29.09.2024

Offenbarung einer unendlichen Zärtlichkeit

Über den Roman ,Schüchternes Leuchten’.


Es gibt Bücher, an denen geht man vorbei, weil man überhaupt nicht vermutet, was sie enthalten. Manche Bücher können wahre Mysterien in sich bergen und man weiß es einfach nicht...

Der Roman ,Schüchternes Leuchten’ ist so ein Buch. Viele Menschen, die meinen Büchern rein von außen begegnen, denken, es geht da um Mädchengeschichten, also per Definition etwas, was sie ohnehin nichts angeht. Aber das ist ein Trugschluss, ein Denk- und Wahrnehmungsfehler. Der Grund hierfür liegt darin, dass wir tatsächlich ungeheuer viel einfach irgendwie beurteilen und klassifizieren und dann in diesen Denkschablonen verbleiben, weil sie erstens das Leben und Denken massiv ,entlasten’ und zweitens ja oft oder gar meistens sehr wohl irgendwo der Realität entsprechen.

Konkret zum Beispiel sind die allermeisten ,Mädchenromane’ tatsächlich genau dies: Mädchenromane, und wozu sollte sich ein Erwachsener damit überhaupt befassen? Er muss es nicht, es ergibt sozusagen gar keinen Sinn. Und konkret zum Beispiel sind die meisten Romane, in denen sich ein Mann in ein Mädchen verliebt, einfach nur genau dies: Ein Mann verliebt sich in ein Mädchen, wozu sollte einen das auch nur interessieren? Es ist ja sogar regelrecht abseitig – und die Lektüre eines solchen ,Romans’ wäre reine Zeitverschwendung, wenn nicht gar ärgerlich.

Wir bilden also Urteile über Bücher nach kleinsten Eindrücken: Titel, Cover, Rückentext, vielleicht noch eine Leseprobe. Aber wir besitzen immer auch schon generelle Urteile – was uns erwartet, wenn wir vor einem solchen Buch stehen. Und in der Regel entsprechen diese Urteile dann mehr oder weniger der Realität, weil ... es sich wirklich nur um ein ,Mädchenbuch’ oder ein ,Mann-liebt-Mädchen-Buch’ handelt. Urteil und Wirklichkeit stimmen überein. Das jeweilige Buch fällt ganz in den großen Durchschnitt der übrigen Bücher, ist nichts anderes – und so ist auch das Urteil darüber richtig und wahr. Wer ein ,Mädchenbuch’ sucht, mag es lesen. Alle übrigen Menschen brauchen es nicht, denn wozu?

Aber dann gibt es Bücher, die fallen völlig aus dem Rahmen, buchstäblich. Sie sprengen den Rahmen, lösen Kategorien auf, laufen jeglichen Erwartungen konträr, aber mehr noch – führen hinein in ein immer tieferes Staunen, immer tieferes Eintauchen, Mitleben, immer tieferes Berührtwerden oder -sein, führen gleichsam hinein in eine Art Wunder. In ein Geheimnis, das sie bergen. Solche Bücher gibt es ... und es ist ein Geschenk, ihnen zu begegnen, es sind geradezu heilige Momente, in sie einzutauchen, wie herausgehoben aus der Zeit, hineingenommen in eine ganz andere Sphäre, in ihre Sphäre eines berührenden Geheimnisses...

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,Schüchternes Leuchten’ ist so ein Buch.

Schon an dem Titel sollte man nicht vorbeigehen, um nicht in emotionsloser Standard-Seelenhaltung zu verbleiben. Denn schon hier beginnt es: Titel ist Titel, kurz registriert, aha, okay, alles klar... Das kann man nicht tun, ohne sich im Grunde an seiner eigenen Seele schuldig zu machen – denn was ist die Welt, was ist die eigene Seele dann noch, wenn man so urteilt? Man hat einen Titel, registriert ihn kurz, macht sich kurz seine Vorstellungen, diese werden unmittelbar zu irgendeinem Urteil – und damit ist die Sache erledigt.

Man gleicht dann voll und ganz jenen Menschen, die auch aus einem Film so hinausgehen, dass sie sich noch ein paar Minuten darüber unterhalten und dann war es das auch schon wieder. Die Frage ist, warum sie den Film überhaupt angeschaut haben – um sich unterhalten zu lassen? Aber ist die moderne Seele überhaupt noch fähig, sich berühren zu lassen? Wahrhaft?

Wir alle wissen, wie schwer dies in der heutigen Zeit geworden ist – in einer Zeit, in der die Reizüberflutung und ,Informationsflut’ fortwährend zunimmt, genauso wie die sogenannte, sehr reale ,Arbeitsverdichtung’, aber auch die Anonymität. Eine Art Abschottung und der sprichwörtliche ,Rückzug ins Private’ ist angesichts dessen fast unvermeidlich. Gleichzeitig stellt sich durch die massenhaften Bildschirmmomente extrem leicht schleichend ein Modus des bloßen ,Abcheckens’ ein. Ebenso führen die Kurznachrichten auf ,Social Media’, in Chats und SMS-Nachrichten etc. fast zwangsläufig dazu, dass die innere Beteiligung der Seele immer ärmer wird, ob man will oder nicht. Ein Chat-Einzeiler ist einfach um Welten getrennt von einem zweiseitigen (handgeschriebenen!) Brief, wie es ihn früher noch gab und wo die Seele unendlich viel tiefer eintauchte, worin sie vollkommen anders lebte, viel reiner, viel aufrichtiger, viel wahrer...

Und so ist es dann auch mit so einem Buchtitel. Wenn wir ihn nur ,registrieren’ und dann ,abhaken’, haben wir schon verloren – haben wir schon bewiesen, dass wir auch zu dieser Kategorie gehören: zur Kategorie jener Seelen, die kaum noch anders können, als in einer Art gefühlsarmem ,Checking’-Modus durch die Welt zu gehen, ob sie wollen oder nicht. Sie tun es einfach.

Schüchternes Leuchten... Wir wissen überhaupt nicht mehr, was Schüchternheit ist, in ihrem wahren Wesen, in ihren Tiefen. Wissen es nicht mehr im Sinne von: wir lassen uns auch gar nicht mehr darauf ein. Und ebenso wenig wissen wir, was Leuchten ist – auch dies lassen wir innerlich in seiner Wahrheit nicht mehr an uns heran. Aber in diesem Roman würden wir dieser Wahrheit wieder begegnen...

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Der Wert dieses Romans besteht nicht in ein paar Protagonisten, die man rudimentär auf sich wirken lässt und dann abhakt. Er besteht darin, dass er einen mitnimmt in eine Welt, die uns gar nicht mehr bekannt ist, weil unsere Seelen viel zu hektisch geworden sind, zu effizienzorientiert. Die moderne Seele hat keine Zeit mehr – oder aber sie nutzt sie für allerlei Angenehmes im Sinne des modernen Selbstbezuges, wie ihn auch die Werbung fortwährend suggeriert: ,Let’s have fun...’

Wofür also hat die moderne Seele allenfalls noch Zeit? Hier mal ein Cappuccino, da mal ein ,Plausch’ mit Freunden, hier mal dieser Krimi, jene Talkshow, dann der Teneriffa-Urlaub. Vielleicht sogar der Yoga-Kurs. Und vielleicht – hier wird es schon selten – sogar die Natur. Hier mal ein Spaziergang, da mal ein Schnappschuss von einem Sonnenuntergang oder sogar von einem Vogel. Manch einer hält sich auf seine Naturverbundenheit Einiges zugute – und merkt nicht, dass es sich subtil noch immer um einen ,Event’-Modus oder ,Genuss’-Modus handelt, das ist sogar mit ,spirituellem’ Hintergrund möglich.

Die moderne Seele schleppt ihren subtilen Selbstbezug immer mit sich. Selbst da, wo sie sehr wohl nicht bloß oberflächliche Empfindungen hat, entgeht sie diesem ,modernen’ Verhältnis zu sich selbst nicht, entkommt sich sozusagen niemals. Es ist eine ,Verquickung’ mit dem eigenen Selbst, die selbst da nicht aufhört, wo man ,tiefere’ Empfindungen hat.

So etwas wie ,Devotion’ oder Ehrfurcht ist einer solchen Seelenhaltung letztlich wirklich unmöglich. Sehr wohl kann sie an diese Empfindungen herankommen, kann auch meinen, sie vollauf zu ,haben’, entfalten zu können – und doch ist es nur wie ein trübes Licht im Vergleich zu einer strahlend hellen, reinen Lampe. Die Fähigkeit der Hingabe ist es, die für die moderne Seele immer ein fremdes Land bleiben wird. Sie mag es betreten ... und für ihre spirituelle Selbstzufriedenheit mag es auch ausreichen, was sie hier und da an ,Hingabe’ entfalten kann, wie sich jemand auch als Zen-Schüler fühlen kann, wenn er in der Lage ist, sich entsprechend hinsetzen und ein wenig die Gedanken schweigen lassen zu können.

Der erste Schritt zur heiligen Meisterschaft aber würde darin bestehen, aufrichtig den Abstand zu erkennen...

Das ist jedoch gerade die Ur-Kränkung der ,modernen’ Seele: die Erkenntnis, dass sie etwas nicht kann – im Sinne der allgegenwärtigen Konsumbotschaften möchte sie alles zur Verfügung haben, und dies macht vor spiritueller gesinnten Seelen nicht Halt: Auch diese bilden sich sehr schnell sehr gern ein, dass sie schon recht, recht weit seien, gerade wenn sie schon viele Jahre ,dabei’ sind. Und vielleicht sind sie auch mit diesem oder jenem ,weit’ – aber das moderne Selbst schleppen auch sie immer weiter mit, wenn auch sublimiert, wenn auch scheinbar ,spiritualisiert’...

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Es ist auch dieser ,Selbst’-Hochmut oder, milder ausgedrückt, diese buchstäbliche ,Selbst-Zufriedenheit’, die das Urteil bildet, das meinen sogenannten ,Mädchen-Büchern’ immer wieder begegnet. ,Wozu um alles in der Welt sollte man das lesen?’ So ist dann die innere Haltung. Und innerlich ,weiß’ man angeblich schon, was einen da erwartet – jedenfalls etwas, was (für einen selbst) nicht den geringsten Wert hat, denn was soll man damit...

Aber wie kann man zu etwas zu einem Urteil kommen, was man gar nicht kennt? Man kann es nur, wenn man glaubt, es zu kennen – und das tut man ja fast immer, in unzähligen Situationen. Immer glaubt man irgendetwas. Und wahrscheinlich gibt es jede Woche hunderte von Situationen, wo man etwas glaubt und nie wissen oder erfahren wird, wie sehr man sich geirrt hat... Nur der wahrhaft spirituelle Schüler weiß, wie wenig er urteilen darf und wie wenig er wirklich weiß – und erst da beginnt auch die wahre Demut: in der Erkenntnis, fast nichts wirklich zu wissen. In der Erkenntnis, dass das Urteil nach dem ersten Augenschein nur eines vermag: die eigene Selbstzufriedenheit zu nähren. Der heiligen Wahrheit wird man sich so nicht nähern.

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Nur der Weise weiß, wie viel er sogar noch von einem Kind lernen kann. Der Andere aber, der auch ,spirituell unterwegs’ ist, weiß natürlich im besten Falle auch so einiges über Kinder, dennoch geht er höchst selektiv durch die Welt, und mit seinem Willen, sich zu öffnen und zu empfangen, ist es höchst zweifelhaft bestellt.

Gerade dies aber, die wahre Fähigkeit des Sich-Öffnens, ja der Hingabe, könnte diese moderne Seele im Erleben meiner Romane, gerade auch dieses Romanes, wieder lernen – wenn sie sich einlässt.

Warum ist das so? Weil in diesem Roman eine Seelentiefe lebt, die der modernen Seele schlicht abhandengekommen ist. Und wiederum: der erste Schritt, sich dies einzugestehen, wäre der erste heilige Schritt zu einer Heilung, die tiefer reicht als das, was man bisher ,erreicht’ zu haben meinte. Nicht urteilen, nicht abhaken – sondern eintauchen ... und erleben, zunehmend, mit jeder Seite, mehr und mehr erleben, dass hier viel mehr vorliegt als einfach ein ,Mädchen-Buch’...

Und wenn ich im Folgenden versuche, zu beschreiben, warum das so ist, ist erneut mit jeder Sekunde wieder dieselbe Gefahr gegeben: auch jetzt wieder zu meinen, zu wissen, worum es geht, also erneut abzuwinken, innerlich zu sagen: ,Aha, okay, alles klar, na ja ... gut, trotzdem, brauche ich nicht, kann ich selber...’ Aber man kann den Appell an die Demut und die Wahrhaftigkeit nicht immer wiederholen. Entweder, die Seele taucht auch in diese Empfindungen ein, oder sie tut es nicht...

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Der eine Protagonist, mit dem dieser Roman beginnt, ist der 23-jährige Christian, der sich bei Sportwettkämpfen schüchtern in ein Mädchen verliebt hat – ohne dass er je wagen würde, sie anzusprechen.

Nun kann es natürlich erneut schnelle Urteile hageln: ,nicht erwachsen’, ,wie unselbstständig’, ,Ich-Schwäche’ etc. etc. – aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, sich auf eine viel tiefere Ebene einzulassen. Dieser junge Mann ist schüchtern – und, ja, vielleicht ist er innerlich auch noch nicht erwachsen im Sinne einer ganz bestimmten Definition. Aber darum geht es also nicht. Es geht darum, dass er sich verliebt hat, dass er ein ganz bestimmtes Mädchen liebt – und dass jede Liebe einen heiligen Selbstwert in sich trägt. Er liebt dieses Mädchen. Und darauf müsste man sich einmal einlassen...

Dann erst wird man eintauchen können ... und dem Mysterium der Schüchternheit begegnen können. Unsere Zeit verherrlicht den ,Mut’, die ,Direktheit’, die ,Lockerheit’ und ,Lässigkeit’, die ,Unkompliziertheit’ – aber mit diesen Standpunkten wird man der Schüchternheit niemals begegnen können, man wird sie immer nur verkennen. Als ein Manko, als ein Defizit. Wir haben nicht im Geringsten eine Ahnung, wie defizitorientiert auch unsere Weltsicht an unendlich vielen Punkten ist...

Mit dem Mysterium der Schüchternheit ist aber viel mehr verbunden als nur ,mangelnde Selbstsicherheit’, wie es das schnelle Urteil der modernen Seele besagen mag. Viel mehr. Denn dieser junge Mann idealisiert das Mädchen und auch die Liebe an sich. Seine Seele hat die Fähigkeit des Idealisierens – und dem entspricht dann die Schüchternheit unmittelbar. Denn: wie kann man je einem idealen Wesen selbst würdig sein...?

Nun kann man von einem rationalen, ja intellektuellen Standpunkt jedes Idealisieren für ,Unsinn’ halten – letztlich platt nach dem Urteil: ,Soll er sie halt ansprechen, und wenn er feststellt, dass sie ihn tatsächlich nicht mag oder seine Liebe zumindest nicht erwidert, ist er um eine Erfahrung reicher und um eine Illusion oder Träumerei ärmer, so what...’ Aber eben diese Haltung geht am wahren Mysterium um Meilen vorbei, sie beraubt sich selbst der Entdeckung dieses Geheimnisses...

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Immer wieder wird sich am Seelen-Phänomen des Idealisierens die Frage stellen: Führt dies zu einer Illusion oder ... wohin?

Schon der Begriff selbst scheint die Antwort nahezulegen. Denn wenn ich etwas idealisiere, so wird es doch wohl in der Vorstellung schöner und idealer, als es in Wirklichkeit ist, und kann so doch eben nur eine Illusion sein?

Aber eben hieran erweist sich, wie kurzsichtig und geradezu blind die moderne Seele ist, wenn sie sich der bloßen ,Ratio’ verschreibt. Denn sie reduziert alles – und auch sich selbst – auf jenen Zustand, den sie momentan wahrnimmt oder wahrnehmen würde, wenn sie ,illusionslos’ alles ,betrachtet’.

Und doch wissen wir – oder könnten wissen –, dass der Mensch, dass die Seele und das Wesen des Menschen das sich entwickelnde Wesen schlechthin ist. Wieviel tausend Pläne und Vorhaben haben wir täglich! Und sogar wieviel Träume und Illusionen – wie oft träumt man von irgendeinem Reichtum, irgendeinem Eigentum, irgendeinem Traumurlaub, den man sich sowieso nie leisten kann oder wird, aber man träumt.

Aber das ist nur die äußerste Schicht dieses Mysteriums. Denn wir alle wissen, was für einen weltenweiten Unterschied es macht, ob jemand an uns (oder einen anderen Menschen) glaubt oder ob er es nicht tut. Dabei geht es nicht um Realität, diese mag gegeben sein oder auch nicht – es geht um die Tatsache des Glaubens an sich. Um die ungeheure reale Wirkung, die dies hat.

Auch dies ist eine Form des Idealisierens: ,Ich glaube an dich. Ich glaube ... ich weiß, dass du es schaffen kannst, schaffen wirst...’ Das ist wahre Magie – denn es verändert die Realität. Idealisieren verändert die Realität. Immer. Ein Mensch, in dem ein anderer Mensch einmal das Beste gesehen hat, ist nicht mehr der gleiche Mensch wie vorher, kann es gar nicht. Er weiß fortan, was ein anderer einmal in ihm gesehen hat...

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Aber kehren wir zurück zu Christian, dem jungen Mann, der dieses Mädchen liebt und idealisiert. Sie weiß es nicht. Er liebt sie nur von ferne und hilflos, weil er es nicht wagt, sie anzusprechen...

Der Intellekt würde sagen: ,Er genießt seine eigene Ideal-Illusion, sie ist ja besser als alles, was passieren würde, wenn die Seifenblase platzt...’ Und wiederum würde man die Wahrheit weit, weit verfehlen. Denn es geht nicht um das ,Was passiert, wenn’ – sondern es geht um das Idealisieren als solches ... vor dem die moderne Seele offenbar so viel Angst hat, weil sie offenbar doch gelernt hat, zu glauben, man würde sich damit nur in Illusionen verstricken.

Meint man wirklich, die ,Wahrheit’ zu haben, wenn man behauptet, die Seele dieses jungen Mannes genieße ihre eigene Illusion? Es mag sein, dass kein ,Liebesobjekt’ perfekter sein kann, solange Ideal und ,Wirklichkeit’ noch nicht auseinanderfallen – aber das rationale Reden von ,Liebesobjekt’ selbst (ein Begriff aus der Psychoanalyse) ist ja selbst schon erneut ein Fall in die bloße Ratio, diese aber wird den Mysterien ja niemals begegnen... Das Ideal mag für die Seele dieses jungen Mannes genau das sein, was es ist: ein Ideal. Wer aber von ,Genießen’ redet, sollte jedoch wissen, dass er nicht den Hauch einer Ahnung hat, wenn er nicht auch begreifen kann, wie leidvoll die Erfahrung ist, sich eben diesem Ideal nicht zu nähern zu wagen. Diese Erfahrung kann einen verzweifeln lassen, denn was ,nützt’ jedes Ideal, wenn die Sehnsucht danach grenzenlos ist, die empfundene eigene Ohnmacht ebenso...?

Die ,psychologisierende’ Erklärung geht also völlig in die Irre – es ist keineswegs angenehm, ein anderes Wesen zu idealisieren, wenn man dieses aufrichtig liebt, aber völlig hilflos ist in Bezug auf jegliche Annäherung. Im Gegenteil – es bedeutet eigentlich die größte Verzweiflung, die nur denkbar ist.

Die Ratio wechselt nun erneut ihren Standpunkt und entgegnet: ,Umso klarer wird doch, dass so ein Idealisieren dann so sinnlos ist wie ein Kropf.’

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Folgen wir jedoch nicht der Ratio, sondern würden uns einmal wirklich einlassen, eintauchen, mitleben mit der Seele dieses jungen Mannes, ihren Empfindungen ... so würden wir dem Mysterium näherkommen. Die Frage ist nur – können wir das? Schaffen wir das? Mitleben, mitempfinden, aufrichtig...

Das müsste, wenn man es wirklich mitleben wollte, so weit gehen, dass man sich in gewisser Weise selbst in dieses Mädchen verliebt... Besitzt man eine solche Fähigkeit der Hingabe, der Identifikation, des wahren Eintauchens? Wenn man mit dem Erleben dieses jungen Mannes mitgeht, wäre es möglich – und dies ist ein Teil des Wesens dieses Romanes. Er macht dieses Sich-Einlassen möglich. Er ist auf keiner Seite bloße Lektüre. Es ist Seelen-Wirklichkeit. Es ist kein bloßer Roman. Es ist ein innerer Fluss, der einen mitnimmt – wenn man sich einlässt.

Aber kehren wir erneut zurück zu diesem jungen Mann. Er liebt dieses idealisierte Mädchen, und er liebt es hilflos, denn er hat sozusagen keine Chance, ihr je zu begegnen. Enthalten wir uns einmal jedes Urteils über die unmittelbare ,Sinnhaftigkeit’ einer solchen Liebe. An dieser Stelle geht es einmal nur um die Frage, was diese Art von Liebe für eine Wirkung auf die Seele dieses jungen Mannes hat.

Und das heilige Geheimnis ist, dass diese Liebe in dieser Seele eine tiefe Selbstlosigkeit wachsen lässt. Denn zunächst ist keine Hingabe größer und umfassender als jene einer Liebe, die sozusagen regelrecht weiß, dass sie keine Chance hat – die sich zwar sehnen kann (das gerade ist die Hingabe), aber zugleich weiß, dass diese Sehnsucht alles ist, was ihr bleibt...

Die bewussten oder unbewussten Urteile über die ,Nutzlosigkeit’ einer solchen Liebe hindern die eigene Seele also regelrecht daran, das eigentliche Geheimnis zu erleben – nämlich das der Hingabe, einer tief aufrichtigen und reinen Hingabe und ebenso aufrichtigen und reinen Sehnsucht.

Schon dies würde das Eintauchen in diesen Roman wert sein – einmal einer solchen inneren seelischen Hingabe zu begegnen, wie sie die moderne Seele nicht einmal ansatzweise mehr kennt. Einer heiligen Selbstlosigkeit, die nicht sich wichtig nimmt, sondern das andere Wesen, grenzenlos von sich absieht und nur dieses andere Wesen sieht, in einer zarten, schüchternen, chancenlosen Hingabe...

Die Welt wäre eine zutiefst andere, wenn die Seelen eine solche Hingabe wieder kennen würden, als zarte Fähigkeit in sich trügen, als heilige, aufrichtige Fähigkeit der Zukunft...

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Die Schüchternheit ist selbst eine solche Zukunfts-Fähigkeit. Man muss sich nur davon lösen, sie bloß als ,mangelnde Selbstsicherheit’ zu verstehen – und tiefer dringen.

Schüchternheit ist sozusagen das Gegenteil des ,Hoppla, hier komm ich’, wie es den vor ,Selbstsicherheit’ strotzenden Seelen so eigen ist. Auf den ersten Blick ist die Schüchternheit eine Art tiefe Zurückhaltung. Blickt man aber noch tiefer, so kann man sie noch ganz anders beschreiben, begreifen, erleben. Dann wird die Schüchternheit erkannt als die wahre Zärtlichkeit in der Begegnung.

Natürlich kann diese Zärtlichkeit im besten Falle auch anders verwirklicht werden, ohne dass eine Seele schüchtern sein muss. Aber die schüchterne Seele ist zärtlich – und das ist ihr Geheimnis. Sie ist zärtlich, weil sie das Gegenteil jener Seele ist, die sich selbst in den Mittelpunkt stellt.

So birgt die schüchterne Seele die wahre Fähigkeit der Zukunft. Wieder kann man nun sehr schnell den Standpunkt einnehmen, dass es selbstverständlich viel ,spiritueller’ und ,ganzheitlicher’ sei, die Fähigkeiten der schüchternen Seele ohne deren Schüchternheit zu verwirklichen, da es ja sicherlich nicht das Zukunftsziel sein könne, dass die menschliche Seele immer schüchterner werde – im Gegenteil. Das mag sein. Dennoch bleibt höchst zweifelhaft, ob man denn das Mysterium der Schüchternheit wahrhaft erlebt hat, wenn man so vorschnell gleich wieder an ihr vorbeigeht – und sie im Grunde erneut wie etwas Defizitäres abtut...

Was wäre, wenn die Schüchternheit ein viel tieferes Heilmittel wäre, als wir glauben? Die moderne Seele glaubt ständig, dass sie bestimmte Stufen gar nicht braucht, weil sie immer schon ,weiter’ ist. Dass sie zum Beispiel selbstlos genug sei. Dass man auch die Bergpredigt nicht brauche (,Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt...’), man müsse schließlich nicht übertreiben etc. Immer hat diese moderne Seele eine Erklärung zur Hand, warum sie dies und jenes schlicht ,nicht mehr brauche’.

Wenn man jedoch die Perspektive eines Zeitalters der Geschwisterlichkeit (,Brüderlichkeit’) ernst nimmt, sollte jeder Seele sehr deutlich werden, wie ohnmächtig unsere heutigen Fähigkeit zunächst noch sind. Und dann kann der aufrichtigen Seele vielleicht doch erlebbar werden, dass gerade die schüchternen Seelen etwas vorwegnehmen, was erst in einer noch fernen Zukunft Wirklichkeit werden wird: die Auferstehung des anderen Menschen in der eigenen Seele... Warum? Weil die Schüchternheit sich zugleich tief hingeben kann. Nicht sich stellt sie auch nur ansatzweise in den Mittelpunkt – aber tief, sehr tief, kann sie alles wahrnehmen, was um sie ist, geradezu abgrundtief... Man muss sich der Schüchternheit nur einmal hingeben. Dann wird ihr Geheimnis einen tatsächlich berühren...

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Und nun gibt es noch eine zweite Protagonistin in diesem Roman. Ein erst elfjähriges Mädchen – die noch viel schüchternere Tara.

In dieses Mädchen verliebt sich Christian, als die Begegnung mit jenem anderen Mädchen zuletzt doch zustande kommt und sich dasjenige ereignet, was sich aller Wahrscheinlichkeit nach ereignen musste: Es kann die Liebe des so viel älteren Anderen nicht erwidern.

Tara lebt mit ihren Eltern, die das Mädchen emotional und auch sonst völlig vernachlässigen, im selben Haus wie Christians Oma. Diese umfassende Vernachlässigung ist die äußere ,Quelle’ von Taras Schüchternheit. Wenn man jedoch auch hier wiederum tiefer blickt, erlebt man, wie auch hier hinter dem ,Defizit’ eine unendliche Quelle von innerer Schönheit lebt. Aber man wird diese nur sehen lernen, wenn man sich von ihr berühren lässt.

Immer tiefer wird man hineingeführt in das Geheimnis der Selbstlosigkeit, der Abwesenheit des modernen Selbstbezuges, man kann auch sagen, in das heilige Mysterium der Unschuld...

Hiermit hängt der Titel des Romanes zusammen – mit dem Geheimnis des Leuchtens... Diesem Geheimnis wird man in diesem Roman tief begegnen...

Keinesfalls ist es der Menschheit bestimmt, so schüchtern wie Tara zu werden – und dennoch birgt auch ihre Seele die heilige Zukunft eines noch sehr fernen Zeitalters der Geschwisterlichkeit.

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Und die Begegnung dieser beiden Seelen, Christian und Tara, sie führt erst recht hinein in das Mysterium. Denn hier kann man wahrhaft erleben lernen, was eigentlich das heilige Geheimnis der Begegnung tatsächlich ist – oder sein könnte.

Hier offenbart sich das ganze Geheimnis der Zärtlichkeit – denn keine zwei Seelen könnten einander zärtlicher begegnen, als es diese beiden tun. Warum? Nicht, weil in ihnen das Defizit lebt, sondern im Gegenteil – weil in ihnen das wahre Mysterium der Zukunft lebt. Eine grenzenlose Begegnungsfähigkeit im allerbesten Sinne, die Fähigkeit der Zärtlichkeit an sich, als umfassende Seelenfähigkeit, geboren aus der Schüchternheit, aber ganz und gar als eine Gabe, geradezu als zarte Genialität, als schüchterne Meisterschaft. Man muss es nur erleben lernen – und sich berühren lassen.

Dann wird man von diesem Buch tief beschenkt werden. Und von der Zukunft selbst...