Vom Zukunftsmysterium der Unschuld

Heiliges Verstehen.


In dieser Leseprobe aus dem Romans ,Schüchternes Leuchten’ erlebt man ein Gespräch zwischen dem 23-jährigen Christian, der die erst elfjährige, noch viel schüchternere, von ihren Eltern vernachlässigte Tara liebt, und seiner Großmutter, die mehr und mehr verstanden hat, welches Mysterium mit der Liebe zur Unschuld und mit dieser selbst verbunden ist.


„Du bist auch ein unglaublicher Junge, Christian... Eigentlich ja schon junger Mann... Ich weiß nicht, warum ich noch Junge sage...“
„Das ist vielleicht besser. Ich fühle mich nicht als ein ,Mann’ ... Mann klingt so ... so erwachsen.“
„Aber du bist erwachsen“, lächelte seine Oma.
„Ja, aber ich meine...“
„Ich weiß, was du meinst...“
Er war so dankbar.
„Ich weiß manchmal selbst nicht, ob ich erwachsen bin, sein will, was das überhaupt bedeutet...“
„Ja... Was es bedeutet. Das ist die große Frage...“
„Was denkst du denn? Frei...?“

Seine Oma sah ihn lange an.
„Ich weiß nicht... Ich versuche, es gerade durch deine Augen zu sehen. Durch die Augen der Welt kann man es nicht sehen. Jeder Standardbegriff von ,erwachsen’ ist von vornherein absurd, denn die Welt ist ein einziges Chaos. Wenn das erwachsen sein soll, dann ist alles verloren... Also was heißt erwachsen?
Ich habe in den letzten Wochen sehr weitgehend verstanden, wie sehr und warum du die Unschuld liebst... Erwachsen ist eigentlich das Gegenteil dessen – erst recht der gängige Erwachsenheits-Begriff. Und doch müssen wir zu etwas ganz Neuem kommen. Und die Unschuld ist dem vielleicht näher, unendlich viel näher als dieses gewöhnliche Erwachsene, was alle nur kennen. Du bist also im gewöhnlichen Sinne noch nicht im Geringsten erwachsen. Aber du bist auf einer tiefen Suche ... und vielleicht ist sowohl diese als auch das, was sie findet und wonach sie auf der Suche ist, viel erwachsener als alles, was uns jetzt umgibt ... mit dem Anspruch auf diesen Begriff...“
Er schwieg, geradezu beschämt.

„Tara verkörpert eine neue Liebe, eine zarte Hingabe und Unschuld, die wir wieder ganz neu lernen werden müssen... Aus einem heiligen Willen heraus... Aus einem bewussten, erwachsenen Willen heraus, wieder in diese Unschuld eintauchen zu wollen. Von sich abzusehen ... und erneut eine Liebe aufblühen zu lassen, die so unschuldig ist, wie Tara es jetzt vormacht... Das wieder wahrzumachen. Sich in eine solche Liebe hineinzutaufen... Unschuldig werden, sanft...“
Er sah seine Oma beeindruckt an, berührt und betroffen.
„Aber das ist vielleicht nur der heilige Endzustand ... Zustand am Ende... Auch du wirst es gar nicht ganz können, solange du Tara noch beschützen musst ... und das wirst du immer müssen. Was Tara verkörpert, ist wirklich die Unschuld am Ende der Zeiten. Die reine Sanftmut... Selbst Christus hat auch die Pharisäer angeklagt und die Tische der Wechsler umgestoßen...“
„Vielleicht ist Tara so etwas wie die Seele von Christus...“
„So gesehen, ja... Das sanfte Herz.“

„Wenn Christus ein Mädchen wäre, wäre er wie Tara...“
„Wahrscheinlich noch anders, aber ich weiß, was du meinst... Ich weiß ganz und gar, was du meinst...“
„Aber wieso wäre er noch anders?“
„Tara verkörpert das, was das Herz rührt... Aber ein Mädchen könnte auch sehr bewusst und sicher und dennoch zutiefst sanft und lieblich sein... Tara dagegen ist sanft und scheu, unsicher und voller Zärtlichkeit... Das ist ein Aspekt ... bei ihr verbindet sich alles mit dieser Scheu, dieser Verletzlichkeit. Wenn Christus die Herzen rühren wollte, nur das, vor allem das, dann wäre er wie Tara...“
„Ja... Aber vielleicht ist sie wirklich die Seele von Christus – denn was wollte er mehr, als die Herzen zu rühren...? Eigentlich...“
„Du lässt wirklich nicht nach, Christian...“, erwiderte seine Oma liebevoll. „Tara hat es dir angetan...“
„Dir etwa nicht...?“
„Doch... Aber durch dich sehe ich sie noch einmal mit ganz anderen Augen...“
Er war geradezu tief erstaunt, dass er seiner Oma noch Blickwinkel eröffnen konnte. Er achtete sie viel zu sehr, als dass er dies je für möglich gehalten hätte.
„Ja, das braucht dir gar nicht so seltsam vorkommen! Man sagt doch, der Weiseste lernt noch von einem Kind. Vielleicht also fange ich gerade erst an, weise zu werden – und vielleicht gibt dir die Liebe manche Erkenntnis, die in Geheimnisse sieht, die anderen noch lange verschlossen bleiben...“
„Mareike...“
„Nein, nein ... stell dein Licht nur nicht wieder unter den Scheffel... Das Geheimnis der Unschuld ist mit Sicherheit ein ganz Gewaltiges ... und man kann es nur gewaltig unterschätzen...“
Er verstummte geradezu ehrfürchtig.