Das Wunder das Absoluten

Das Mädchen als lebendige Prophetin einer grenzenlosen Harmonie.


In dem Roman ,Minne-Wunde/r’ hat sich der Protagonist Daniel tief in das Mädchen Jasmin verliebt, die sich mit einer bedingungslosen Liebe für Tiere einsetzt. Geradezu verwundet von ihrer Schönheit, möchte er von ihr lernen, was die moderne Seele gar nicht mehr kann: zu lieben, mit reinem Herzen. Was er in ihr sieht, was ihr Wesen für ihn so ergreifend macht, kann er anderen, etwa seiner Frau, immer wieder kaum verständlich machen. Aber in der folgenden Szene offenbart es sich regelrecht...


„Oh – schauen Sie mal!“
Zwei Spatzen hatten sich vor ihnen niedergelassen – drei, vier.
„Wo kommen die denn auf einmal her...?“, fragte er, fast verlegen.
„Das war die falsche Frage. Geben Sie mir mal die Tüte...“
Er schämte sich schon wieder, musste sogar einen Sekundenbruchteil überlegen – und erinnerte sich dann zum Glück wieder, welche Tüte sie meinte und wo er sie hingesteckt hatte, und gab sie ihr.

Erleichtert stellte er fest, dass sie ihm nicht böse war, sondern mit ihrer Aufmerksamkeit bereits ganz bei dem, was sie vorhatte. Sie nahm die Tüte von ihm entgegen, öffnete sie und brach von dem einen Brötchen mit einer ihn zutiefst berührenden Präsenz und Achtsamkeit einige Krümel ab und streute sie den Spatzen hin – nicht einfach so, sondern geradezu zärtlich...

Schnell kamen weitere Spatzen herbeigeflogen, dann auch die ersten zwei Tauben. Bald waren es auch hiervon fünf, sechs, sieben. Sie kam ihm fast vor wie eine Zauberin, die die Tiere anzog. Dabei war es nur das ganz normale ,Wunder’, dass diese von den Krümeln angezogen wurden, wie er es schon hundertfach irgendwo gesehen hatte. Das Besondere hier war nur, dass es ein Mädchen war, das wirklich mit einer außergewöhnlichen Liebe am Werk war – einer Hingabe, die ihn fast vergessen zu haben schien.
Sie lachte.
„Gucken Sie mal – wie die beiden sich kurz gestritten haben. Sollt ihr das?“, fragte sie vorwurfsvoll, liebevoll zwei kleine Spatzen tadelnd.
Und schon kamen die nächsten Tauben.
Er konnte das ganze Geschehen nur hingerissen verfolgen, gebannt, tief berührt von dieser Präsenz, dieser Intensität eines Mädchens.

Die ersten Tauben flatterten ein wenig übereinander her. Dann setzten sich ein, zwei auf die Banklehne.
„Na, ihr?“, sagte sie zärtlich und hielt ihnen die offene Hand hin.
Die vorderste Taube kam etwas näher, zögerte und flog wieder weg. Die andere tat es ihr bald nach. Dafür kamen andere.
„Was ist mit euch?“, fragte sie ebenso zärtlich, mit derselben Geste, in der eine reine Liebe lag, jede kleine Bewegung von ihr war so unglaublich...
Die vorderste Taube wagte sich unschlüssig näher ... wich dann wieder zurück.
„Na ... komm doch...“, sagte sie sanft, wie er es noch nie gehört hatte, und staunend verfolgte er, wie das Tier schließlich tatsächlich einen Krümel aus ihrer Hand pickte.
Bald wurden die Vögel zutraulicher. Immer wieder wagte es eine der Tauben, direkt von ihrer Hand zu fressen. Vielleicht waren es nur zwei oder drei, er konnte es nicht verfolgen, weil er den Blick nicht von ihr abwenden konnte.
Und dann flogen zwei Tauben direkt um ihren Kopf herum und wollten sich auf ihrem Oberarm niederlassen, was nur der einen gelang. Während dies geschah und sie den Kopf vor den Flügeln etwas einzog, lachte sie gerührt auf – mit so einer zärtlichen Liebe, dass dieser Moment bis in das Allerinnerste seiner Seele drang, um sich dort für immer einzuprägen.

„Versuchen Sie es auch!“, sagte sie wenig später mit leuchtenden Augen, während neue Tauben sich ihr vertraulich näherten. „Nehmen Sie das andere Brötchen und versuchen Sie es auch!“

                                                                                                                                           *

Er hatte es widerstrebend versucht, aber schnell wieder gelassen. Er hatte nicht anders gekonnt, als ihr zuzusehen, bis dieses Schauspiel vorbei war. Es war so berührend, so anrührend gewesen, es hatte in ihm so ein grenzenloses Erstaunen ausgelöst, eine Art Verzückung ... wieder fand er keine anderen Begriffe als pure Schönheit, diesmal mitten im Sein, im Handeln, mittendrin... Man konnte es überhaupt nicht beschreiben. Da war dieses Mädchen ... und es löste sich alles auf in absolute Schönheit, anrührende Schönheit.

Er konnte diese eine Szene einfach nicht vergessen... Wie die Tauben um ihren Kopf flogen, um sich irgendwie niederlassen zu können, und wie sie, ihren Kopf einziehend, zärtlich überwältigt und selbst so voller Liebe, diesen Laut von sich gab... Es war eigentlich kein Lachen, nur so ähnlich, vielleicht konnte man es Freude nennen, überwältigte Freude, die ihrerseits vor Zuneigung überströmte. Kurz bedrängt von den Flügeln dieser Geschöpfe, aber selbst nur entzückt von der Liebe, die darin lag, der Liebe dieser Tiere, die sich ihr näherten, an der Grenze eines Fast-Zuviel ... was aber gerade dieses Entzücken hervorrief, reines Glück dieses Mädchens, das seinerseits so grenzenlos liebte...

Nie würde er diese Szene vergessen können. Es war ein Moment absoluter Harmonie zwischen Mensch und Tier, aber nicht abstrakt, sondern verwirklicht in dem ganz realen Leben dieses einen einzigartigen Mädchens, in vollkommener Realität, vor seinen Augen. Egal, wie oft er daran dachte, er konnte es nicht wirklich ausdrücken. Dieser eine Augenblick war für ihn mehr als nur ein Heiligtum. Er war wie die lebendige Essenz des Heiligen überhaupt... Oder wie die Schönheit selbst nochmals in ihrer schönsten Gestalt...

Wenn man versuchte, es zu ,erklären’, konnte man mehr rational, wieder viel zu sehr nur im Kopf, daran denken, dass ein Mädchen sowieso sehr wehrlos war ... und dieser eine Moment offenbarte, wie sie sich aber auch tatsächlich gar nicht wehrte ... nur minimalst, gerade so ihren Kopf nur ein wenig schützend ... aber den Arm, die Hand ausgestreckt lassend ... in fortgesetzter Hingabe und Liebe ... und zärtlich umflattert von Geschöpfen, die ihrerseits als lebendige Symbole von Frieden und Liebe galten ... welch ein Urbild!

In seinem Hinterkopf, der nicht der Kontrolle seiner Seele unterstand, sondern der öden Herrschaft der Ratio, des Intellekts, in diesem Hinterkopf waren, ohne dass er es verhindern konnte, Gedanken aufgetaucht, die das Übliche reproduzierten: diese Tiere würden nur Dreck machen, Krankheiten übertragen, man solle sie nicht füttern... Und wären in dem Moment bestimmte Menschen vorübergegangen, hätten sie das Gleiche gedacht, vielleicht sogar ausgesprochen. Aber das war dieser tote Kopf, der gar nichts wusste, der einfach nur noch tote Daten aggregierte, mit denen man vielleicht perfekt alles managen konnte, buchstäblich perfekt, aber mit dem man alles Wesentliche verloren hatte, wirklich alles. Das Leben. Die Liebe. Das Mysterium. ... Das Wunder. Nichts davon kannte man... Er aber hatte es gesehen.