2024
Die ,Entsorgung’ von Schneewittchen
Vom Verlust der Unschuld.
Die folgende Leseprobe des Romans ,Schüchternes Leuchten’ macht die Reinheit des Märchen-Urbildes ,Schneewittchen’ tiefer erlebbar – aus der Sicht eines 23-jährigen jungen Mannes, der sich aber sehr scheu in ein erst vierzehnjähriges Mädchen verliebt habt.
Nicht umsonst hatte so ein Märchen wie ,Schneewittchen’ immer eine tiefe Faszination auf ihn ausgeübt, seit er denken konnte wie ein Junge... Da waren bestimmte Kindheitserinnerungen, die aufragten wie Felsen aus einem Meer, wie Berge in einer mythischen Landschaft... Hier mal ein Urlaub mit ein paar Erinnerungsfetzen. Dort ein Moment aus der Schule. Dies und jenes. Auch ein, zwei Kinderbücher, die er bis heute liebte, obwohl er sie nicht mehr las und sie nur noch in seinem Regal standen, gleichsam wie stille Zeugen, derer er sich vielleicht auch schämte, weil er längst ,zu alt’ dafür war – andere Leute packten ihre Kindheitslektüre in Kartons und verstauten sie irgendwo, aber wegwerfen taten sie sie dann wiederum auch nicht...
Ja, und dann war da so ein Märchen wie ,Schneewittchen’, das wie ein heiliger Berg aus seinen Kindheitserinnerungen hinaufragte – und bis in die Gegenwart reichte. Weil er ja wusste, dass so etwas heute völlig ,out’ war, ja geradezu bedenklich, würde er nie jemandem auch nur eine Andeutung davon machen, wie sehr ihn dies berührte – die Vorstellung des wehrlos und hilflos in einer Art Todesschlaf daliegenden Schneewittchen, das aber schöner war als alle Frauen und Mädchen im ganzen Königreich...
Er konnte einfach nicht verstehen, wie diese Vorstellung, dieses Bild, dieses Märchen heute regelrecht ,verboten’ sein konnte. Wieso man sich dies nicht mehr vorstellen durfte. Als ein heiliges Bild in seinem Herzen tragen durfte... Er konnte nicht verstehen, wie man etwas anderes jemals als berührender empfinden konnte – wahrscheinlich dachte man gar nicht mehr an solche Fragen, man verdrängte es einfach. Weil einen ja ganz andere Dinge interessierten – zum Beispiel Handys. Weil man einfach oberflächlicher wurde, als Gesellschaft, alle. Da brauchte man so ,Märchen’ einfach nicht mehr. Sie waren sowieso nicht mehr ,passend’, waren eher ,peinlich’, also weg damit... So funktionierte das...
Er konnte das nicht verstehen. Wie konnte man bei Schneewittchen sagen: weg damit? Das war wie eine ... Gotteslästerung. Er glaubte nicht an einen Gott, hatte sich auch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, hatte ganz andere Sehnsüchte – aber bei der Art, wie man heute mit Märchen, ganz besonders aber so einem Märchen wie ,Schneewittchen’ umging, konnte man nur dieses Gefühl bekommen: die Schändung von etwas Heiligem... Den Leuten war heute nichts mehr heilig – ihm schon. Und Schneewittchen gehörte eben dazu. Es gab doch eigentlich ... überhaupt nichts Heiligeres als so ein grenzenlos schönes Mädchen, das in seiner unschuldigen Schönheit alles überleuchtete, wie eine Sonne ... während der Boden, über den sie ging, Blumen aller Art hervorbringen würde, wäre es ihm möglich...
Man sah die Schönheit nicht mehr, weil man allenfalls noch Hollywood sah und anschaute und genoss. Man wollte sich unterhalten lassen, aber man wollte nicht mehr die wirkliche Schönheit empfinden. Selbst Hollywood traute sich das nicht mehr. Würde Hollywood heute noch einen ,Schneewittchen’-Film drehen, war völlig klar, wie das werden würde. Schneewittchen musste selbstbewusst daherkommen. Vielleicht etwas unverstanden, vielleicht gemobbt, aber sich seines eigenen Wertes sehr wohl bewusst. Trotzdem würde sie es vielleicht nicht ganz alleine schaffen, sich gegen das Unrecht zu wehren. Irgendein Junge würde ihr dann helfen, und dann würde das ganze wahre Wesen von ihr endlich sichtbar werden, und alles wäre gut .. Happy End, Feuerwerk...
Hilflos dürfte dieses Schneewittchen gar nicht sein. Es hätte nicht einmal mehr diesen Namen. Es wäre sehr modern, wahrscheinlich hätte es keine glatten Haare, sondern Locken. Wahrscheinlich hätte es keine unschuldigen Augen, sondern sehr selbstbewusste – und so war es auch nicht hilflos, es wurde von dem Mobbing nur überwältigt – also von etwas, gegen das man gar nichts tun konnte. Im Übrigen wäre sie fast so wie jedes andere Mädchen, denn das war ja die heutige Botschaft, dahinter konnte man ja gar nicht mehr zurück. Schneewittchen durfte heute nicht mehr Schneewittchen heißen, und es durfte sich auch kaum von allen anderen Mädchen unterscheiden. Und trotzdem würde man es die ,moderne Fassung von Schneewittchen’ nennen und das Thema also auf diese Weise ausschlachten. Genau. Es war ein Ausschlachten. Man zerlegte es bis auf die Eingeweide und nahm sich heraus, was man noch ,benutzen’ und weiterverwerten konnte...
Es war eigentlich der völlige Verrat. Man hatte das Märchen bis zur Unkenntlichkeit verraten und verändert. Verstümmelt und eben wirklich geschändet. Man hatte aus dem wirklichen Schneewittchen das nahezu komplette Gegenteil gemacht. Eben ein Mädchen wie jedes andere. Und Schneewittchen war aber ein Mädchen wie kein anderes.
Das war der Punkt. Das ertrug man heute nicht mehr. Nicht nur nicht, dass ein Mädchen schöner war als jedes andere. Sondern, viel mehr noch, dass es unschuldiger war als jedes andere... Hier setzte das Denken dann aus. Das durfte man nicht mehr denken, nicht mehr sagen, nicht mehr sich danach sehnen. Man durfte eigentlich gar nichts mehr. Ein Mädchen hatte nicht mehr unschuldig zu sein – und wer sich das noch wünschte, war einer dieser ... wie nannte man es noch gleich? Unterdrücker... Ach ja, Patriarchat, genau, einer dieser patriarchischen – oder patriarchalischen? – Idioten, die Frauen unterdrückten. Oder Mädchen. Also war es verboten. Weil man sonst so einer war... Wenn man das unschuldige Mädchen als ein Ideal in seiner Seele trug. Dann war man patriarchalisch und Unterdrücker und so was wie rechtsradikal und all dies zusammen. Man war Vergangenheit – und gehörte genauso entsorgt wie Schneewittchen, weil man die andere Hälfte war. Die, die Mädchen und Frauen unterdrücken wollte.
Er konnte das nicht verstehen. Selbstverständlich gab es Männer, die Frauen unterdrückten. Oder Jungen, die Mädchen unterdrückten. Er würde das nie tun können – gar nicht können! Wie konnte man etwas unterdrücken, was man liebte? So sehr? Als etwas Heiliges... Aber er sehnte sich eben nach so einem unschuldigen Schneewittchen – und wahrscheinlich war eben das schon der Fehler, in den Augen all dieser anderen, die das längst ,entsorgt’ hatten und verurteilten. Man sehnte sich nach dem, was sich nicht wehren konnte. Und warum? Dafür hatte er dann auch keine Begründung. Gegen diese Frage konnte er sich dann auch nicht wehren... Es war einfach nur grenzenlos berührend... Im Gegensatz zu all denen, die so selbstbewusst daherkamen...
Aha! würden die anderen dann sagen. Er sehnte sich also nach einem Mädchen ohne Selbstbewusstsein. Und wenn es so wäre? Aha! würden die anderen sagen. Damit du mit deinem mangelnden Selbstbewusstsein ihr eben noch immer überlegen wärst. Vielleicht war es so. Vielleicht hatten all diese verdammten Stimmen Recht – aber dieses Wort ,überlegen’ gab es in seinem Wortschatz überhaupt nicht. Die Liebe kannte dieses Wort einfach nicht. Es war anders, aber er konnte es nicht ,begründen’, er war diesen Vorwürfen wehrlos ausgesetzt. So wehrlos wie Schneewittchen. Vielleicht liebte er sie einfach deshalb...
Er sehnte sich nach einem Mädchen, mit dem es diese ganzen Kämpfe nicht gab – und, ja, er sehnte sich nach der Unschuld an sich. Ein unschuldiges Mädchen würde nie kämpfen – warum auch? Die Unschuld kämpfte nicht. Sie litt einfach – aber bei ihm würde sie eben gar nicht leiden, bei ihm würde sie geliebt werden, über alles, verehrt wie eine zarte Königin... Schneewittchen... Er würde ein Schneewittchen grenzenlos verehren. Er würde ihr zu Füßen liegen ... und sie würde ihn sanft und zärtlich aufrichten und ihn als ihresgleichen betrachten...
Er verstand nur eines: Die Unschuld durfte heute nicht mehr sein. Und schon wer sie sich wünschte, war unten durch – war schlecht, stand auf der falschen Seite, unterstützte das Patriarchat, unterstütze die Unterdrückung, unterstützte die Vergangenheit. Deswegen musste auch das ,Schneewittchen’ entsorgt werden. Es tat so weh. Es war so ein grenzenloser Verrat ... aber er fand einfach nicht den exakten Punkt, wo es nicht stimmte. Er wusste ja selbst, dass sein geringes Selbstbewusstsein hier ganz real mitspielte. Die beiden Jungs neben ihm interessierte das Schneewittchen kein bisschen. Aber auch das war ja wieder ein ungeheurer Fehler... Aber wie sollte man das begründen, wie konnte man das verteidigen, diese Erkenntnis? Dass die Entsorgung von Schneewittchen eine Schändung war? Wie konnte man das ... beweisen? Er fühlte sich so hilflos...