2024
Von der Bedingungslosigkeit
Oder: Die Liebe als die wahrhaft erkennende Essenz, die Wahrheit schlechthin.
Die folgende Leseprobe des Romans ,Minne-Wunde/r’ macht erlebbar, wie tief in einem Mädchen der Liebesimpuls leben kann, der zugleich etwas anderes offenbart, nämlich seine Polarität: die Lieblosigkeit aller übrigen Seelen, den zum Standard gewordenen Mangel an Liebe und an heiliger Erkenntnis tieferer Wahrheiten... Warum Wahrheiten? Weil nur die Liebe erkennt. Äußere ,Fakten’ erkennt jede Wissenschaft – aber die Wahrheit geht weiter...
„Das ist das Problem!“, sagte sie.
Dann sah sie ihn an, freundlich genug, ja einen Moment fast liebevoll tröstend.
„Nicht bei Ihnen – ich meine, generell. Niemand ist so weit – nicht wahr? Alle finden immer alles ... ,normal’, wie sie sagen. Aber was ist das eigentlich ... normal? Das will ich mal wissen! Was ist das eigentlich? Es gibt kein ,normal’! Normal ist immer das, was gerade ist – aber das ist nicht normal! Das ist nicht normal...!“
„Ja, du hast völlig Recht, Autumn.“
„Verstehen Sie das?“, fragte sie tatsächlich etwas erstaunt.
„Ja, natürlich.“
Sie lächelte.
„Sie sind so schräg... Wieso sind Sie dann nicht schon längst völlig anders...?“
„Vielleicht bin ich das ja. Vielleicht bin ich ja schon mittendrin.“
„Sehr gut, okay...“
Er hätte ihr in diesem Moment so gern gesagt, wie sehr er sie liebte – aber das wäre für sie auch nie normal... Vielleicht war es für immer sein größtes Glück, überhaupt mit ihr sprechen zu dürfen ... bei ihr sitzen zu dürfen... Vielleicht gehörte der Schmerz mit dazu ... zu dem ganzen Leben... Vielleicht hatte jedes Lebewesen seinen Schmerz...
„Man kann immer alles ändern. Vergessen Sie das nicht. Akzeptieren Sie nie, wie etwas ist – wenn es anders sein sollte!“
Sie hatte gut reden. Sie war ein vierzehnjähriges Mädchen voller Ideale, das vom Leben und seinen Unmöglichkeiten noch nicht gebrochen war ... ungebrochen in seinem ganzen Glauben an das Mögliche ... von allem. Aber hatte er sich nicht genau deshalb in sie verliebt? Weil er dies gesehen hatte? Doch, hatte er...
„Aber es stimmt doch so vieles nicht in der Welt. Wo soll man denn anfangen?“
Sie lächelte.
„Da, wo es am notwendigsten ist!“
„Und warum sind das für dich ausgerechnet die Tiere?“
„Ausgerechnet? Das klingt ja nicht so, als ob Sie etwas lernen wollten!“
„Doch!“, erwiderte er bestürzt. „Es ist nur ... man muss wahrscheinlich etwas ganz Grundsätzliches begreifen ... weil es ja wirklich außergewöhnlich ist... Schon bei den Menschen gibt es doch so viele Probleme. Und niemand wird akzeptieren, dass Tiere wichtiger sein sollten...“
Sie sah fast fassungslos in die Ferne.
„Ja!“, sagte sie spöttisch, gar nicht an ihn gerichtet. „Natürlich! Die Tiere sind ja soo unwichtig! Man muss ja immer erst in zweiter Linie an sie denken – wenn überhaupt! Und weil die Menschen“, dies sagte sie besonders spöttisch, „so viele Probleme haben, denkt man an die Tiere praktischerweise überhaupt nie! Das ist doch ungeheuer praktisch, oder nicht?“
Nun sah sie ihn ganz offen an, herausfordernd, eigentlich aber nur mit ihrer eigenen Verzweiflung, die aber jetzt nur eines war: kämpferisch. So, wie er sie kennengelernt hatte...
„Ja, du hast Recht...“, stammelte er.
Sie lächelte wieder, fast kopfschüttelnd.
„Sie sind so schräg...“, sagte sie, noch immer in seinen Augen forschend, schließlich die ihrigen abwendend...
„Also...“, fragte sie. „Warum sind es ,ausgerechnet’ die Tiere?“
„Sag du es mir, Autumn...“, bat er. „Sag es, wie es ist...“
Sie brauchte nur eine Sekunde, in der sie sich schweigend sammelte.
„Es ist der einzige Weg! Wenn die Menschen nur an sich denken, sind sie sowieso verloren. Aber genau das tun sie die ganze Zeit! Die Tiere sind unsere Freunde! Aber solange das niemand begreift, ist es noch immer zu spät – übrigens auch für die Menschen. Das ist doch klar. Behandeln die Menschen sich denn besser? Wohl kaum! Schauen Sie sich doch um! Aber erst das alles in Ordnung bringen und sich dann irgendwann um die Tiere zu kümmern, funktioniert sowieso nicht. Denn, und das sage ich jetzt nur einmal: Es hängt alles mit allem zusammen.
Wer die Tiere nicht liebt, liebt gar nichts. Nichts wirklich – er tut immer nur so. Das meine ich gar nicht auf Sie bezogen, ich meine es wie immer generell. Die Menschen sind so verrückt! Ich meine nicht schräg, sondern verrückt. Wer meint, sich um die Tiere erst in zweiter Linie kümmern zu müssen, oder ,irgendwann’, der ist verrückt. Denn er begreift nicht, dass die Welt gar nicht mehr zu retten ist, wenn er endlich aufwacht. Die Tiere sind jetzt wichtig – und zwar gerade deshalb, weil alles jetzt wichtig ist. Gerade deshalb! Das ist die größte Erkenntnis, die man haben kann...“
Nach diesem ,heiligen Ausbruch’ fragte sie, wenige Momente später, als er betroffen geschwiegen hatte, geradezu spöttisch:
„Na – wollen Sie jetzt doch lieber zurück?“
„Du wolltest mir doch vertrauen, Autumn...“, sagte er leise.
Sie verstummte bestürzt.
„Aber warum“, erwiderte sie dann, „haben Sie dann so gefragt? Von wegen ,ausgerechnet’ und ,niemand wird es akzeptieren’ und das alles?“
„Weil ich es lernen will! Lernen und dann auch begründen können, so wie du!“
„Das Dumme ist, dass die Menschen immer eine ,Begründung’ brauchen! Das hilft ihnen nur, in ihrer eigenen Dummheit zu bleiben!“
„Wie meinst du das?“
„Ganz einfach. Die Menschen brauchen eine Begründung, warum Tiere nicht weniger wichtig sind als Menschen. Aber dass sie eine ,Begründung’ brauchen, zeigt doch nur, dass sie noch gar nichts verstehen! Wenn sie es verstünden, bräuchten sie ja keine Begründung mehr!“
„Das klingt einleuchtend!“, lachte er.
„Das ist aber nicht lustig! Es ist überall das Problem! Die Menschen wollen Begründungen – und verstehen gar nichts. Sie wollen Begründungen, nur um bleiben zu können, wie sie sind. Wegen nichts anderem! Sie nehmen die ,Begründung’ ja sowieso nicht ernst! Sie wollen eine Begründung, um sie hinterher abzulehnen! Das ist alles...“
„Du hast Recht... Es sei denn, sie wollen lernen...“
„Das wollen sie aber ja nicht! Sie wollen einfach nur sagen: Das ist keine Begründung. Sie brauchen sie nur, um das zu sagen! Und das bedeutet – sie wollen sich gar nicht ändern. Was schon vorher klar war...“
„Aber vielleicht stecken sie auch nur in ihrem System noch fest – und können die Begründung wirklich noch nicht verstehen, obwohl sie wahr ist...“
„Dann sollen sie nicht so großartig tun! Die Welt geht zugrunde, aber sie können nur gerade das ,verstehen’, was ihnen bequem ist!“
Er musste daran denken, dass sein Sohn der Meinung war, sie täte immer so großartig...
„Du hast völlig Recht, Autumn...“
„Sehen Sie? Das liebe ich an den Tieren... Sie wollen einfach nur existieren. Verstehen Sie? Das ist schon alles! Einfach nur existieren. Tiere sind das Beste, was einem passieren kann. Sie zeigen einem, worauf es wirklich ankommt... Niemand ist friedlicher als ein Tier...“
Kurz hatte er ein Erlebnis, was sie meinte, in ihrer Seele [...]. Doch dann meldete sich bei ihren letzten Worten bereits wieder sein Verstand, der daran dachte, wie es in der Natur auch ein fortwährendes Fressen und Gefressenwerden gab...
„Aber manche Tiere sind doch auch weniger friedlich? Ein Löwe zum Beispiel? Oder ... eine Gottesanbeterin?“
Sie sah ihn fast befremdet an.
„Wie kommen Sie jetzt darauf? Eine ,Gottesanbeterin’?“
„Na ja ... vielleicht erschien sie mir gerade wie der Inbegriff des Nicht-friedlichen, so heimtückisch-getarnt und dann so zuschnappend...?“
Sie wandte sich spöttisch lächelnd wieder dem Park vor ihr zu.
„Ich glaube, Sie haben zu viele Doku-Filme geguckt – oder so was...“
Es erschien ihm wie ein Widerspruch in sich. Es ging doch um die Natur...?
Sie wandte sich ihm wieder zu.
„Jetzt mal im Ernst. Wollen Sie Ihre ,Weisheit’ wirklich an einer Gottesanbeterin festmachen?“
„Nein...“, erwiderte er zögernd.
„Na, da bin ich ja erleichtert! Ich dachte schon...“
„Und was ist mit dem Löwen?“, fragte er fast furchtsam. „Bitte hilf mir weiter, Autumn...“
„Der Löwe?“, erwiderte sie sofort. „Ja, mein Gott, der Löwe! Oh ja – er reißt eine Gazelle! Wie schlimm! Die Menschen reißen die Augen auf und jammern: ,Nein, wie brutal!’ Das können sie ja gut, nicht wahr? So zu jammern? Es hilft ihnen ja, bei ihren ,Begründungen’ zu bleiben! Es hilft ihnen ja, weiterhin nicht zu sehen!“
„Hilf mir zu sehen, Autumn...“, bat er leise, furchtsam vor ihren scharfen Urteilen, selbst fast zitternd wie eine Gazelle.
„Der Löwe...“, sagte sie nun völlig verändert, während sie weiter in die Ferne blickte, fast, als wäre sie in diesem Moment in der freien Serengeti, umgeben von reiner Weite, „kann nicht anders. Es ist seine Natur. Er gehört genauso zum Ganzen wie alles andere auch. Wie die Gazelle. Wie das Nashorn. Wie die Antilope. Wie der Affenbrotbaum. Wie die ganze Savanne! Verstehen Sie? Es ist ein Ganzes. Ein Ganzes! Können die Menschen das so schwer verstehen? Was ein Ganzes ist? Es ist ein Ganzes! Mehr muss man einfach nicht sagen...“
Sie schwieg wie zur Bekräftigung ihrer Worte. Dann blickte sie kurz zu ihm, fast wie um Verständnis bittend – oder sich leise vergewissernd, dass auch er sein Versprechen weiterhin wahrmachte, und mit ihrem Blick ihn stärkend...
„Der Löwe ist doch nun wirklich das schlechteste Beispiel! Er ist doch wirklich eine Art König der Savanne! Und ausgerechnet er soll nun ein Beispiel sein? Wieder eine ,Begründung’? Merken Sie denn nicht, wie die Menschen so absichtlich vom Hundertsten ins Tausende kommen? Wie sie noch in hundert Jahren nicht verstehen werden, wenn sie so weitermachen? Der Löwe! Oh ja, der Löwe...!“
Er liebte ihre Art von Ironie so unendlich – so hatte er sie kennengelernt, und bereits in dieser ,Ironie’ verbarg sich ihre ganze grenzenlose Liebe...
„Der Löwe...“, fuhr sie jetzt wieder warm und erneut eingetaucht in ihre Sphäre der Wahrheit fort, „ist gerade ein Beispiel, an dem man verstehen könnte! Ein Löwe muss fressen – und zwar andere Tiere. Er kann kein Gras fressen! Könnte er es, er würde es ja tun! Im Gegensatz zu gewissen anderen Lebewesen! Aber er kann es nicht! So einfach ist das. Aber ohne die Löwen geriete auch das ganze Gleichgewicht wieder auseinander. Es braucht alles gerade so, wie es ist. Die Savanne braucht den Löwen – und sogar die Gazellen brauchen ihn. Es geht nicht anders. Es ist alles ein großer Friede... Aber das versteht man nur ... wenn man es liebt. Verstehen Sie? Wie soll man es vorher verstehen? Etwa ohne Liebe? Dann versteht man gar nichts.“
Dies war die vielleicht letzte Wahrheit. Ohne Liebe verstand man noch gar nichts. Durch den ihm heiligen Klang ihrer für ihn wunderschönen Stimme begann er, tief und erschütternd zu begreifen...
„Und jetzt sage ich Ihnen noch was. Wussten Sie, dass ein Löwe bis zu zwanzig Stunden am Tag schläft oder einfach nur so daliegt? Ich meine – welches Tier kann wohl friedlicher sein?“
Fast musste er verblüfft auflachen, aber dafür war es zu ernst und zu wahr... Natürlich dachte er auch wieder an die wissenschaftlichen ,Begründungen’, nämlich, dass das Verdauen von Fleischnahrung sehr viel Energie und Ruhe brauchte. Aber die Wahrheit war tatsächlich viel größer als das.
„Oh ja!“, fuhr sie spöttisch fort. „Jetzt kommen wieder die ganz Schlauen, die sagen, eine Antilope liegt ja schwer im Magen – bis die so verdaut ist! Da frage ich mich nur: Wie schaffen es die tierfressenden Menschen, fast vierundzwanzig Stunden am Tag die Welt kaputtzumachen und keine Ruhe zu geben?! Der Löwe macht es ihnen doch vor! Aber nein – anstatt von ihm zu lernen, missbrauchen sie ihn sogar noch als Begründung, dass die Natur genauso unfriedlich sei wie sie selbst! Es ist so hoffnungslos, den Menschen etwas zu erklären...!“
Seine Liebe zu ihr durchbrach in diesem Moment einmal mehr alle Grenzen. Er wusste nicht, wie seine Seele diese Empfindungen überhaupt noch bergen konnte. Er spürte, dass er zu weinen begann...
„Wieso weinen Sie jetzt wieder?“, fragte sie, als auch sie es bemerkte.
„Es ist“, erwiderte er still und friedvoll, „immer wieder neu dasselbe. Ich habe noch nie so eine unbeschreibliche Schönheit erlebt... Es ist, als wenn du mit der Savanne eins wärst...“
Den letzten Satz fügte er hinzu, weil er auch diesen empfand, vor allem aber, um sie nicht wieder zu verlieren.
Sie lächelte.
„Vielleicht bin ich das ja...“