2024
Lieben wie ein Mädchen
Vom Schlüsselerlebnis des Berührtwerdens.
Das Folgende ist eine Leseprobe aus meinem Roman ,Minne-Wunde/r’. Es ist ein Gespräch zwischen dem männlichen Protagonisten Daniel und seiner Frau, die seine Liebe zu dem Mädchen Jasmin nicht versteht und ihm die entsprechenden Argumente vorhält. Er wiederum versucht, zu beschreiben, warum dieses Mädchen ihn so sehr berührt – und dass sein Wille, sich selbst von ihr verwandeln zu lassen, die aufrichtige Folge dessen ist. Die Passage enthält eine wahre Fülle an Psychologie, sowohl der ,gewöhnlichen’ als auch einer heiligen, höheren.
„Trotzdem weiß ich nicht mehr, was daran erwachsen sein soll, eine Vierzehnjährige zu einem Was-weiß-ich hinaufzustilisieren! Sie zu bewundern, sich zu ihrem Schüler machen zu wollen. Was ist denn in dich gefahren?“
Sie griff ihn frontal an. Er spürte die Angriffe. Er spürte die Tendenz, sich zu schämen. Spürte, wie ihm alles entgleiten wollte, was er empfunden hatte. Und wenn er sich an ihre Stelle versetzte, konnte er sämtliche Argumente unmittelbar verstehen. Es war die rationale Art, das Ganze zu betrachten. Der Erwachsene als Geist hielt es für verrückt, in einem Mädchen etwas zu sehen, irgendetwas. Da war nichts... Deswegen war es verrückt und völlig irrational, etwas zu sehen, wo nichts war. Allenfalls war es eine Rationalisierung ... von etwas in Wirklichkeit rein Sexuellem...
„Wenn man etwas lernen will, ist es doch unwichtig, zu wessen Schüler man sich macht. Du kannst doch nicht sagen, du kannst von ihr nichts lernen, nur weil sie noch nicht erwachsen ist!“
„So egal kann es gar nicht sein – denn du willst ja nur ihr Schüler sein!“
„Ja, weil es niemanden sonst gibt, der mir dies beibringen könnte.“
„Was denn? Sich um die Umwelt zu kümmern?“
„Nein, sie zu lieben.“
„Ach – du meinst, es gibt niemanden als sie, der die Umwelt liebt?“
Es war fast unmöglich, auf das Wesentliche zu kommen. Das Problem lag schon in der ,Feindseligkeit’, mit der man gar nicht verstehen wollte. Nur immer die eigene Sichtweise hatte...
„Doch – ein Anliegen ist die Umwelt sicherlich vielen, zweifellos. Aber da ist noch ein großer Unterschied.“
„Es gibt auch genug Leute, die die Umwelt lieben.“
„Aber nicht so wie sie.“
„Nein? Und was ist der grandiose Unterschied?“
„Der Unterschied ist ihre Aufrichtigkeit, Frauke! Ich dachte, wir hätten über all das schon einmal gesprochen...“
„Ja, gut, ihre ,Aufrichtigkeit’. Aber in Wirklichkeit willst du doch nur in ihrer Nähe sein! Dich zieht doch nur dieses aufrichtige Mädchen an! Hingabe. Hattest du nicht auch ,Hingabe’ gesagt? Gib es doch zu – eigentlich zieht dich nur diese Hingabe an... Eigentlich ist die männliche Seele doch nur von dieser Hingabe unglaublich fasziniert ... und imaginiert sich unbewusst als Zentrum dieser Hingabe... Wie schön wäre es, wenn sich diese Hingabe auf dich richten würde... Ist es nicht das, was dich so anzieht...?“
Er fühlte einen wunden Punkt getroffen. Er konnte nicht leugnen, dass da irgendeine Wahrheit lag. Auch. Aber er spürte viel mehr... Und seine Liebe war viel zu aufrichtig ... und viel zu umfassend ... viel zu selbstlos, wenn auch nicht ganz selbstlos. Dennoch ging es gerade um dies.
„Es mag sein, dass das ganz sicher auch mitspielt... Ganz sicher wünscht sich jede Seele die totale Beachtung ... und wärst auch du beeindruckt von einem jungen Studenten, der auf einmal mit totaler Hingabe irgendeinem Dozenten oder irgendeiner Dozentin zuhören würde oder etwas anderes mit totaler Hingabe tun würde. Und wäre irgendetwas von dir angezogen davon... Auch mit der unbewussten Vorstellung, wie es wäre, wenn diese Hingabe dir gelten würde... Und du würdest vielleicht in seiner Nähe sein wollen, um irgendetwas davon ,abbekommen’ zu können... Oder? Etwa nicht? Das ist doch ganz sicher so! Und wenn nicht, dann nur deshalb nicht, weil man es verdrängt...“
Er ging eine Weile schweigend, und es war ein gutes Zeichen, dass auch sie schwieg. Dass auch sie aufrichtig genug war, die Wahrheit seiner Antwort anzuerkennen und zu begreifen.
„Die Seele hat offenbar“, fuhr er fort, „eine große Sehnsucht nach Ganzheit... Ich meine, sagen das nicht all diese ,spirituellen Strömungen’? Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht! Jetzt auf einmal scheine ich etwas davon zu verstehen! Jetzt, wo mir klar wird, immer klarer, was die Seele eigentlich ist – und wie umfassend...
Warum sollte dazu nicht auch gehören, ganz erkannt zu werden...? Und wäre das nicht erst dann möglich, wenn sich eine andere Seele mit aller Totalität einem zuwenden würde? Und ich meine – was tun Verliebte denn ... anderes, als diesem Zustand zumindest nahe zu kommen? Mehr oder weniger zumindest... Aber natürlich heute eher weniger... Vor allem, weil das Thema von Hollywood völlig ausgedroschen wurde. Ich meine ... es geht gar nicht um Kitsch. Es geht um die Wirklichkeit – und nicht um irgendwelche Versprechungen durch Leinwand-Ideale...“
„Sag doch einfach, dass du niemals vorher so verliebt warst wie jetzt!“
„Es geht darum, dass das überhaupt nicht hilfreich wäre, wenn du nicht verstehen würdest, was ich damit meine...“
„Was meinst du denn damit? Mit der Verliebtheit in ein vierzehnjähriges Mädchen? Mit der Sehnsucht, von ihr ,erkannt’ zu werden?“
„Nein, darum geht es eben nicht! Ich würde dieses Mädchen auch lieben, wenn sie mir nie auch nur einen Blick schenken würde, wenn ihr Blick mich nicht einmal streifen würde...!“
„Weil die Vorstellung ja immer noch da ist.“
„Aber es geht nicht um mich! Selbstverständlich habe ich auch die Sehnsucht, in der Nähe dieser Schönheit zu sein... Ihr zu begegnen... Auch von ihr angeschaut zu werden, mit ihr zu sprechen, Aber denkst du, die Seele besteht nur daraus, gesehen werden zu wollen, erkannt werden zu wollen? Es gibt doch auch einen selbstlosen Teil! Und den sehe ich gerade bei ihr... Aber dann muss diesen Teil doch jede Seele haben! Und berührt wird doch nicht nur der Teil, der gesehen werden will – sondern gerade auch der Teil, der ... so sein will wie sie... Noch nicht ist, aber ... vielleicht dazu bestimmt ist! Einfach nur bisher nie da war... Nie da sein durfte... Vernachlässigt wurde, oder was weiß ich... Aber der berührt wurde... Dieser Teil liebt sie doch auch... Da erwacht doch etwas ... in der Seele...“
„Vielleicht sind das extrem sublimierte sexuelle Regungen, die da ,erwachen’, die man sich nicht eingestehen kann. Und dann idealisiert man die Reinheit dieser Seele ... aber in Wirklichkeit erregt einen nur diese Hingabe...“
„Diese Hingabe ist doch eine Realität, Frauke! Dieses Mädchen ist in sehr hohem Grade selbstlos. Aber dann muss es das in jeder anderen Seele auch geben ... als ... eine Art Geheimnis... Ich kann nur sagen: Ja, ich möchte in ihrer Nähe sein. Das ist nicht gerade selbstlos! Aber, ja, ich möchte auch von ihr lernen... Und ja – es gibt einen großen Teil in mir, der so bleiben möchte, wie er ist. Der sicherlich auch einfach nur in ihrer Nähe sein wollen würde und weiter nichts. Aber ich spüre, dass ich ihr damit in keiner Weise gerecht werden würde, dass ich ihre Nähe so keine Sekunde lang verdienen würde... Welcher Teil in mir ist denn das, der das spürt?! Es ist jener Teil, der anders werden möchte... Der erkennt, dass er anders werden muss... Wir alle ... aber gut, ich spreche nur für mich... Ich will anders werden ... um überhaupt in ihrer Nähe sein zu dürfen... Aber auch umgekehrt. Was ich an ihr sehe und was mich zutiefst berührt und worin ich mich verliebt habe ... bringt mich dazu, anders werden zu wollen... Und noch brauche ich ihre Nähe dazu ... ihre Hilfe ... mach es nicht schlecht ... ich brauche ihre Hilfe ... will auch bei ihr sein, weil ich sie liebe ... aber sie verwandelt mich ... und das meine ich ganz ernst ... und ich will mich verwandeln ... und das ist meine selbstlose Seite ... und sie verdanke ich der Tatsache, dass ich sie liebe, sie mich berührt hat.
Und das ist nicht nur Rationalisierung, um in ihrer Nähe sein zu können. Es ist eine Erkenntnis. Dieses Mädchen hat mich zu einer Erkenntnis gebracht. Warum? Durch ihre Schönheit... Man kann sagen, ihre Schönheit hat mich verwundet... Sprechen so nicht die Dichter? Jetzt verstehe ich es, Frauke! Ich verstehe, was sie meinen! Aber es ist keine bloß äußere Schönheit... Es ist ein Kosmos von Schönheit... Und das ist das Geheimnis der Seele! Das ist das Geheimnis der Seele, Frauke! Diese grenzenlose Schönheit... Die einen so verwundet, dass man nicht mehr sagen kann: Ich will so bleiben, wie ich bin. Denn es stimmt nicht mehr... Man will ein anderer Mensch werden... Man hat etwas gesehen... Und es hat einen verwandelt ... vom ersten Moment an. Und man möchte nicht stehenbleiben, man möchte ... diesem Strom der Verwandlung, der Verwundung folgen... Man möchte sich weiter verwunden, verwandeln lassen. Eintauchen in ein Wunder... Die eigene Seele ist ja noch überhaupt nicht schön... Kein bisschen...“
Seine Frau schien es nicht begreifen zu wollen. Er spürte ihre Skepsis regelrecht. Konnte sie sogar verstehen, denn auch sie kannte ihn ja, hatte ihn all die Jahre gekannt – wie er war, all die Jahre, wahrscheinlich nichts allzu Besonderes, wie auch, sie waren zwei von acht Milliarden Menschen. Menschen wie jeder andere.
„Und was“, fragte sie jetzt, „ist an ihr nun so ein ,Kosmos von Schönheit’? Was soll das sein? Dass sie diese Delfine retten will? Meinst du das?“
Sie begriff das Mysterium nicht. Oder wollte es nicht begreifen. Aber wie hätte er es begreifen können, noch vor zwei Wochen?
„Ja, Frauke – wir haben doch schon darüber gesprochen... Du hattest es doch schon verstanden, irgendwo... Aber was ich meine, ist ... was ich meine ... das ist ... dass ich plötzlich diese Seele spüre...! Aber nicht nur ihre Seele ... sondern ... fast wie das Geheimnis der Seele überhaupt! Als wenn sie einem gleichzeitig zeigt, wie die Seele sein soll – und sie dies auch ist.“
„Umweltethik – Liebe zu Tieren – Greta Thunberg ... mein Güte, du hättest dich in jedes Mädchen verlieben können! Was findest du an ihr? Es setzen sich so viele Menschen für eine bessere Welt ein! Was ist nur in dich gefahren? Du rationalisierst einfach...“
„Nein, tue ich nicht! Aber Frauke ... ich denke immer, wir haben über all das doch schon geredet – oder nicht? Greta Thunberg – das ist etwas völlig anderes! Sie setzt sich für das Klima ein! Sehr wichtig, natürlich. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass ... dieses Mädchen mit den Tieren verbunden ist. Es sind für sie nicht irgendwelche Tiere in irgendeinem fernen Land und irgendeinem fernen Fluss – sondern sozusagen ihre Geschwister. Vielleicht kann man es so sagen...“
„Also eine kleine Indianerin...“
„Was soll das jetzt wieder?“
„Na ja, die hatten die Tiere doch auch als ihre Brüder betrachtet – so ungefähr ... oder nicht?“
„Das ist mir jetzt zu weit weg. Ich sehe da keinen wirklichen Bezug...“
„Oder eine kleine Buddhistin... Tue niemandem ein Leid an.“
„Wieso willst du immer vergleichen? Ich sehe da allenfalls entfernte Ähnlichkeiten, Frauke!“
„Ja, weil du sie vergötterst! Als wäre sie einzigartig. Aber das ist sie doch nun mal nicht.“
„Du kennst sie ja gar nicht! Du machst sie auch immer herunter. ,Kleine Indianerin, kleine Buddhistin’. Wieso musst du sie immer klein machen?“
„Vielleicht, weil du sie immer so groß machst!“
„Ja, weil du eifersüchtig bist. Aber auch, weil du es nicht erträgst, dass irgendjemand jetzt ,so toll’ sein soll. Noch dazu ein einfaches Mädchen, nicht wahr? Die Psychoanalyse hat doch, glaube ich, auch gezeigt, dass man eigentlich niemanden über sich haben will, oder?“
„Aber es ist ja nun auch wirklich sehr an den Haaren herbeigezogen, so ein ... ,hergelaufenes’ Mädchen, hätte ich fast gesagt, auf so ein ungeheures Podest zu hieven!“
„Frauke...“, bat er innig. „Du verachtest das doch nur deshalb, weil du selbst in diesem Fokus der Beachtung sein willst. Das ist doch klar, das verstehe ich ja auch! Aber ... es gibt Menschen, die sind schöner als wir ... und ich verstehe ja auch, dass es dir so vorkommt, wie wenn ich plötzlich ... einem Sektenführer hinterherlaufen würde. Wäre es umgekehrt, würde es mich genauso irritieren. Aber Sektenführer interessieren mich nach wie vor nicht. Auch nicht Mutter Theresa, auch nicht Gandhi – oder was weiß ich wer. Aber warum dieses Mädchen?
Weil es bei ihr so sehr aus dem Herzen kommt! So bedingungslos ist ... so bedingungslos, ja... Ganz anders als ein Buddhist ... ganz anders! Oder als Indianer. Vielleicht ein Indianermädchen, ja. Aber sie ist gerade keines! Es ist bei ihr ja völlig anders. Sie lebt ja in einer Kultur, die keine Verbindung mehr zu allem hat. Aber sie hat sie! Gut, du kannst dann sagen ,kleines Indianermädchen’ – aber ich will auf etwas ganz anderes hinaus!“
„Worauf willst du denn hinaus?“
Er musste es sich selbst wieder in das Erleben rufen – oder, besser gesagt, selbst wieder in dieses Erleben hineintauchen ... denn das abstrakte Reden über all dies warf einen einfach hinaus, auch selbst hinaus.
„Auf die Seele, Frauke! Auf die Seele! Durch Elsa – die alte Frau – weiß ich, dass es die Seele gibt, aber eigentlich weiß ich es durch sie! Dieses Mädchen! Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht verstanden ohne Elsa ... aber mit ihrer Hilfe – weil sie von der Seele sprach – ist es mir jetzt so unglaublich klar ... was ich erlebe, meine ich. Das, was ich immer Wunder nannte, Frauke! Ich erlebe sozusagen ein Wunder...
Es ist fast wie ... etwas Räumliches... Deswegen sagte ich ,Kosmos’... Es ist eine Art von Liebe ... die sie hat. Natürlich ist es Liebe! Aber ich meine diese Verbundenheit... Und ich meine diese bedingungslose Verbundenheit. Wenn man ... wenn man es zu erleben versucht ... dann wird es ... entsteht etwas irgendwie Räumliches... Wie ein innerer Kosmos, verstehst du? Natürlich ist es nicht äußerlich-räumlich! Es ist ein innerer, großer, weiter Kosmos ... diese Liebe...“
„Ich verstehe nicht, wie dich das so faszinieren kann...“
Er betrachtete sich ,von außen’, versetzte sich in ihre Lage.
„Weil du es nicht erlebst! Frauke... Weil du es nicht erlebst. Du denkst ... du denkst, es ist irgendwie eine interessante Frage, aber mehr auch nicht. Aber es ist keine irgendwie bloß ,interessante Tatsache’ – zumindest nicht für mich! Ich beobachte das nicht von außen. Es hat mich ... es hat mich ergriffen ... ja. Es hat mich am Anfang zutiefst berührt ... was ich sah. Und da hatte ich es noch nicht verstanden. Und dann sprach Elsa irgendwann von der Seele. Und da begann ich, zu verstehen ... und tauchte in dieses Erleben ein ... erlebte auf einmal diese ... Art Kosmos... Aber von innen, Frauke! Nicht von außen. Und was mich zuvor ,nur’ berührte – was schon unendlich viel war –, steigerte sich zu einer Ergriffenheit. Aber nur deshalb, weil es so ergreifend ist! Denn es ist dieses Wunder. Aber dafür muss man sich ergreifen lassen – denn nur dann erlebt man es. Nur dann wird dieser Kosmos eine Realität, verstehst du? Vorher erlebt man ja gar nichts...“
„Was vielleicht auch besser wäre.“
„Was meinst du?“
„Na ja – wie willst du irgendjemandem erklären, dass du an einem vierzehnjährigen Delfinmädchen einen ,Kosmos’ erlebst?!“
„Das wäre eigentlich gar nicht so schwer, wenn man sich darauf einlassen würde.“
„Gut, aber vielleicht hat man auch Besseres zu tun, als sich auf den ,Kosmos’ einer Vierzehnjährigen einzulassen...“
„Du wertest es immer noch ab, weil du eifersüchtig bist und weil du glaubst, dass da gar kein Kosmos sein kann...“
„Ich denke schon, dass du da einen süßen kleinen Kosmos entdeckt hast ... aber man sollte da jetzt auch nicht den Schlüssel der Welt draus machen.“
Er ließ innerlich ,die Waffen’ sinken ... alle Versuche, seine Frau irgendwie zu erreichen...
„Ich will niemanden überzeugen, Frauke...“, erwiderte er leise. „Aber für mich ist sie ein Schlüssel... Ich kann entweder so bleiben, wie ich bin ... oder ich kann von ihr etwas Unendliches lernen... Denn es ist etwas Unendliches, was in ihr lebt ... das spüre ich deutlich. Und es ist eben dieses Wunder... Gegen das wir uns so wehren, weil wir alle viel weniger schön sind als dieses...
Und vielleicht heißt das Wunder ,Wunder’, weil es Wunden schlägt. Es verwundet das Gewordene, das Verfestigte, das Erstarrte ... und löst es aus seiner Gewissheit ... damit es wieder lebendig wird ... aufbricht zu neuen Ufern ... zu einem wahreren Leben...“
„Aber, Daniel, ehrlich ... dieser ,zweite Frühling’ klingt mir einerseits wirklich sehr sektenhaft ... und andererseits auch sehr typisch für die Begegnung eines ,midlife’-alten Mannes mit einem sehr jungen Mädchen. Der typische Mai-September-Effekt sozusagen...“
„Ich sage ja, dass es sektenhaft klingen muss, wenn man sich nicht selbst von diesem Erleben ergreifen lässt, um es zu be-greifen. Und Mai-September ... ja, verständlich ... nur fragt sich, ob das Geheimnis jeder Mai-September-Liebe nicht darauf beruht, dass in einem Mädchen ein Kosmos lebt...“
„Ach – jetzt ist es also schon jedes Mädchen, ja?“
Er war verzweifelt, weil seine ganze bisherige Argumentation zusammengebrochen schien.
„Frauke – ja und nein! Ja und nein! Es ist doch klar, dass, wenn man es bedenkt, jedes Mädchen irgendwo dieses Bedingungslose hat, dieses Junge, dieses Unbedingte, dieses ... absolut Lebendige! Meinetwegen auch die ,kleine Indianerin’ – ja! Das ist das Geheimnis der Mädchen ganz generell! Und ist es nicht so, dass wir schon das viel zu sehr verloren haben? Wir Erwachsenen in unserer tollen Rationalität? In unserer Überschau, unserer Abgeklärtheit, unserer Besonnenheit und unserem Intellektualisieren? Das ein Mädchen, das weniger intellektuell, dafür aber bedingungsloser ist, gleich schlechtmachen muss?“
„Ich mache ja gar nicht das Mädchen schlecht – aber du musst zugeben, dass Männer, die sich durch ein Mädchen wieder furchtbar lebendig und wie neugeboren fühlen, in der Regel die Jugend des Mädchens einfach nur missbraucht haben, während sie es natürlich durch ihren überlegenen Intellekt jederzeit dominieren konnten ... und das Mädchen überhaupt nicht merkte, wie es eigentlich nur als eine Art Lebenselixier diente...“
Er war perplex. Einerseits wertete sie das Mädchen sehr wohl aus Eifersucht ab. Andererseits aber verachtete sie mit einem Teil ihrer Seele ihn ... weil sie von diesen Urteilen ausging...
„Das mag sein, Frauke. Aber diese ,Don Juans’ waren eben überhaupt nicht berührt, erst recht nicht ergriffen ... und schon gar nicht demütig bereit, ihr eigenes bisheriges Leben völlig zu hinterfragen und in gewisser Weise ... als nichtig zu erkennen, nämlich in Bezug darauf, dass sie an diesem Kosmos vorbeigelebt haben ... der auch der Kosmos ihrer Seele sein sollte, aber nicht ist...“
„Das heißt, sie ist also jetzt wirklich dein Guru-Mädchen...“
„Du hattest es schon einmal verstanden, Frauke...“, erwiderte er leise. „Jetzt machst du es immer wieder schlecht... Wertest es ab. Willst die Wirklichkeit dahinter nicht sehen. Aber die Wirklichkeit ist, dass sie nicht einfach nur hat, was jedes Mädchen hat. Sondern etwas, was kein anderes Mädchen hat. Nämlich diese absolute Schönheit... Jedes andere Mädchen ist einfach nur spontan. Lebendig. Leben pur, sozusagen. Purer Mai, wenn man so will... Aber darum geht es gar nicht.
Es geht um dieses Leuchten... Sie liebt diese Delfine da fern in Südamerika... Und während ich sogar schon das Land vergessen habe ... hat sie eine direkte Verbindung zu diesen Tieren. Sie überbrückt mit ihrer Seele Raum und Zeit ... und das ist das Wunder. Sie tut das mit dieser ergreifenden Bedingungslosigkeit ... und das ist diese Schönheit. Dass für sie diese Liebe geradezu selbstverständlich ist. Und dass sie damit allein ist! Sie sieht ja, dass die anderen nicht so sind. Aber sie zweifelt nicht daran, dass es richtig ist. Und obwohl sie ganz allein ist, macht sie einfach immer weiter... Wie eine Flamme...“
„Sie ist ja auch deine kleine Flamme...“
„Du verstehst gar nichts, Frauke!“, rief er, von verzweifelter Wut oder von der Wut der Verzweiflung ergriffen. Dann war da nur noch Verzweiflung, die Wut schon wieder in Traurigkeit zerfallen...
„Du verstehst gar nichts...“, wiederholte er leise. „Du ziehst es die ganze Zeit nur in dieses Persönliche hinein, als wäre ich einer dieser Millionen Mai-September-Männer, die von irgendeiner dunklen, Freud’-schen biologischen Notwendigkeit zu einem Mädchen getrieben würden, es genießend, es seelisch ausbeutend, um sich ein bisschen jünger fühlen zu können ... das ist abartig. Es schmerzt mich zutiefst, dass du das nötig hast ... und dass du nicht sehen kannst, dass es auch etwas ganz anderes sein kann... Etwas Objektives, etwas, was weit über das Persönliche hinausgeht; dass da wirklich ein Wunder sein kann!
Die Seele ... ein stiller Kosmos ... einsam in seiner ganzen Schönheit, die du jetzt so schlechtgemacht hast, dass ich selber kaum noch ,zurückfinde’, aber nicht etwa, weil es keine Realität hätte, sondern weil man es nicht erleben kann, wenn es die ganze Zeit schlechtgemacht wird. Man erlebt es nur in der Stille... Wenn man sich dem wirklich hingeben kann... Nicht, wenn es schlechtgemacht wird...“
Sie wurde etwas schweigsam.
Er auch. Der Schmerz begann, ihn zart zu überwältigen.
Sie sagte:
„Vielleicht ... war ich etwas zu heftig... Tut mir leid. Aber es ist für mich schwer genug. Ich verstehe es nicht, und es geht mir tatsächlich zu weit. Macht auf mich einen etwas albernen Eindruck, wenn ein erwachsener Mann ... aber das habe ich ja alles schon gesagt. Ich hatte etwas verstanden ... aber weiß es jetzt schon selbst nicht mehr. Zumal es Züge annimmt, denen ich einfach nicht mehr folgen kann, Daniel. Am Anfang hattest du es meiner Meinung nach noch nicht so ... religiös übersteigert...“
Er spürte einen tiefen Schmerz und versuchte erneut, sich in der Außenperspektive zu sehen.
„Dann nimm doch, was du verstanden hast, Frauke...“, bat er fast innig. „Was soll ich denn tun? Wenn es bloße Mai-September-Liebe wäre, wäre es falsch. Wenn es geradezu religiös klingt, ist es auch falsch. Was soll ich denn tun? Es ist ein sehr tiefes Erleben – aber es hat mit Religion oder Sekte wirklich Null zu tun! Und trotzdem ist es bis ins Innerste ergreifend, ist es überwältigend, wenn man sich darauf einlässt – und so vergleichbar mit einer religiösen oder spirituellen Erfahrung.
Und es geht um die Liebe – wie sie auch alle Religionen, alle spirituellen Strömungen suchen. Aber mich hat ihre Art der Liebe ergriffen ... und ich möchte diese Art lernen...“
„Also du willst werden wie sie? Wie ein vierzehnjähriges Mädchen?“
„Nicht genauso, Frauke... Aber ... in gewisser Weise möchte ich werden wie sie... Ich möchte die Substanz ihrer Liebe von ihr lernen...“
„Was ist denn diese ,Substanz’?“
„Es ist eine tief von innen kommende Verbundenheit... Etwas sehr Helles, sehr Reines.“
„Und was unterscheidet das von einem Buddhisten – wenn du sagst, das typisch Vierzehnjährige willst du nicht...?“
Es berührte ihn geradezu, dass diese Frage sie intellektuell fast sorgfältig und wiederum unbefangen zu interessieren schien. Dass sie fast bemüht war, ihn wirklich zu verstehen...
„Das Vierzehnjährige interessiert mich auch. Ich kann nicht werden wie sie, Frauke – das ist doch klar! Dennoch berührt mich ihre Art der Liebe zutiefst ... und ich möchte auch davon etwas lernen. Auch dieses Bedingungslose... Nicht, um hinterher selbst wie ein vierzehnjähriges Mädchen zu sein ... sondern um bis ins Innerste und sehr tief etwas zu begreifen... Ich möchte es wirklich lernen, Frauke. Deswegen kann ich nicht sagen: Das will ich lernen, das nicht. Ich will alles lernen. Ich will von ihr lernen. Ich will so werden wie sie... Das musst du jetzt nicht verstehen. Aber vielleicht verstehst du es ja. Ich möchte bis ins Innerste ihre Art zu lieben begreifen...“
„Das klingt sehr ehrlich...“, sagte seine Frau leise. „Ich kann dich wieder ein Stückweit verstehen... Ich kann wieder Anschluss finden an das, was ich offenbar schon einmal verstanden habe... Aber gut, wir werden ja sehen, was das dann bedeutet...“