fragen, was er – positiv oder negativ – dazu beitrage.

Politik wird das Interesse des Gemeinwohls zu konkretisieren haben, an dem sich Wirtschaft und Administration in gleicher Weise orientieren können.

Die Fälle, in denen das Gesamtinteresse der Gesellschaft gegen Einzelinteressen durchgesetzt werden muß, werden zunehmen. Dabei wird es in einer Gesellschaft, in der die Vertretung von Partikularinteressen bis zur letzten Perfektion entwickelt ist, gelegentlich hart auf hart zugehen. [...] Ein Staat, der nicht mehr wäre als ein lächerlicher Spielball von Sonderinteressen, wird das Gesamtinteresse nicht wahrnehmen können. [...]

Also kommt alles darauf an, neue Formen der Meinungs- und Willensbildung zu finden. Was höhere Lebensqualität ist, kann nicht von wenigen Wissenden dekretiert werden. Es gilt, in einer möglichst breiten Diskussion ein Höchstmaß an Konsensus zu erreichen, das Abstimmbare in demokratischer Mehrheitsbildung zu entscheiden und das Unabstimmbare der individuellen Entscheidung zu überlassen.

Wenn es jemals des großen Gesprächs bedurfte, dann in einer Gesellschaft, in der es um die Qualität des Lebens geht. Dabei werden die Massenmedien [...] unentbehrlich sein. [...] Wer sich weigert, die neuen Grenzen und Fragestellungen zur Kenntnis zu nehmen, kann so wenig dabei helfen wie wer die [...] Sensibilität einer modernen Industriewirtschaft übersieht.

[...] Es wird gestritten werden um politische und gesellschaftliche Strukturen. [...] Es werden Konservative sein, die, gebunden an handfeste Interessen, zumindest im Ökonomischen den Fortschrittsmythos hochhalten. Sie werden uns sagen, daß alles nicht so schlimm sei, daß sich schließlich alles von selbst einspielen werde, wenn man nur den Marktmechanismus nicht störe.

Und es werden Progressive sein, die sich der Realität stellen, die sich fragen, was innerhalb der nun sichtbar werdenden Grenzen Fortschritt sei. Und sie werden gründliche Kurskorrekturen verlangen, nicht, weil sie behaupten, den Weg zur Glückseligkeit gefunden zu haben, sondern weil sie begriffen haben, daß Fortschreibung des Gewohnten nicht nur keine ideale, sondern gar keine Zukunft mehr ergibt. [...]

Aber wenn Lebensqualität nur noch durch politisches Handeln zu verwirklichen ist, wenn Sozialismus das Handeln im Gesamtinteresse der Gesellschaft meint, wenn schließlich die Qualität des Lebens in ihrem Kern gefährdet ist, wo Entscheidungen nicht mehr aus freier Diskussion entstehen, dann wird dies eine Epoche des freiheitlich-demokratischen Sozialismus sein müssen.