2024
Über die Liebe zur Unschuld
Vorurteile und tiefere Wahrheiten.
Die folgende Leseprobe des Romans ,Schüchternes Leuchten’ führt in die Frage hinein, warum ein Mann – in diesem Fall der 23-jährige Christian – sich in ein Mädchen verlieben kann.
„Mein Vater wird sagen, ich habe nur Angst, eine Frau in meinem Alter kennenzulernen...“
Seine Oma sah ihn an.
„Und was würdest du sagen?“
Wieder nahm er allen Mut zusammen. Er wollte einfach nicht lügen oder irgendetwas verbergen. Nicht mehr. Er wollte es einfach nicht mehr.
„Ich weiß nicht... Die sind mir alle zu selbstständig...“
„Und das Mädchen noch nicht?“
„Nicht so...“
„Nicht wie?“
„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“
„Dann versuch es.“
Er versank in Nachdenken.
„Ich glaube nicht, dass mich eine Frau wirklich lieben kann...“
„Was heißt ,wirklich’?“
„Dass sie es sich zum Beispiel nicht nach zwei Monaten anders überlegt...“
„Warum sollte sie das tun?“
„Weil sie mich zum Beispiel langweilig findet.“
„Bist du ja aber doch nicht.“
„Aber sie könnte es finden, Mareike. Die Frauen heute sind einfach zu ,selbstständig’ – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll...“
„Was genau meinst du mit ,selbstständig’? Beschreib es noch anders...“
„Ich meine, dass mich keine Frau lieben kann.“
„Hast du es denn schon versucht?“
„Nein.“
„Wie oft hast du dich denn schon verliebt?“
„In Frauen?“
„Ja.“
„Noch nicht so richtig... Weil sie eben so sind...“
„So selbstständig?“
„Ja...“
„Also du würdest dich mehr ... in die unselbstständigen verlieben?“
„Nein ... eigentlich eher in die ... mehr unschuldigen... Aber das gibt es eben nicht...“
„Und dieses Mädchen ... ist ... unschuldig?“
„Nein, sicher auch nicht... Aber sie ist wunderschön... Ich kann es nicht beschreiben...“
„Versuch es.“
„Sie ist wie ein Ideal... Sie ist wunderschön. Sie ist so ... dass man ... dass man glauben kann, sie könnte unendlich unschuldig sein ... auch wenn sie es nicht ist...“
„Ah, ich verstehe!“, sagte seine Oma. „Das ist ja interessant... Das habe ich so noch überhaupt nie gehört!“
„Findest du das blöd...?“
„Nein, ich staune nur... Im Grunde ... im Grunde hätte mir das doch längst irgendwie klar sein müssen ... jetzt kenne ich dich schon so lange...!“
„Wieso klar sein? Was meinst du?“
„Einfach nur das, was ich gesagt habe. Dass du die Unschuld liebst! Das – das hätte mir schon längst früher klar sein müssen. Ich meine klarer, als es mir war...“
„War es dir denn klar?“, murmelte er.
Er wusste nicht, wie klar es ihm selbst gewesen war...
„Christian...“, sagte sie warm. „Natürlich war es mir klar... Du bist doch selbst so unschuldig...“
„Ich? Wieso ich?“, fragte er verlegen.
Es war ihm peinlich. Schließlich war er ein Junge, ein Mann, ein junger Mann...
„Ist so. Welcher junge Mann besucht zum Beispiel noch regelmäßig seine Oma – statt irgendwas mit Freunden zu unternehmen, die du nicht hast, weil es auch niemanden sonst gibt, der so ist wie du... Sagen wir nicht ,unschuldig’, sagen wir schüchtern... Aber das ist nicht viel etwas anderes...“
„Aber das ist so peinlich...! Wieso bin ich so...?“
Er fragte es in einem Anflug von Selbstmitleid, von Schmerz über alles, was er in den letzten Jahren auf diese Weise erlebt hatte.
„Ich kann es dir sagen, Christian...“
Er sah seine Oma erstaunt an.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Dann ... dann sag es doch...?“
Sie musterte ihn einige Momente liebevoll.
Er ertrug ihren Blick sehr verlegen.
Sie atmete einmal tief durch. Dann begann sie zu sprechen.
„Du bist sehr tiefsinnig... Du machst dir viele Gedanken. Du hörst sehr aufrichtig zu, fast hingebungsvoll. Du bist schüchtern, aber auch sehr aufrichtig. Das bedeutet nicht, dass man stets alles sagt – es bedeutet nur, dass man insbesondere den Menschen, denen man vertraut, wesentlich mehr sagt, als es die meisten anderen Menschen tun. Aufrichtig, ehrlich, wahrheitsliebend – und wahrheitssuchend, das ist auch selten geworden...
Dann bist du sehr idealistisch. Wenn ich höre, was du von deiner Ausbildung erzählst, höre ich heraus, dass du wirklich anderen hilfsbedürftigen Menschen helfen willst und darunter leidest, wie es läuft. Wir haben ja schon oft darüber gesprochen! Du resignierst nicht, du bist nicht abgebrüht, schon gar nicht ,cool’, du bist offen und empfindsam. Ja, empfindsam. Man merkt das vielleicht nicht sofort, weil du auch sehr still bist, aber die Stille ist ja doch die Voraussetzung für das Empfindsame.
Ich sage nicht, dass du super-empathisch bist, und doch hast du mehr Empathie als die meisten. Jeder möchte heute Beachtung, du natürlich auch. Aber gleichzeitig weiß kaum noch jemand, was es heißt, Beachtung zu schenken. Du aber, Christian, du kannst das noch. Du kannst unglaublich gut zuhören. Teilweise deswegen, weil du selbst nicht weißt, was du sagen sollst, aber wirklich auch als Fähigkeit. Das konntest du schon sehr früh. Und hast es einfach nicht verlernt, vielmehr immer weiter vertieft. Ich könnte mir vorstellen, wenn ,dein’ Mädchen merkt, wie gut du zuhören kannst, hast du ihr Herz schon halb gewonnen...
Aber noch einmal zum Idealismus... Auch wenn wir über Politik und so weiter gesprochen haben, habe ich immer wieder bemerkt, dass bei dir Ideale sehr rein da sind. Ich rede auch mit anderen jungen Leuten – nicht ständig und nicht jeden Tag, aber doch immer wieder mal. Auch andere junge Leute haben Ideale, aber bei den meisten ist das irgendwo eine Art ,Abteilung’ in der Seele. Und dann gibt es andere Abteilungen für Genuss, Spaß, Feten, dies und jenes, Sport natürlich, Musik, Freunde, teilweise Dutzende von Abteilungen, Studium, Freizeit, Hobbys, das geht immer weiter.
Ja, und bei dir ... ist das irgendwie viel reiner, viel durchdringender ... bedingungsloser... Auf eine feine, subtile Weise. Das muss dir selbst gar nicht klar sein – aber es ist so.
Ideale sind aber das, was die Seele unschuldig macht – oder sagen wir: bleiben lässt. Ich nehme an, in deiner Seele lebt auch ein Ideal in Bezug auf das Zuhören. Und in Bezug auf noch sehr vieles andere. Deswegen ... ist es kein Wunder, sondern eine Art heiliger Konsequenz, dass du auch selbst die Unschuld liebst... Nein – es ist wirklich kein Wunder...“
Diese lange Rede ließ ihn erst einmal betroffen zurück – so viel hatte er noch nie über sich sagen hören, und er hatte wahrscheinlich überhaupt nur die Hälfte wirklich aufnehmen können, er war regelrecht fassungslos, dass jemand so viel über ihn wissen konnte, scheinbar noch viel, viel mehr als er selbst...
Als er sich von dem ersten ,Schock’ erholt hatte, brachte er heraus:
„Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll...“
„Du brauchst nichts zu sagen... Ich muss außerdem sowieso einmal kurz auf die Toilette...“
Selbst die Toilettenpausen stimmten bei seiner Oma immer wie ein kleines Wunder zur Situation. Trotzdem war er sicher, dass sie auch wirklich musste.
Als sie zurückkam, sah er sie verlegen an.
Sie lächelte und sagte:
„Ja, siehst du? Soviel zur Unschuld...“
„Mhm...“
Er nickte verlegen.
„Unschuldig schwieg er...“, lächelte sie.
Er lächelte ertappt ebenfalls und erwiderte ihren Blick.
„Ich dachte ...“, sagte er dann zögernd, „du würdest es ,blöd’ finden ... wegen der Emanzipation und so...“
„Das mit der Unschuld? Dass du unschuldige Frauen und Mädchen liebst?“
„Ja...“
Sie atmete einmal tief durch.
„Ich nehme an, weil ich nicht sehr unschuldig bin?“
Er sah sie erstaunt an.
„Vielleicht, ja...“, lächelte er verlegen.
Sie sann etwas nach.
„Ich glaube...“, sagte sie dann, langsam ansetzend, „dass ein Teil dessen, was wir im allgemeinen ,Unschuld’ nennen, nur gehemmtes Wachstum ist...“
Ihm wurde unbehaglich.
„Ein Teil!“, fuhr sie jedoch fort. „Ein Teil, verstehst du? Aber ... ich maße mir nicht an, über die Unschuld zu urteilen. Vielmehr glaube ich, dass man sehr, sehr bescheiden werden muss, um urteilen zu können... Ich habe den Weg der Befreiung gewählt, Christian. Mein Leben lang wollte ich mich nicht hemmen lassen in meinem Wachstum. Und das habe ich geschafft.
Aber ich maße mir nicht an, über die Unschuld zu urteilen! Ja, es gibt Unschuld. Und ich bin nicht mehr unschuldig. Ich bin den anderen Weg gegangen. Ich habe mir die Ideale ebenso bewahrt wie du, so gesehen bin auch ich unschuldig. Aber es ist nicht dieselbe Unschuld. Und du gehst einen sehr anderen Weg, Christian. Deine Art ist eine andere. Teilweise bist du gehemmt, durch Angst, durch eine Erziehung, die viel zu viel geurteilt hat – aber das ist nicht alles. Daneben und mitten hindurch verläuft ein Strom der Unschuld, der ganz dein eigener ist.
Ich könnte das nie beweisen, aber ich sehe es. Vielleicht sind es auch nur zwei Seiten derselben Medaille. Aber ich sehe den Wert der Unschuld, Christian, ich sehe den Wert... Und das sage ich mit meinem ganz anderen Weg...“
Wieder schwieg er betroffen. Dann sagte er leise:
„Ich habe immer das Märchen von ,Schneewittchen’ gemocht... Das kann man heute wahrscheinlich niemandem mehr erzählen, oder?“
Seine Oma lachte kurz gerührt auf.
„Nein – wahrscheinlich nicht...“
„Aber du ... verstehst es?“
Sie lächelte mit einer unglaublichen Wärme.
„Ich verstehe alles, Christian. Ich habe von dir noch nie etwas nicht verstanden...“
Ihm traten Tränen in die Augen.
Hilflos musste er einmal fast aufschluchzen. Dann musste er sich die Augen wischen.
,Tschuldigung – –“
„Ich verstehe sogar“, sagte sie leise, „dass du dich entschuldigst... Ich verstehe nur nicht, warum es mir nicht gelingt, dich verstehen zu lassen, dass du das nicht musst...“
Er musste einmal hilflos lachen.
„Ich versuche es...“, brachte er hervor, völlig hilflos.
Kurz fühlte er sich wie in einem Reich, in dem die Zeit langsam aufhörte, einfach nicht mehr existierte...
„Die Märchen...“, sagte sie dann leise, „sind aus anthroposophischer Sicht Bilder für die Seele überhaupt. So gesehen wäre Schneewittchen einfach das Bild für die reine Seele an sich. Jeder Mensch sollte am Ende der Entwicklung, also nach vielen, vielen Leben, eine reine Seele haben. Und sich in jedem Leben um Schritte in diese Richtung bemühen. Der Mensch wird im Laufe der Entwicklung nun einmal schuldig, geht durch den Verlust der Unschuld hindurch, zumindest die ganze Menschheit tut das...
Aber die Märchen sind Bilder für das Ziel der Menschheitsentwicklung. Und das ist die wiedergewonnene Unschuld. Die Läuterung der Seele durch ein bedingungslos aufrichtiges Wahrmachen von Idealen, auch ihrem eigenen Ideal: Was ist der Mensch in Wahrheit?
Für das alles steht Schneewittchen auch. Aber natürlich ist sie nun einmal auch eine junge Frau oder ein Mädchen – und als solches trifft sie das Herz eines selbst sehr unschuldigen Jungen oder jungen Mannes natürlich mit einer Heftigkeit, die man sich wahrscheinlich kaum vorstellen kann, jedenfalls nicht als Frau...“
„Ja...“, brachte er leise hervor. „Ich glaube, du bist die Einzige, die mich versteht, Mareike... Ich kann es nicht glauben... Ich wusste nicht – – dass wir heute – – über all das sprechen – –!“
„Dafür sind Großmütter im allgemeinen da... Sie sollten gütig und weise sein ... wenn sie schon nicht mehr unschuldig sind...“
Wieder musste er, halb den Tränen nahe, gerührt auflachen.
„Klar... Und es wimmelt auf der Welt von solchen Großmüttern...“
„Das habe ich nicht gesagt... Es war ein deutlicher Seitenhieb gegen meine eigene Generation... Ohne mich jetzt hervorheben zu wollen...“
„Ich sage nur: Licht...“, erwiderte er.
Sie musste unmittelbar auflachen.
„Ich wollte nicht angeben“, sagte sie. „Das meinte ich...“
„Okay... Das tust du sowieso nie...“
„Aber jetzt einmal im Ernst, Christian. Ja – ich verstehe dich. Und das ist nicht so schwer...“
Er sah sie erneut betroffen an.
„Aber es tut doch sonst keiner.“
„Daran siehst du, wie wenig man sich heute um die innere Entwicklung kümmert. Unsere ganze Zivilisation tut nichts dergleichen... Aber schwer wäre es nicht. Man tut es schlicht nicht.“
Er versank in Schweigen.
„Und ihr müsst es ausbaden – ihr jungen Menschen, und die unschuldigen ganz besonders. Diese ganze Kultur ist so unglaublich schuldig – und weiß noch nicht einmal, was ihre Schuld ist. Weil man heute einfach alles verleugnet, sogar noch die simpelsten Wahrheiten...“
„Welche denn?“
„Dass der Mensch ein seelisch-geistiges Wesen ist. Dass er als solches in Materialismus, Spaß und Genuss nicht aufgehen kann, sondern Wahrheit sucht, Aufrichtigkeit, Ideale, Unschuld ... und dass er sich insbesondere als männliches Wesen in ein weibliches Wesen verlieben kann, das ihm die Reinheit geradezu sinnlich offenbart...“
„Aber alle würden nur denken, ich ... ich komme mit selbstständigen Frauen nicht zurecht...“
„Ja, aber sie alle vergessen, dass die Selbstständigkeit kein Selbstzweck und Endzweck ist, sondern dass die Frage besteht, wofür diese errungene Selbstständigkeit dann eingesetzt wird. Wird sie nur dafür eingesetzt, was man heute ,Selbstverwirklichung’ nennt – die in jede beliebige Richtung gehen kann? Oder existiert auch noch die Frage, was der Mensch nun eigentlich ist? Selbstverwirklichung kann ja vom Egoismus teilweise untrennbar sein – nicht vom krassen, aber vom Selbstbezug. Aber was hat Selbstbezug nun bitteschön mit dem wahren Menschen zu tun? Doch wohl gar nichts!
Oft ist das, was weniger ,selbstständig’ erscheint, einfach nur weniger selbst-bezogen! Wie man heute ,Selbstständigkeit’ messen zu können meint, ist also sehr, sehr einseitig... So etwas wie Hingabe gilt heute ja fast schon als das Gegenteil von Selbstständigkeit – mit welchem Recht, frage ich mich...?
Vielleicht kommst du einfach nur mit Frauen ab einer gewissen Selbstbezogenheit nicht mehr zurecht – weil du diese Selbstbezogenheit selbst auch gar nicht kennst...“
„Und warum verliebe ich mich dann in Mädchen, die noch viel unschuldiger sind als ich?“
„Zunächst einmal verliebst du dich in Mädchen, die unschuldiger scheinen als du. Aber du weißt selbst, dass sie es nicht sein müssen, du sehnst dich nur danach. Und warum? Nun – ich nehme an, das ist in der männlichen Seele tief verankert, und ich nehme an, dies deshalb, weil die männliche Seele generell, menschheitlich, mit einer viel stärkeren Abirrung zu kämpfen hat.
Irgendwie ist dann auch dieses heilige Urbild in die männliche Seele gesenkt worden... Nicht, um die Mädchen und Frauen zu unterdrücken, das passiert sowieso schon, sondern um ... die männliche Seele täglich daran zu erinnern, wie falsch dies ist...“
„Ich würde für Lara alles tun...“
„Sie heißt Lara?“, lächelte seine Oma.
„Ja“, gestand er und spürte, wie er rot wurde.
„Siehst du? In Wirklichkeit legst du dich diesem Mädchen gleichsam zu Füßen, wie das nur von einer Jungfrau zu zähmende Einhorn... Es ist genau, wie ich sagte. Wo in der männlichen Seele die Aufrichtigkeit waltet, kann die Unschuld einer weiblichen Seele diese männliche von allem heilen, was ihr menschheitlich noch an Verhärtungen anhaftet... Eigentlich ist das der Christus-Impuls... Für die männliche Seele scheint dieser fast natürlich durch die weibliche Seele hindurch zu wirken – wenn sie es zulässt, wenn sie dies aufnimmt...“
Er war irritiert, weil er bei solchen Erläuterungen immer wieder nicht mehr wirklich mitkam...
„Du kannst das auch vergessen...“, lächelte seine Oma. „Vielleicht verstehst du es irgendwann. Ich wollte nur sagen, dass ich verstehe, dass die Unschuld die männliche Seele berühren muss – gerade weil sie weniger davon besitzt, dies zumindest glaubt ... und oft genug ist es ja eben wahr...“