2024
Wissenschaft des Mädchens
Von der Möglichkeit, das Wunder objektiv zu begreifen.
In der folgenden Passage des Romans ,Minne-Wunde/r’ führt die alte und weise Frau Elsa den Protagonist Daniel, welcher hilflos berührt das Mädchen Jasmin liebt [die sich aber selbst den Namen ,Autumn’ gegeben hat], an die Tatsache heran, dass diese Liebe zu einem Mädchen in ihren Gründen ebenso wahr zu beschreiben ist wie andere Tatsachen – dass es mithin eine Wissenschaft des Mädchens und des Mysteriums geben müsse.
„Du musst gar nicht mehr sagen – ich kann in deinem Gesicht lesen wie in einem Buch.“
Er sah sie erstaunt an, noch unbehaglicher.
„Du solltest dich mal sehen, jetzt...“, lächelte sie amüsiert.
Er musste an Autumn denken – sie hätte gelacht... ,Sie sind so schräg...’
Hilflos erwiderte er ihren Blick.
Und die alte Dame wurde wieder ernst.
„Aber du hast völlig Recht, Daniel. Ich habe dein Erlebnis sofort verstanden... Und du hast es wunderbar beschrieben. Von wegen man kann es nicht! Natürlich kann man alles Seelische immer nur um-schreiben - und doch ist dir dies so unglaublich erstaunlich gelungen... Weißt du, warum?“
„Nein... Warum?“
Wieder lächelte sie.
„Weil du liebst... Liebe ist nicht nur der beste Poet. Liebe ist auch die beste Beobachterin. ,Man sieht nur mit dem Herzen gut’ – du weißt ja. Und ebenso beschreibt man nur mit dem Herzen gut... Mir scheint, du machst in letzter Zeit sehr viel mit dem Herzen...“
„Ach Elsa...!“, klagte er. „Ich kann noch gar nichts! So fühle ich mich. Ich kann Autumn immer nur enttäuschen – so fühle ich mich, wirklich! Immer wieder...“
„Entweder“, lächelte sie, „ist sie eine sehr strenge Lehrerin ... oder du machst dir noch immer irgendwelche falschen Hoffnungen ... oder auch beides.“
„Ich liebe sie einfach...“, sagte er leise. „Ich kann mir gar keine Hoffnungen machen. Meine einzige Hoffnung ist, sie noch einmal sehen zu dürfen... Jedes Mal hoffe ich das...“
„Na gut“, lachte sie. „Wenn man sich das fortgesetzt denkt, reicht das auch bis ans Lebensende...“
„Ja“, sagte er schmerzlich. „Aufhören kann ich einfach nicht. Sie ist wie eine Droge. Ich kann nicht aufhören, sie zu lieben. Nicht, solange sie so schön ist wie jetzt...“
„Man hat Drogen und Liebe oft miteinander verglichen“, erwiderte Elsa. „Ich lese das regelmäßig in den Zeitschriften. Man reduziert es da immer auf die Hormone. Spricht von ,Glückshormonen’ und so weiter. Völliger Quatsch! Natürlich werden bei jeder Liebe Hormone ausgeschüttet, die auch rein körperlich zutiefst positive Empfindungen auslösen. ,Positive Verstärkung’ nennt man das. Aber ein Mensch ist doch kein Regelkreis! Und die Frage ist doch – wo kommt die Liebe denn her? Würde sie auch wieder von Hormonen kommen, bisse sich die Katze doch in den Schwanz! Aber so weit fragen die Herren Wissenschaftler schon nicht mehr, lieber leiden sie unter Schwanzbiss, ohne es zuzugeben.“
Er hatte immer leise das leidvolle Gefühl, dass ihm Elsa heute zu viel sprach – oder zu sehr abschweifte.
„Was man nicht zugibt, ist, dass die Parallele zwischen Liebe und Drogen noch viel weitergeht...“
„Wie meinst du das?“, fragte er unsicher.
„Nun ja ... ganz offensichtlich ist auch die Liebe bewusstseinserweiternd – und das ganz ohne Drogen! Ist das nicht sensationell? Aber nein – auch das verbucht man unter ,Subjektivismen’. Ein höchst bequemer Weg, sich nicht mit den Mysterien der Liebe auseinandersetzen zu müssen. Wozu die Wissenschaft, sprich der Intellekt, ja auch gar nicht in der Lage wäre. Aber so erklärt er selbst seine Ablehnung, sich mit der Liebe auseinanderzusetzen, für wissenschaftlich. Ein hoch gekonnter Betrug ersten Ranges...“
„Na ja...“
„Was na ja? Wenn dir diese Liebe so wichtig ist, solltest du auch auf dieser Ebene für sie kämpfen! Sie sozusagen wissenschaftlich begründen lernen...“
„Ist das dein Ernst?“
„Mein voller Ernst.“
„Aber was habe ich davon?“
Die alte Dame schmunzelte.
„Du denkst jetzt wieder, man würde damit auf die Wege des Intellekts geraten, was mit deiner Liebe überhaupt nicht zusammengeht...“
„Vielleicht, ja. Ich verstehe einfach nicht ganz – –“
„Ich meine, wenn Liebe nicht nur ein Gefühl ist, sondern ein Faktum – dann müsste man doch auch erkennend in die Möglichkeit vordringen können, Mysterien zu beschreiben ... oder nicht?“
„Aber worauf willst du hinaus?“
„Auf genau dies.“
„Aber warum? Das ist mir jetzt – – ich weiß nicht ... darüber wollte ich eigentlich gar nicht reden...“
Nun lächelte Elsa voller Güte.
„Nein“, sagte sie warm. „Ich weiß, worüber du reden wolltest. Über Autumn...“
„Ja...“
„Aber ich rede über nichts anderes! Verstehst du?“
„Wie? Nein... Ich verstehe nicht...“
„Wir reden gleich über Autumn, Daniel. Aber wir tun es schon jetzt, verstehst du? Es geht unter anderem darum, dass niemand deine Liebe zu diesem Mädchen versteht. Und warum ist das so? Weil es keine Begriffe dafür gibt. Oder sagen wir: Es gibt Begriffe dafür, aber sie sind falsch – du weißt, welche Begriffe ich meine. Für deine Liebe gibt es keine Begriffe...
Und doch ist deine Liebe ja gleichwohl eine Objektivität, ich meine, ein Faktum. Und sie hat Gründe, die ihrerseits ein Faktum sind. Nur kann man all diese ,Fakten’ nicht beschreiben, begreifen, erfassen, weil es keine Wissenschaft der Mysterien gibt. Die gibt es aber. Man muss sie nur realisieren.“
„Und wie?“, fragte er immer noch abwehrend.
„Indem man den Mut aufbringt, die Wahrheit zu beschreiben – sie in Begriffe zu fassen. Die nicht weniger objektiv sind als die andere Wissenschaft. Und du hast es ja bereits gewagt ... und hast jenen Moment beschrieben, den du als so außerordentlich wahrgenommen hast.“
„Aber das versteht ja niemand!“, klagte er. „Außer du vielleicht...“
„Nein, weil man sich nicht die Mühe macht. Aber wenn man sich nicht die Anfangsgründe der Geometrie aneignet, wird man auch niemals verstehen, wovon jemand spricht, der eine Ellipse beschreibt...“
„Das ist doch nicht dasselbe!“
„Nein. Bei deinen Erlebnissen befinden wir uns auf dem Gebiet der Seele – und das ist bereits fortgeschrittener Boden, also bräuchte es auch eine fortgeschrittene Wissenschaft ... und fortgeschrittene Seelen, die bereit wären, dir zu folgen, wenn du etwas beschreibst... Wer nicht folgt, kann es aber in keiner Wissenschaft zu etwas bringen.“
„Aber ich verstehe noch immer nicht, warum du daraus eine Wissenschaft machen willst!“
„Weil das die andere Hälfte ist, Daniel! Die andere Hälfte des Ernstnehmens. Du nimmst diese Liebe unglaublich ernst – und das ist die andere Hälfte. Diese Liebe ist wahr. Aber um diese Wahrheit zu beweisen, musst du lernen, zu begreifen, warum sie wahr ist. Und genau das ist Wissenschaft. Erkenntnis von Wahrheiten...“
Langsam dämmerte ihm ein Begreifen...
„Du meinst wirklich ... man kann begreifen, warum diese Liebe ... gerechtfertigt ist?“
„Gerechtfertigt und wahr, ja.“
„Aber wie soll das gehen? Ich begreife es ja selbst kaum...“
„Manche Wissenschaftler begreifen ebenfalls kaum noch, womit sie hantieren – aber irgendwie geht es doch. Sie müssen ja Schritt halten.“
„Aber andere kommen dann erst recht nicht mehr mit.“
„Darum geht es auch erst in sekundärer Linie. Entscheidend ist, dass sie mitkommen könnten. Wie ich zum Beispiel.“
„Mir scheint, du bist mir fast sogar voraus...“
Die alte Frau lachte.
„Gut – so könnte man es auch nennen!“
„Also“, erwiderte er konsterniert. „Wenn du willst, kannst du mir meine Liebe ja jetzt mal erklären...“
„Das lasse ich schön bleiben. Außerdem hast du es längst selbst schon oft genug getan. Es geht nur darum, auch das ernst zu nehmen – also auch dich selbst. Und zu erkennen, was an dieser Liebe mit einer tiefen Objektivität zu tun hat.“
„Autumn, Elsa... Autumn ist einfach der objektive Faktor. Ich bin der, der das erkennt. Insofern kann man mir immer Subjektivität vorwerfen – umso mehr, indem niemand anders sich traut, sie zu lieben, von ihr regelrecht umgeworfen zu werden, auf eine neue Umlaufbahn sozusagen. Indem das niemand tut außer mir, bin ich sozusagen das Paradebeispiel des völlig Subjektiven. Aber das ist so falsch wie nur irgendwas. Denn es ist die Wahrheit! Autumn ist ... ein Wunder...“
„Kaum zu glauben, Daniel... Von Null auf hundert in einer einzigen Antwort...“
„Aber das ist doch keine Wissenschaft! Das ist einfach nur eine hilflose Erkenntnis ... ohne dass ich damit einen einzigen anderen Menschen überzeugen könnte!“
„Na ja – dafür, dass die anderen auch Wissenschaftler sind, sind ja sie verantwortlich. Du kannst ja niemanden zwingen. Das ist ja immer so.“
„Aber ich bin doch auch kein Wissenschaftler!“
„Doch, du weißt es nur noch nicht. Du nimmst diese Liebe nicht nur sehr ernst, du weißt auch, dass sie wahr ist – und du weißt sogar, warum. Du musst dies nur in die bewusste Erkenntnis erheben – dann steht die Wissenschaft, die du längst betreibst, völlig da...“
„Ich ,betreibe’ doch keine Wissenschaft! Ich liebe einfach Autumn...!“
„Diese Liebe ist zugleich Wissenschaft, Daniel – und zwar allein schon deshalb, weil du sie dauernd begründen musst. Schon vor dir selbst.“
„Mein Gott, Elsa“, erwiderte er fassungslos. „Glaubst du wirklich?“
„Nicht nur das – sondern ich glaube, diese Liebe hätte, um Wissenschaft zu werden, auch kaum eine bessere Seele finden können, denn du machst dir tatsächlich so tiefe Gedanken...!“
„Ich glaube, ,die Liebe’ hat Besseres zu tun, als Wissenschaft zu werden!“
„Das glaube ich nicht.“
„Ich versteh dich die ganze Zeit immer wieder nicht!“
„Das nehme ich dir nicht übel.“
„Ich sehe die Wissenschaft geradezu als Gegensatz zur Liebe, Elsa!“
„Das ist ja die Tragik – dass sie das heute ist.“
Er schwieg noch immer ratlos.
„Die Liebe“, fuhr Elsa fort, „hat wohl kaum etwas Besseres zu tun, als Wissenschaft zu werden. Wissenschaft bedeutet nicht das, was heute ,Wissenschaft’ bedeutet, sondern es bedeutet: eins mit dem Bewusstsein. Nenne es ruhig: heiliges Wissen. Wahrscheinlich verstehst du jetzt besser, was ich meine. Die Liebe hat natürlich nichts Besseres zu tun, als sich auszubreiten, aber in ihrer Wahrheit. Nur, wie soll sie das machen? Dafür muss sie zu einem heiligen Faktum des Bewusstseins werden – einer erkannten, begriffenen und ergriffenen Wahrheit. Jede Wissenschaft der Liebe bereitet auch der Verwirklichung der Liebe den Weg – allein schon, weil man auch dieser Wissenschaft nur folgen können wird, indem man sie wahrmacht. Zugleich aber hilft diese Wissenschaft dabei, die Liebe wahrzumachen, weil man beginnt zu begreifen... Nicht jeder muss begreifen, warum er liebt – Autumn zum Beispiel schon gar nicht, außerdem weiß sie es auf ihre Weise sehr gut. Aber du versuchst ohnehin schon die ganze Zeit, zu begreifen, warum du Autumn liebst, obwohl du es ebenfalls sehr gut begreifst. Aber gerade deshalb kannst du ruhig noch einen Schritt weitergehen – in deinem Mut zur Objektivität.
Das bedeutet in keiner Weise, aus deiner Liebe oder gar aus Autumn selbst eine Wissenschaft zu machen – und doch genau dies. Aber es ist eine heilige Wissenschaft. Und als solche hat sie kein Objekt, nur ein Subjekt. Sie ist nicht subjektiv, sie reduziert nur nichts zu einem Objekt. Wenn du willst, nenne sie die ,Wissenschaft des Mädchens’... Wohlgemerkt als Subjekt! Auch ein Mädchen würde so Wissenschaft betreiben – und nicht anders.“
„Wissenschaft des Mädchens...?“
„Eine lebendige Wissenschaft, die mit dem Herzen erkennt, aber dies wahrheitsgemäß und nicht einfach subjektiv.“
„Aber wie soll sie das beweisen?“
„Das ist nicht ihre Aufgabe. Es ist genug, dass es die Wahrheit ist. Den Beweis erkennt man, indem man ihr folgt.“
„Okay...“, erwiderte er staunend.
Die alte Dame musterte ihn lächelnd.
„Jetzt habe ich dich ganz schön überfordert, wie?“
„Ziemlich...“
„Feigling!“, sagte sie warm.
„Wie?“
„Du bist ein Feigling, Daniel.“
„Wieso?“, fragte er unbehaglich.
„Weil du es mutiger könntest.“
„Was meinst du?“
„Deine Liebe zu Autumn... Wieso erkennst du das nicht? Dass sie gleichzeitig Wissenschaft ist... Dass du gerade mitten in einer Wissenschaft stehst... Einer dich selbst verwandelnden Wissenschaft, aber nichtsdestoweniger: Wissenschaft...?“
Er wusste noch immer nicht ganz genau, worauf sie hinauswollte.
„Vielleicht...“, erwiderte er zögernd, „Weil ich mir selbst immer wieder unsicher bin ... was ich eigentlich darf ... und was nicht... Und was ich eigentlich liebe ... und was nicht...“
„Ich denke, du liebst sie?“
„Ja – aber nur jetzt? Was ist in einem Jahr? In drei? In zehn? Manchmal habe ich solche Angst, dass sie nur jetzt so grenzenlos schön ist – oder dass ich das nur jetzt finde ... und meine Liebe dadurch unehrlich wird, unwahrhaftig...“
„Entweder es ist so – oder du findest es nur.“
„Aber sie wird doch garantiert immer so schön sein. Ihre ganze Seele. Nur für mich ... wird es sich ändern, weil ... weil ... nichts wieder je so schön sein können wird, wie dieses Mädchen... Es ist einfach unbeschreiblich, Elsa.“
„Also du liebst sie in ihrem jetzigen Zustand.“
„Das hört sich so schlimm an!“, klagte er. „Ich würde sie ganz bestimmt immer lieben... Aber ... ja ... so wie sie jetzt ist ... ist sie ... Elsa, sie ist nur jetzt ein Mysterium! Verstehst du? Sie hat mich jetzt völlig verändert – jetzt, nicht später! Später wird ihre Seele noch immer wunderschön sein, aber ... das Unerklärliche, das Grenzenlose ... das erlebe ich nur jetzt... Diese absolute Schönheit, dieses nicht mehr zu Beschreibende...“
„Erlebst du nur jetzt.“
„Ja...“
„Vielleicht liegt es ja an deinem Erleben.“
„Ja...“, erwiderte er beschämt. „Ich weiß auch nicht... Ich bin einfach völlig hilflos, Elsa. Ich liebe sie, wie sie jetzt ist. Ich ... ich bin einfach unfähig, irgendwann anders das Gleiche zu erleben. Vielleicht liegt es an mir – ich weiß es nicht...“
„Weißt du, was an dir so sympathisch ist, Daniel?“
„Nein, was...“
„Dass du so schnell bereit bist, die Schuld bei dir zu suchen. Das macht dich einerseits sehr offen für neue Wahrheiten ... aber bringt dich auch in Gefahr, wesentliche Wahrheiten nicht zu erkennen ... oder wieder aufzugeben.“
„Was meinst du?“, fragte er unsicher.
„Worüber reden wir denn die ganze Zeit?“, erwiderte sie warm.
„Über Autumn.“
„Ja, genau.“
„Aber niemand würde verstehen, dass ich sie gerade jetzt liebe. Nicht einmal sie würde das verstehen!“
„Nun ja ... sie muss es ja auch gar nicht verstehen. Aber immerhin kommt sie ja einigermaßen damit zurecht, oder nicht?“
„Was willst du mir eigentlich sagen, Elsa?“
„Dass du noch immer ein Feigling bist...“, lächelte sie.
„Warum?“, erwiderte er mit dem Mut der Verzweiflung. „Weil ich mich sogar vor ihr schämen würde, ihr zu sagen, dass ich sie gerade jetzt liebe? Weil ich mich auch vor meiner Frau ständig irgendwo verteidigen muss und schäme, die irgendwann einmal von einer ,Mai-September-Liebe’ gesprochen hat? Was soll ich denn machen?“
„Wissenschaftler werden...“, lächelte sie. „Jetzt weißt du, wozu das gut wäre...“
Er war völlig konsterniert.
„Du willst mir nicht sagen, dass ich wissenschaftlich verteidigen könnte, ein Mädchen zu lieben...“
Sie lächelte.
„Wenn du es unwissenschaftlich kannst, könntest du es wissenschaftlich noch viel besser...“
„Warum glaube ich die ganze Zeit, dass du einen schrecklichen Spaß mit mir treibst, Elsa?“
„Weil selbst dieser Satz nicht stimmt. Irgendetwas in dir mag das glauben – aber auch das nur, weil du an dich selbst nicht glaubst! Und auch nicht an Autumn. Wenn es aber nun wahr ist?“
„Was ist wahr? Dass Autumn eine einzigartige Erscheinung ist? Jetzt und hier?“
„Zum Beispiel...“
„Das kannst du niemandem beweisen. Wissenschaft beschäftigt sich mit Gesetzmäßigkeiten, nicht mit Einzigartigkeit.“
„Nun ja, die erste Gesetzmäßigkeit ist dann wohl, dass in der Regel nie jemand den Mut hat, wirklich einzigartig zu sein... Schon gar nicht auf solche Weise, dass er aus den üblichen Gesetzmäßigkeiten heraustritt in ganz neue ... denn auch die Liebe hat ihre Gesetze. Auch Autumn handelt nach Gesetzen – aber nach ihren...“
„Du glaubst wirklich...“, brachte er fassungslos hervor, „dass man ... das alles beschreiben könnte?“
„Das Beschreiben wäre die nächste Kunst. Zunächst einmal geht es um die Kunst des Erkennens. Wissenschaft beginnt da. Es geht um die Erkenntnis von Wahrheiten. Und wenn etwas einzigartig ist, warum sollte man nicht auch das erkennen können? Man muss es doch wohl erkennen – wie sollte man es sonst überhaupt aussprechen können?“
„Man erkennt es im Gegensatz. Im Vergleich mit sich selbst und auch allen anderen...“
„Wie auch immer – es ist eine Erkenntnis. Und zwar eine exakte und gültige. Es ist unbezweifelbar eine Erkenntnis.“
„Aber damit ist es noch keine Wissenschaft.“
„Richtig. Wissenschaft wird es da, wo man es vor sich begründen kann. Warum diese Erkenntnis wahr ist. Das sollte nicht so schwer sein. Denn die Erkenntnis hat man ja schon...“
„Warum es wahr ist?! Natürlich ist das schwer...“
„Gut, dann ist es eben schwer. Trotzdem hat man die Erkenntnis. Es sollte nicht allzu schwer sein...“
„Du machst dich noch immer lustig...“
„Daniel! Es reicht, wenn du tastend vorgehst. Deine Begriffe müssen nicht von Anfang an hieb- und stichfest sein. Es reicht, wenn du selbst langsam begreifst, wie weit die Objektivität und die Wahrheit geht. Um die Beweiskraft deiner Erkenntnisse mach dir erstmal keine Sorgen, die erweist sich dann von ganz allein.“
„Vielleicht will ich es auch gar nicht beweisen... Ich meine, jeder Beweis ist dann auch wieder etwas Totes...“
„Nicht, wenn er nur da gültig ist, wo etwas lebendig erkannt wird. Nur die Lebendigen werden diesen Beweisen folgen können. Du vergisst, dass es nur darum geht, sich etwas bewusst zu machen.“
„Vielleicht geht es ja schon dadurch verloren... Vielleicht kann es überhaupt keine Wissenschaft des Wunders geben – weil das Wunder davon lebt, nicht voll erkannt zu werden.“
„Ich verstehe, was du meinst. Du sollst ja auch nur so weit gehen wie du willst. Aber wenn du dich selbst fragst, warum du Autumn liebst, bist du doch schon auf dem Weg...“
„Du hast Recht...“
Sie lächelte, als wenn sie sagen wollte: ,Das weißt du doch inzwischen nun schon...’
Er sann lange nach – und das stille Warten seiner alten Freundin gab ihm ein tiefes Gefühl des Zuhause-Seins.
„Egal zu welchen Begriffen man kommt, Elsa“, sagte er schließlich, „sie treffen es nie wirklich. Weil es um sie geht – um dieses Mädchen und kein anderes... Es sind dann letztlich nur Begriffe, und niemand wird wissen, wie dieses Mädchen wirklich ist, wie einzigartig, wie berührend...“
Elsa nickte langsam.
„Ja – das ist eine Schwierigkeit. Aber vielleicht reicht erst einmal dieser Anfang. Dass man überhaupt weiß, aus welchen Elementen das Mysterium besteht, erst einmal im Allgemeinen. Und am Ende kommt noch das Mysterium der Individualität hinzu – dass es erst völlig erfüllt...“
„Aber ohne das geht es gar nicht! Ich kann nicht einmal beschreiben, wie sie lacht – weil nur sie es so tut!“
„Aber einige Elemente hattest du doch schon, Daniel. Denk doch nur einmal an die ,Bedingungslosigkeit’...“
„Ja – aber das wird doch auch nur ein Begriff, wenn man nicht erlebt, wie sie das macht... Wie es einen bei ihr berührt und nicht im Allgemeinen...“
„Es würde auch bei jedem anderen Mädchen berühren.“
„Aber nicht so.“
„Warum nicht?“
„Weil es bei ihr so ehrlich ist, so selbstlos, so voller Hingabe... Oder auch Mut – Mut, sich völlig allein hinzustellen.“
„Okay – mach weiter...“
„Ich finde ihre dunklen Augen so wunderschön... Das erscheint jetzt so unglaublich subjektiv... Aber ihre Augenbrauen, ihre Haare und dazu ihre Augen... Ihr Blick, ihr Mund, ihre Nase ... es ist alles so eine berührende Einheit... Und darin liegt ihre tiefe Aufrichtigkeit, ihre selbstlose Liebe gegenüber den Tieren. Diese fast schwarzen Augen verbergen nichts, im Gegenteil, sie leuchten wie die Nacht, wie treue Sterne, wie Samt...“
„Wie die Nacht?“
Wie etwas unendlich Warmes... Aber sie verteidigt die Tiere. Sie kann auch sehr streng sein, sehr oft sogar. Aber dahinter ist diese unglaubliche Wärme... Eine dunkle, verborgene Wärme, die gar nicht hervorkommen kann, weil die Welt so schlecht ist... Aber sie ist da... Wie die Nacht. Heilig und voller Geborgenheit... Diese Augen sind so wunderschön, Elsa...“
„Es ist interessant, dass du von der Nacht sprichst. Von dem Stern. Meistens spricht man ja bei geliebten weiblichen Wesen eher von einer Sonne, einem leuchtenden Etwas...“
„Aber dafür ist es zu ernst. Ich denke, auch sie hat unter viel zu vielen Dingen zu leiden, die einfach so sind, wie sie sind. Sie ist wie die einzige Wahrhaftige unter so viel ... ja, vielleicht einfach Dummheit... Aber eben auch mangelnder Liebe. Bei ihr ist die Liebe gar nicht offensichtlich, aber lebt dicht unter der Oberfläche in einer ungeheuren Intensität... Und in solchen Momenten wie diesem im Park ... offenbart sich dann dieses Wunder ... diese völlig rückhaltlose zarte Liebe ... sie hat die Tauben regelrecht angezogen, Elsa! Es war so berührend, diese unglaubliche Liebe zu sehen! Und dieser eine Laut... Der dies alles noch einmal offenbarte... Und ihre Stimme ist so schon so wunderschön...! Aber man kann es wirklich nicht weiter beschreiben. Da war nur noch Liebe... Und auch in mir... Ich liebe dieses Mädchen so wahnsinnig... Ich würde für sie alles tun... Und das alles liegt schon in diesen nachtsamtenen Augen...“
„Es ist wirklich außergewöhnlich, dass du immer wieder auf die Nacht zurückkommst. Ich musste schon vorhin die ganze Zeit an Novalis denken, der in der Nacht eine wahre Ewigkeit sah – allerdings war seine Geliebte auch gestorben, und er fand sie gleichsam im Reich der Nacht wieder, im Reich des Mysteriums der Nacht...“
„Hmm. Novalis sagt mir gar nichts. Außer das Stichwort Romantik vielleicht...“
„Das ist viel zu wenig! Novalis war weit mehr als ein Romantiker. Er war wirklich ein berührendes Genie der Seele und des Geistes. Und: auch seine Geliebte war ein Mädchen...“
„Wirklich?“
„Ja, sie war fast dreizehn, als sie sich kennenlernten, und fünfzehn, als er sie verlor...“
„Warum?“
„Sie hatte eine unheilbare Krankheit, Schwindsucht oder Tuberkulose oder so etwas...“
„Und ... hat sie ihn etwa auch geliebt?“
„Sie hat zumindest der Verlobung zugesagt. Was genau sie für ihn empfand, kann man wohl nicht wirklich sagen. Aber zugetan war sie ihm auf jeden Fall...“
„Und ... hat er vielleicht hinterlassen, was er in ihr sah? Hatte er eine ... Wissenschaft der Liebe?“
„Soweit ich weiß, sah er in ihr sein besseres Selbst... Eine Art Ideal. Er war ja überhaupt der Meister des Idealisierens, des Romantisierens, wie er es nannte...“
„Des Romantisierens...“
„Ja, aber nicht im Sinne der späteren Romantik, sondern im Sinne eines ganz realen Ideals. Für ihn war das eine tiefe Wirklichkeit. Er wollte, dass die Menschen lernen, sich in einen ganz anderen Seinszustand zu erheben – einen Zustand, in dem das Ideal tatsächlich Wirklichkeit wird.“
„Bei Autumn ist das so...“, sagte er leise.
„Ja. Aber bei Novalis war dies ein Geschehen für den erwachsenen Geist. Es ging ihm wirklich um eine Verwandlung des Denkens. Bei ihm war sozusagen das Idealisieren eine Wissenschaft. Ein völlig objektiver Vorgang. Etwas vollkommen Bewusstes. Sozusagen der Entschluss, aus nicht weniger heraus zu leben als aus dem Ideal. Das war nichts für weltfremde Romantiker, das war etwas für die mutvollsten Geister überhaupt...“
„Woher weißt du das alles so genau?“
„Na ja... Wenn man sich mit der Anthroposophie beschäftigt, ist der Weg zum Deutschen Idealismus, dessen Hauptvertreter Novalis gerade war, nicht sehr weit. Und ich habe diesen Geist immer sehr geliebt – gerade auch wegen ... seiner Bedingungslosigkeit...“
Die alte Frau schmunzelte.
„Bedingungslosigkeit?“
„Ja – er war eben auf andere Weise sehr bedingungslos. Autumn ist es in Bezug auf die Tiere. Er war es in Bezug auf das Ideal. Sozusagen auf den Menschen an sich.“
„Das klingt jetzt fast herabsetzend in Bezug auf Autumn. Als wären es nur die Tiere...“
„Nein, so habe ich es absolut nicht gemeint. Und ich glaube, Novalis hätte sich sofort in Autumn verliebt. Soviel zur tiefen Wahrheit deiner Empfindungen... Ich wollte nur sagen ... Autumn kann noch gar nicht so weit denken wie Novalis es mit Mitte zwanzig konnte, als genialer Geist, wohlgemerkt. Ich glaube, Autumn ist gar nicht so außergewöhnlich – sie ist sehr wohl ein Genie des Herzens, aber andererseits ein ganz normales Mädchen, und es sagt viel über unsere Zeit aus, dass sie so einzigartig dasteht, während alle anderen sich um ihre kleinen Dinge kümmern. Aber Novalis war wirklich ein Genie der Menschheit, ein Genie der Seele und des Geistes. Man könnte ihn als Genius Europas bezeichnen... Der gute Geist Europas. Auch er starb sehr jung, ebenfalls noch nicht einmal dreißig. Er ist sozusagen der jugendliche Geist schlechthin...“
Er konnte nicht so ganz folgen – zu sehr liebte er dieses Mädchen...
Seine weise Freundin lächelte.
„Na gut, ich sehe, du nimmst mir meine Worte doch etwas übel...“
„Nicht übel, aber – –“
„Ist schon gut, Daniel. Ich finde deine Liebe zu ihr ja selbst sehr berührend. Du hast auch etwas sehr Bedingungsloses...“
Das tröstete ihn wieder...
„Weißt du – um dich wieder zu versöhnen... Natürlich ist Autumn außergewöhnlich. Das habe ich ja selbst öfter gesagt. Und ich habe neulich [...]“