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Fichte: Reden an die deutsche Nation
Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation (1808). | Quelle: Gutenberg. | Rechtschreibung angepasst. Hervorhebungen H.N.
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) war ein herausragender Vertreter des Deutschen Idealismus – ein Zeitgenosse von Novalis, Schiller und Goethe. In seinen „Reden an die deutsche Nation“ entwirft er ein flammendes Bild dessen, was dem Menschen und gerade dem Deutschen möglich ist: die Entwicklung einer lebendigen, immer stärkeren Sittlichkeit, die mit dem unmittelbaren Leben des Geistes verbunden ist.
Inhalt
1. Vorerinnerungen und Übersicht des Ganzen
2. Vom Wesen der neuen Erziehung im Allgemeinen
3. Fortsetzung der Schilderung der neuen Erziehung
4. Hauptverschiedenheit zwischen den deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft
5. Folgen aus der aufgestellten Verschiedenheit
6. Darlegung der deutschen Grundzüge in der Geschichte
7. Noch tiefere Erfassung der Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes
8. Was ein Volk sei, in der höhern Bedeutung des Worts, und was Vaterlandsliebe
9. An welchen in der Wirklichkeit vorhandenen Punkt die neue Nationalerziehung der Deutschen anzuknüpfen sei
10. Zur nähern Bestimmung der deutschen Nationalerziehung
11. Wem die Ausführung dieses Erziehungsplanes anheimfallen werde
12. Über die Mittel, uns bis zur Erreichung unsers Hauptzwecks aufrecht zu erhalten
13. Fortsetzung der angefangenen Betrachtung
14. Beschluß des Ganzen
1. Vorerinnerungen und Übersicht des Ganzen
[...] Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte. Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnittes verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen. Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwickelung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst, und dessen Selbständigkeit, verloren; und ihr, da sie gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollte, durch äußerliche Gewalt ein solcher anderer und fremder Zweck aufgedrungen worden. [...]
Was seine Selbständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluß, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen; es wird ihm, wenn es in diesem Zustande verharret, seine Zeit, und es selber mit dieser seiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schicksal gebietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche. Es könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbsttätigen Eingreifen entrücket ist, und in dieser ihm nur der Ruhm des Gehorchens übrig bleibt, lediglich unter der Bedingung, daß ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eigenen Abschnitt in der Zeit begönne, und mit ihrer Fortbildung ihn ausfüllte; doch müßte, da es einmal unterworfen ist fremder Gewalt, diese neue Welt also beschaffen sein, daß sie unvernommen bliebe jener Gewalt, und ihre Eifersucht auf keine Weise erregte, ja, daß diese durch ihren eigenen Vorteil bewegt würde, der Gestaltung einer solchen kein Hindernis in den Weg zu legen. Falls es nun eine also beschaffene Welt, als Erzeugungsmittel eines neuen Selbst und einer neuen Zeit, geben sollte, für ein Geschlecht, das sein bisheriges Selbst, und seine bisherige Zeit und Welt verloren hat, so käme es einer allseitigen Deutung selbst der möglichen Zeit zu, diese also beschaffene Welt anzugeben.
Nun halte ich meines Orts dafür, daß es eine solche Welt gebe, und es ist der Zweck dieser Reden, Ihnen das Dasein und den wahren Eigentümer derselben nachzuweisen, ein lebendiges Bild derselben vor ihre Augen zu bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben. In dieser Weise demnach werden diese Reden eine Fortsetzung der ehemals gehaltenen Vorlesungen über die damals gegenwärtige Zeit sein, indem sie enthüllen werden das neue Zeitalter, das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll.
Bevor ich jedoch dieses Geschäft beginne, muß ich Sie ersuchen vorauszusetzen, also daß es Ihnen niemals entfalle, und einverstanden zu sein mit mir, wo und inwieferne dies nötig ist, über die folgenden Punkte:
1) Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Sie, E. V., sind zwar meinem leiblichen Auge die ersten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen, und der sichtbare Brennpunkt, in welchem die Flamme meiner Rede sich entzündet; aber mein Geist versammelt den gebildeten Teil der ganzen deutschen Nation, aus allen den Ländern, über welche er verbreitet ist, um sich her, bedenkt und beachtet unser aller gemeinsame Lage und Verhältnisse, und wünschet, daß ein Teil der lebendigen Kraft, mit welcher diese Reden vielleicht Sie ergreifen, auch in dem stummen Abdrucke, welcher allein unter die Augen der Abwesenden kommen wird, verbleibe, und aus ihm atme, und an allen Orten deutsche Gemüter zu Entschluß und Tat entzünde. [...]
[...] Ich erblicke in dem Geiste, dessen Ausfluß diese Reden sind, die durch einander verwachsene Einheit, in der kein Glied irgend eines andern Gliedes Schicksal, für ein ihm fremdes Schicksal hält, die da entstehen soll und muß, wenn wir nicht ganz zu Grunde gehen sollen, – ich erblicke diese Einheit schon als entstanden, vollendet, und gegenwärtig dastehend.
2) Ich setze voraus solche deutsche Zuhörer, welche nicht etwa mit allem was sie sind, rein aufgehen in dem Gefühle des Schmerzes über den erlittenen Verlust, und in diesem Schmerze sich wohlgefallen, und an ihrer Untröstlichkeit sich weiden, und durch dieses Gefühl sich abzufinden gedenken mit der an sie ergehenden Aufforderung zur Tat; sondern solche, die selbst über diesen gerechten Schmerz zu klarer Besonnenheit und Betrachtung sich schon erhoben haben, oder wenigstens fähig sind, sich dazu zu erheben. [...] Es läßt sich der strenge Beweis führen, und wir werden ihn zu seiner Zeit führen, daß kein Mensch, und kein Gott, und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen uns helfen kann, sondern daß allein wir selber uns helfen müssen, falls uns geholfen werden soll. [...]
Bis zu ihrem höchsten Grade entwickelt ist die Selbstsucht, wenn, nachdem sie erst mit unbedeutender Ausnahme die Gesamtheit der Regierten ergriffen, sie von diesen aus sich auch der Regierenden bemächtigt, und deren alleiniger Lebenstrieb wird. Es entsteht einer solchen Regierung zuförderst nach außen die Vernachlässigung aller Bande, durch welche ihre eigene Sicherheit an die Sicherheit anderer Staaten geknüpft ist, das Aufgeben des Ganzen, dessen Glied sie ist, lediglich darum, damit sie nicht aus ihrer trägen Ruhe aufgestört werde, und die traurige Täuschung der Selbstsucht, daß sie Frieden habe, so lange nur die eigenen Grenzen nicht angegriffen sind; sodann nach innen jene weichliche Führung der Zügel des Staats, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde zu nennen ist.
[...] Wo aber alles eben genannte sich vereinigt, da geht das gemeine Wesen bei dem ersten ernstlichen Angriffe, der auf dasselbe geschieht, zu Grunde, und so, wie es selbst erst treulos sich ablöste von dem Körper, dessen Glied es war, so lösen jetzt seine Glieder, die keine Furcht vor ihm hält, und die die größere Furcht vor dem Fremden treibt, mit derselben Treulosigkeit sich ab von ihm, und gehen hin, ein jeder in das Seine. Hier ergreift die nun vereinzelt stehenden abermals die größere Furcht, und sie geben in reichlicher Spende, und mit erzwungen fröhlichem Gesichte dem Feinde, was sie kärglich und äußerst unwillig dem Verteidiger des Vaterlandes geben; bis späterhin auch die von allen Seiten verlassenen, und verratenen Regierenden genötigt werden, durch Unterwerfung und Folgsamkeit gegen fremde Plane ihre Fortdauer zu erkaufen; und so nun auch diejenigen, die im Kampfe für das Vaterland die Waffen wegwarfen, unter fremden Panieren lernen, dieselben gegen das Vaterland tapfer zu führen. So geschieht es, daß die Selbstsucht durch ihre höchste Entwicklung vernichtet, und denen, die gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollten, durch fremde Gewalt ein solcher anderer Zweck aufgedrungen wird.
Keine Nation, die in diesen Zustand der Abhängigkeit herabgesunken, kann durch die gewöhnlichen und bisher gebrauchten Mittel sich aus demselben erheben. War ihr Widerstand fruchtlos, als sie noch im Besitze aller ihrer Kräfte war, was kann derselbe sodann fruchten, nachdem sie des größten Teils derselben beraubt ist? Was vorher hätte helfen können, nämlich wenn die Regierung derselben die Zügel kräftig und straff angehalten hätte, ist nun nicht mehr anwendbar, nachdem diese Zügel nur noch zum Scheine in ihrer Hand ruhen, und diese ihre Hand selbst durch eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird. [...] Lassen Sie uns also sehen, welches in der bisherigen Ordnung der Dinge der Grund war, warum es mit dieser Ordnung irgend einmal notwendig ein Ende nehmen mußte, damit wir an dem Gegenteile dieses Grundes des Untergangs das neue Glied finden, welches in die Zeit eingefügt werden müßte, damit an ihm die gesunkene Nation sich aufrichte zu einem neuen Leben.
Man wird in Erforschung jenes Grundes finden, daß in allen bisherigen Verfassungen die Teilnahme am Ganzen geknüpft war an die Teilnahme des Einzelnen an sich selbst, vermittelst solcher Bande, die irgendwo so gänzlich zerrissen, daß es gar keine Teilnahme für das Ganze mehr gab, – durch die Bande der Furcht und Hoffnung für die Angelegenheiten des Einzelnen aus dem Schicksale des Ganzen, in einem künftigen, und in dem gegenwärtigen Leben. Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes war die Kraft, welche die Verbindung eines künftigen Lebens mit dem gegenwärtigen durch Religion aufhob, zugleich auch andere Ergänzungs- und stellvertretende Mittel der sittlichen Denkart, als da sind Liebe zum Ruhm, und Nationalehre, als täuschende Trugbilder begriff; die Schwäche der Regierungen war es, welche die Furcht für die Angelegenheiten des Einzelnen aus seinem Betragen gegen das Ganze, selbst für das gegenwärtige Leben, durch häufige Straflosigkeit der Pflichtvergessenheit aufhob, und eben so auch die Hoffnung unwirksam machte, indem sie dieselbe gar oft, ohne alle Rücksicht auf Verdienste um das Ganze, nach ganz andern Regeln und Bewegungsgründen, befriedigte. [...]
Über den sinnlichen Antrieb der Furcht oder Hoffnung hinaus, und zunächst an ihn angrenzend, liegt der geistige Antrieb der sittlichen Billigung oder Mißbilligung, und der höhere Affekt des Wohlgefallens oder Mißfallens an unserem und anderer Zustande. [...] So ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe in der Bildung zu einem durchaus neuen, und bisher vielleicht als Ausnahme bei Einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst, dagewesenen Selbst, und in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließendes Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr auf an andere kommen sollte ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Teilung; mit Einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einzige Mittel die deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe. [...]
Mau muß, nach einer solchen Untersuchung, der bisherigen Erziehung zugestehen, daß sie nicht ermangelt, irgend ein Bild von religiöser, sittlicher, gesetzlicher Denkart, und von allerhand Ordnung und guter Sitte vor das Auge ihrer Zöglinge zu bringen, auch daß sie hier und da dieselben getreulich ermahnt habe, jenen Bildern in ihrem Leben einen Abdruck zu geben; aber mit höchst seltenen Ausnahmen, die somit nicht durch diese Erziehung begründet waren, indem sie sodann an allen durch diese Bildung hindurchgegangenen, und als die Regel, hätten eintreten müssen, sondern die durch andere Ursachen herbeigeführt worden, – mit diesen höchst seltenen Ausnahmen, sage ich, sind die Zöglinge dieser Erziehung insgesamt nicht jenen sittlichen Vorstellungen und Ermahnungen, sondern sie sind den Antrieben ihrer, ihnen natürlich, und ohne alle Beihilfe der Erziehungskunst, erwachsenden Selbstsucht, gefolgt; zum unwidersprechlichen Beweise, daß diese Erziehungskunst zwar wohl das Gedächtnis mit einigen Worten und Redensarten, und die kalte und teilnehmungslose Phantasie mit einigen matten und blassen Bildern anzufüllen vermocht, daß es ihr aber niemals gelungen, ihr Gemälde einer sittlichen Weltordnung bis zu der Lebhaftigkeit zu steigern, daß ihr Zögling von der heißen Liebe und Sehnsucht dafür, und von dem glühenden Affekte, der zur Darstellung im Leben treibt, und vor welchem die Selbstsucht abfällt, wie welkes Laub, ergriffen worden; daß somit diese Erziehung weit davon entfernt gewesen sei, bis zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und Bewegung durchzugreifen, und diese zu bilden, indem diese vielmehr, unbeachtet von der blinden und ohnmächtigen, allenthalben wild aufgewachsen sei, wie sie gekonnt habe, zu guter Frucht bei wenigen durch Gott begeisterten, zu schlechter bei der großen Mehrzahl. [...] Das ermangelnde Durchgreifen bis in die Wurzel der Lebens-Regung und -Bewegung hätte diese neue Erziehung der bisherigen hinzuzufügen, und wie die bisherige höchstens etwas am Menschen, so hätte diese den Menschen selbst zu bilden, und ihre Bildung keineswegs, wie bisher, zu einem Besitztume, sondern vielmehr zu einem persönlichen Bestandteile des Zöglings zu machen. [...]
Nach allem ist es der allgemeine Zweck dieser Reden, Mut und Hoffnung zu bringen in die Zerschlagenen, Freude zu verkündigen in die tiefe Trauer, über die Stunde der größten Vedrängnis leicht und sanft hinüber zu leiten. Die Zeit erscheint mir wie ein Schatten, der über seinem Leichname, aus dem so eben ein Heer von Krankheiten ihn heraus getrieben, steht und jammert, und seinen Blick nicht loszureißen vermag von der ehedem so geliebten Hülle, und verzweifelnd alle Mittel versucht, um wieder hineinzukommen in die Behausung der Seuche. Zwar haben schon die belebenden Lüfte der anderen Welt, in die die abgeschiedene eingetreten, sie aufgenommen in sich, und umgeben sie mit warmem Liebeshauche, zwar begrüßen sie schon freudig heimliche Stimmen der Schwestern, und heißen sie willkommen, zwar regt es sich schon und dehnt sich in ihrem Innern nach allen Richtungen hin, um die herrlichere Gestalt, zu der sie erwachsen soll, zu entwickeln; aber noch hat sie kein Gefühl für diese Lüfte, oder Gehör für diese Stimmen, oder wenn sie es hätte, so ist sie aufgegangen in Schmerz über ihren Verlust, mit welchem sie zugleich sich selbst verloren zu haben glaubt. Was ist mit ihr zu tun? Auch die Morgenröte der neuen Welt ist schon angebrochen, und vergoldet schon die Spitzen der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen soll. Ich will, so ich es kann, die Strahlen dieser Morgenröte fassen, und sie verdichten zu einem Spiegel, in welchem die trostlose Zeit sich erblicke, damit sie glaube, daß sie noch da ist, und in ihm ihr wahrer Kern sich ihr darstelle, und die Entfaltungen und Gestaltungen desselben in einem weissagenden Gesichte vor ihr vorüber gehen. [...]
2. Vom Wesen der neuen Erziehung im Allgemeinen
[...] So nun etwa hierauf Jemand also gesagt hätte, wie denn auch wirklich Diejenigen, welche die bisherige Erziehung leiten, fast ohne Ausnahme also sagen: Wie könnte man denn auch irgend einer Erziehung mehr anmuten, als daß sie dem Zöglinge das Recht zeige, und ihn getreulich zu denselben anmahne; ob er diesen Ermahnungen folgen wolle, das sei seine eigene Sache, und wenn er es nicht tue, seine eigene Schuld; er habe freien Willen, den keine Erziehung ihm nehmen könne: so würde ich hierauf, um die von mir gedachte neue Erziehung noch schärfer zu bezeichnen, antworten: daß gerade in diesem Anerkennen, und in diesem Rechnen auf einen freien Willen des Zöglings der erste Irrtum der bisherigen Erziehung, und das deutliche Bekenntnis ihrer Ohnmacht und Nichtigkeit liege. Denn indem sie bekennt, daß nach aller ihrer kräftigsten Wirksamkeit der Wille dennoch frei, d. i. unentschieden schwankend zwischen Gutem und Bösem bleibe, bekennt sie, daß sie den Willen, und da dieser die eigentliche Grundwurzel des Menschen selbst ist, den Menschen selbst zu bilden durchaus weder vermöge, noch wolle oder begehre, und daß dies überhaupt für unmöglich halte. Dagegen würde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, daß sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernehme, die Freiheit des Willens gänzlich vernichtete, und dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließungen, um die Unmöglichkeit des entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte, auf welchem Willen man nunmehr sicher rechnen und auf ihn sich verlassen könnte.
Alle Bildung strebt an, die Hervorbringung eines festen bestimmten und beharrlichen Seins, das nun nicht mehr wird, sondern ist, und nicht anders sein kann, denn so wie es ist. Strebte sie nicht an ein solches Sein, so wäre sie nicht Bildung, sondern irgend ein zweckloses Spiel; hätte sie ein solches Sein nicht hervorgebracht, so wäre sie eben noch nicht vollendet. Wer sich noch ermahnen muß, und ermahnt werden, das Gute zu wollen, der hat noch kein bestimmtes und stets bereitstehendes Wollen, sondern er will sich dieses erst jedesmal im Falle des Gebrauches machen; wer ein solches festes Wollen hat, der will, was er will, für alle Ewigkeit, und er kann in keinem möglichen Falle anders wollen, denn also, wie er eben immer will; für ihn ist die Freiheit des Willens vernichtet und aufgefangen in der Notwendigkeit. [...] Es ist vergebens zu sagen, fliege – dem der keine Flügel hat, und er wird durch alle deine Ermahnungen nie zwei Schritte über den Boden empor kommen; aber entwickle, wenn du kannst, seine geistigen Schwungfedern, und lasse ihn dieselben üben und kräftig machen, und er wird ohne alle dein Ermahnen gar nicht anders mehr wollen oder können, denn fliegen.
Diesen festen und nicht weiter schwankenden Willen muß die neue Erziehung hervorbringen nach einer sichern, und ohne Ausnahme wirksamen Regel; sie muß selber mit Notwendigkeit erzeugen die Notwendigkeit, die sie beabsichtiget. [...] Eine sichere und besonnene Kunst, einen festen und unfehlbaren guten Willen im Menschen zu bilden, soll also die von mir vorgeschlagene Erziehung sein, und dieses ist ihr erstes Merkmal.
Weiter – der Mensch kann nur dasjenige wollen, was er liebt; seine Liebe ist der einzige, zugleich auch der unfehlbare Antrieb seines Wollens und aller seiner Lebens-Regung und Bewegung. Die bisherige Staatskunst, als die Erziehung des gesellschaftlichen Menschen, setzte als sichere und ohne Ausnahme geltende Regel voraus, daß Jedermann sein eigenes sinnliches Wohlsein liebe und wolle, und sie knüpfte an diese natürliche Liebe durch Furcht und Hoffnung künstlich den guten Willen, den sie wollte, das Interesse für das gemeine Wesen. Abgerechnet, daß bei dieser Erziehungsweise der äußerlich zum unschädlichen oder brauchbaren Bürger gewordene dennoch innerlich ein schlechter Mensch bleibt, denn darin eben besteht die Schlechtigkeit, daß man nur sein sinnliches Wohlsein liebe, und nur durch Furcht oder Hoffnung für dieses, sei es nun im gegenwärtigen, oder in einem künftigen Leben bewegt werden könne; – dieses abgerechnet, haben wir schon oben ersehen, daß diese Maßregel für uns nicht mehr anwendbar ist, indem Furcht und Hoffnung nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, und die sinnliche Selbstliebe auf keine Weise in unsern Vorteil gezogen werden kann. Wir sind daher sogar durch die Not gedrungen, innerlich und im Grunde gute Menschen bilden zu wollen, indem nur in solchen die deutsche Nation noch fortdauern kann, durch schlechte aber notwendig mit dem Auslande zusammenfließt. Wir müssen darum an die Stelle jener Selbstliebe, an welche nichts Gutes für uns sich länger knüpfen läßt, eine andere Liebe, die unmittelbar auf das Gute, schlechtweg als solches, und um sein selbst willen gehe, in den Gemütern aller, die wir zu unserer Nation rechnen, setzen und begründen.
Die Liebe für das Gute schlechtweg als solches, und nicht etwa um seiner Nützlichkeit willen für uns selber, trägt, wie wir schon ersehen haben, die Gestalt des Wohlgefallens an demselben: eines so innigen Wohlgefallens, daß man dadurch getrieben werde, es in seinem Leben darzustellen. Dieses innige Wohlgefallen also wäre es, was die neue Erziehung als festes und unwandelbares Sein ihres Zöglings hervorbringen müßte; worauf denn dieses Wohlgefallen durch sich selbst den unwandelbar guten Willen desselben Zöglings als notwendig begründen würde.
Ein Wohlgefallen, das da treibt einen gewissen Zustand der Dinge, der in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist, hervorzubringen in derselben, setzt voraus ein Bild dieses Zustandes, das vor dem wirklichen Sein desselben vorher dem Geiste vorschwebt, und jenes zur Ausführung treibende Wohlgefallen auf sich ziehet. Somit setzt dieses Wohlgefallen in der Person, die von ihm ergriffen werden soll, voraus das Vermögen, selbsttätig dergleichen Bilder, die unabhängig seien von der Wirklichkeit, und keineswegs Nachbilder derselben, sondern vielmehr Vorbilder, zu entwerfen. [...]
[...] Selbsttätig zu entwerfen, habe ich gesagt, und also, daß der Zögling durch eigene Kraft sie sich erzeuge, keineswegs etwa, daß er nur fähig werde, das durch die Erziehung ihm hingegebene Bild, leidend aufzufassen, es hinlänglich zu verstehen, und es, also wie es ihm gegeben ist, zu wiederholen, als ob es nur um das Vorhandensein eines solchen Bildes zu tun wäre. Der Grund dieser Forderung der eigenen Selbsttätigkeit in diesem Bilden ist folgender: nur unter dieser Bedingung kann das entworfene Bild das tätige Wohlgefallen des Zöglings an sich ziehen. [...]
Diese im Zöglinge zu entwickelnde Tätigkeit des geistigen Bildens ist ohne Zweifel eine Tätigkeit nach Regeln, welche Regeln dem Tätigen kund werden, bis zur Einsicht ihrer einzigen Möglichkeit in unmittelbarer Erfahrung an sich selber; also, diese Tätigkeit bringt hervor Erkenntnis, und zwar allgemeiner und ohne Ausnahme geltender Gesetze. [...]
Ich setze hinzu: der Zögling lernt gern und mit Lust, und er mag, so lange die Spannung der Kraft vorhält, gar nichts lieber tun, denn lernen, denn er ist selbsttätig, indem er lernt, und dazu hat er unmittelbar die allerhöchste Lust. [...]
Diese eigene Tätigkeit des Zöglings in irgend einem uns bekannten Punkte nur erst anzuregen, ist das erste Hauptstück der Kunst. Ist dieses gelungen, so kommt es nur noch darauf an, die angeregte von diesem Punkte aus immer im frischen Leben zu erhalten, welches allein durch regelmäßiges Fortschreiten möglich ist, und wo jeder Fehlgriff der Erziehung auf der Stelle durch Mißlingen des beabsichtigten sich entdeckt. [...]
[...] Zum Beispiel wenn der Zögling in freier Phantasie durch gerade Linien einen Raum zu begrenzen versucht, so ist dies die zuerst angeregte geistige Tätigkeit desselben. Wenn er in diesen Versuchen findet, daß er mit weniger denn drei geraden Linien keinen Raum begrenzen könne, so ist dieses letztere die nebenbei entstehende Erkenntnis einer zweiten ganz andern Tätigkeit des, das zuerst angeregte freie Vermögen beschränkenden Erkenntnisvermögens. Dieser Erziehung entsteht sonach gleich bei ihrem Beginnen eine wahrhaft über alle Erfahrung erhabene, übersinnliche, streng notwendige und allgemeine Erkenntnis, die alle nachher mögliche Erfahrung schon im Voraus unter sich befaßt. Dagegen ging der bisherige Unterricht in der Regel nur auf die stehenden Beschaffenheiten der Dinge, wie sie eben, ohne daß man dafür einen Grund angeben könne, seien, und geglaubt, und gemerkt werden müßten; also auf ein bloß leidendes Auffassen durch das lediglich im Dienste der Dinge stehende Vermögen des Gedächtnisses, wodurch es überhaupt gar nicht zur Ahnung des Geistes, als eines selbstständigen und uranfänglichen Prinzips der Dinge selber kommen konnte. [...]
Um wieder zurückzukehren zum Zöglinge der neuen Erziehung: es ist klar, daß derselbe, von seiner Liebe getrieben, viel, und da er alles in seinem Zusammenhange faßt, und das Gefaßte unmittelbar durch ein Tun übt, dieses Viele richtig und unvergeßlich lernen werde. Doch ist dieses nur Nebensache. Bedeutender ist, daß durch diese Liebe sein Selbst erhöhet, und in eine ganz neue Ordnung der Dinge, in welche bisher nur wenige von Gott begünstigte von ungefähr kamen, besonnen, und nach einer Regel eingeführt wird. Ihn treibt eine Liebe, die durchaus nicht auf irgend einen sinnlichen Genuß ausgeht, indem dieser, als Antrieb, für ihn gänzlich schweigt, sondern auf die geistige Tätigkeit, um der Tätigkeit willen, und auf das Gesetz derselben, um des Gesetzes willen. [...] Durch die neue Erziehung soll umgekehrt die Bildung zum reinen Wollen das erste werden, damit, wenn späterhin doch die Selbstsucht innerlich erwachen, oder von außen angeregt werden sollte, diese zu spät komme, und in dem schon von etwas anderem eingenommenen Gemüte keinen Platz für sich finde. [...]
Ob nun aber wohl diese geistige Entwickelung die Selbstsucht nicht zum Leben kommen läßt, und die Form eines sittlichen Willens gibt, so ist dies doch darum noch nicht der sittliche Wille selbst; und falls die von uns vorgeschlagene neue Erziehung nicht weiter ginge, so würde sie höchstens treffliche Bearbeiter der Wissenschaften erziehen, deren es auch bisher gegeben hat [...].[...]
Zuvörderst ist klar, daß die schon früher an andern Gegenständen geübte geistige Tätigkeit des Zöglings angeregt werden müsse, ein Bild von der gesellschaftlichen Ordnung der Menschen, so wie dieselbe nach dem Vernunftgesetze schlecht hin sein soll, zu entwerfen. [...] Eine ganz andere aber und höhere Frage ist die, ob der Zögling also von brennender Liebe für eine solche Ordnung der Dinge ergriffen sei, daß es ihm, der Leitung der Erziehung entlassen und selbstständig hingestellt, schlechterdings unmöglich sein werde, diese Ordnung nicht zu wollen, und nicht aus allen seinen Kräften für die Beförderung derselben zu arbeiten; über welche Frage ohne Zweifel nicht Worte und in Worten anzustellende Prüfungen, sondern allein der Anblick von Taten entscheiden können.
[...] Das allererste Bild einer geselligen Ordnung, zu dessen Entwerfung der Geist des Zöglings angeregt werde, sei das der Gemeinde, in der er selber lebt, also, daß er innerlich gezwungen sei, diese Ordnung Punkt für Punkt gerade also sich zu bilden, wie sie wirklich vorgezeichnet ist, und daß er dieselbe in allen ihren Teilen, als durchaus notwendig aus ihren Gründen verstehe. Dies ist nun abermals bloßes Werk der Erkenntnis. In dieser gesellschaftlichen Ordnung muß nun im wirklichen Leben jeder Einzelne um des Ganzen willen immerfort gar Vieles unterlassen, was er, wenn er sich allein befände, unbedenklich tun könnte; und es wird zweckmäßig sein, daß in der Gesetzgebung, und in dem darauf zu bauenden Unterrichte über die Verfassung, jedem Einzelnen alle die übrigen mit einer zum Ideal gesteigerten Ordnungsliebe vorgestellt werden, welche also vielleicht kein einziger wirklich hat, die aber alle haben sollten; und daß somit diese Gesetzgebung einen hohen Grad von Strenge erhalte, und der Unterlassungen gar viele auflege. Diese, als etwas das schlechthin sein muß, und auf welchem das Bestehen der Gesellschaft beruht, sind auf den Notfall sogar durch Furcht vor gegenwärtiger Strafe zu erzwingen; und muß dieses Strafgesetz schlechthin ohne Schonung oder Ausnahme vollzogen werden. Der Sittlichkeit des Zöglings geschieht durch diese Anwendung der Furcht, als eines Triebes, gar kein Eintrag, indem hier ja nicht zum Tun des Guten, sondern nur zur Unterlassung des in dieser Verfassung Bösen getrieben werden soll; überdies muß im Unterrichte über die Verfassung vollkommen verständlich gemacht werden, daß der, welcher der Vorstellung von der Strafe, oder wohl gar der Anfrischung dieser Vorstellung durch die Erduldung der Strafe selbst noch bedürfe, auf einer sehr niedrigen Stufe der Bildung stehe. Jedennoch ist bei allem diesen klar, daß, da man niemals wissen kann, ob da wo gehorcht wird, aus Liebe zur Ordnung oder aus Furcht vor der Strafe gehorcht werde, in diesem Umkreise der Zögling seinen guten Willen nicht äußerlich dartun, noch die Erziehung ihn ermessen könne.
Dagegen ist der Umkreis, wo ein solches Ermessen möglich ist, der folgende. Die Verfassung muß nämlich ferner also eingerichtet sein, daß der Einzelne für das Ganze nicht bloß unterlassen müsse, sondern daß er für dasselbe auch tun und handelnd leisten könne. Außer der geistigen Entwicklung im Lernen finden in diesem Gemeinwesen der Zöglinge auch noch körperliche Übungen, und die mechanischen aber hier zum Ideale veredelten Arbeiten des Ackerbaues, und die von mancherlei Handwerken statt. Es sei Grundregel der Verfassung, daß jedem, der in irgend einem dieser Zweige sich hervortut, zugemutet werde, die andern darin unterrichten zu helfen, und mancherlei Aufsichten und Verantwortlichkeiten zu übernehmen; jedem, der irgend eine Verbesserung findet, oder die von einem Lehrer vorgeschlagene zuerst und am klarsten begreift, dieselbe mit eigener Mühe auszuführen, ohne daß er doch darum von seinen ohnedies sich verstehenden persönlichen Aufgaben des Lernens und Arbeitens losgesprochen sei; daß jeder dieser Anmutung freiwillig genüge, und nicht aus Zwang, indem es dem Nichtwollenden auch freisteht, sie abzulehnen; daß er dafür keine Belohnung zu erwarten habe, indem in dieser Verfassung alle in Beziehung auf Arbeit und Genuß ganz gleich gesetzt sind, nicht einmal Lob, indem es die herrschende Denkart ist in der Gemeinde, daß daran jeder eben nur seine Schuldigkeit tue, sondern daß er allein genieße die Freude an seinem Tun und Wirken für das Ganze, und an dem Gelingen desselben, falls ihm dieses zuteil wird. In dieser Verfassung wird sonach aus erworbener größerer Geschicklichkeit, und aus der hierauf verwendeten Mühe, nur neue Mühe und Arbeit folgen, und gerade der Tüchtigere wird oft wachen müssen, wenn andere schlafen, und nachdenken müssen, wenn andere spielen.
Die Zöglinge, welche, ohnerachtet ihnen dieses alles vollkommen klar und verständlich ist, dennoch fortgesetzt, und also, daß man mit Sicherheit auf sie rechnen könne, jene erste Mühe und dies aus ihr folgenden weitern Mühen freudig übernehmen, und in dem Gefühle ihrer Kraft und Tätigkeit stark bleiben und stärker werden, – diese kann die Erziehung ruhig entlassen in die Welt; an ihnen hat sie diesen ihren Zweck erreicht; in ihnen ist die Liebe angezündet und brennt bis in die Wurzel ihrer lebendigen Regung hinein, und sie wird von nun an weiter alles ohne Ausnahme ergreifen, was an diese Lebensregung gelangen wird; und sie werden in dem größeren Gemeinwesen, in das sie von nun an eintreten, niemals etwas anderes zu sein vermögen, denn dasjenige, was sie in dem kleinen Gemeinwesen, das sie jetzt verlassen, unverrückt und unwandelbar waren.
Auf diese Weise ist der Zögling vollendet für die nächsten und ohne Ausnahme eintretenden Anforderungen der Welt an ihn, und es ist geschehen, was die Erziehung im Namen dieser Welt von ihm verlangt. Noch aber ist er nicht in sich und für sich selber vollendet, und es ist noch nicht geschehen, was er selbst von der Erziehung fordern kann. So wie auch diese Forderung erfüllt wird, wird er zugleich tüchtig, den Anforderungen, die eine höhere Welt im Namen der gegenwärtigen in besondern Fällen an ihn machen dürfte, zu genügen.
3. Fortsetzung der Schilderung der neuen Erziehung
Das eigentliche Wesen der in Vorschlag gebrachten neuen Erziehung, inwiefern dieselbe in der vorigen Rede beschrieben worden, bestand darin, daß sie die besonnene und sichere Kunst sei, den Zögling zu reiner Sittlichkeit zu bilden. [...]
Zwar bildet diese Erziehung auch den Geist ihres Zöglings; und diese geistige Bildung ist sogar ihr erstes, mit welchem sie ihr Geschäft anhebt. Doch ist diese geistige Entwickelung nicht erster und selbstständiger Zweck, sondern nur das bedingende Mittel, um sittliche Bildung an den Zögling zu bringen. Inzwischen bleibt auch diese nur gelegentlich erworbene geistige Bildung ein aus dem Leben des Zöglings unaustilgbarer Besitz, und die ewig fortbrennende Leuchte seiner sittlichen Liebe. Wie groß auch, oder wie geringfügig die Summe der Erkenntnisse sein möge, die er aus der Erziehung mitgebracht; einen Geist, der sein ganzes Leben hindurch jedwede Wahrheit, deren Erkenntnis ihm notwendig wird, zu fassen vermag, und welcher ebenso der Belehrung durch andere empfänglich, als des eigenen Nachdenkens fähig ohn' Unterlaß bleibt, hat er von derselben sicherlich mit davon gebracht. [...]
Der Zögling dieser Erziehung ist ja nicht bloß Mitglied der menschlichen Gesellschaft hier auf dieser Erde und für die kurze Spanne Lebens, die ihm auf derselben vergönnt ist, sondern er ist auch, und wird ohne Zweifel von der Erziehung anerkannt für ein Glied in der ewigen Kette eines geistigen Lebens überhaupt, unter einer höhern gesellschaftlichen Ordnung. Ohne Zweifel muß auch zur Einsicht in diese höhere Ordnung eine Bildung, die sein ganzes Wesen zu umfassen sich vorgenommen hat, ihn anführen, und so wie sie ihn leitete, ein Bild jener sittlichen Weltordnung, die da niemals ist, sondern ewig werden soll, durch eigene Selbsttätigkeit sich vorzuzeichnen, ebenso muß sie ihn leiten, ein Bild jener übersinnlichen Weltordnung, in der nichts wird, und die auch niemals geworden ist, sondern die da ewig nur ist, in dem Gedanken zu entwerfen, mit gleicher Selbsttätigkeit und also, daß er innigst verstehe und einsehe, daß es nicht anders sein könne. Er wird, richtig geleitet, mit den Versuchen eines solchen Bildes zu Ende kommen, und an diesem Ende finden, daß nichts wahrhaftig da sei, außer das Leben, und zwar das geistige Leben, das da lebet in dem Gedanken; und daß alles Übrige nicht wahrhaftig da sei, sondern nur dazusein scheine, welches Scheines aus dem Gedanken hervorgehenden Grund er gleichfalls, sei es auch nur im Allgemeinen, begreifen wird. Er wird ferner einsehen, daß jenes allein wahrhaft daseiende geistige Leben, in den mannichfaltigen Gestaltungen, die es nicht durch ein Ohngefähr, sondern durch ein in Gott selber gegründetes Gesetz erhielt, wiederum Eins sei, das göttliche Leben selber, welches göttliche Leben allein in dem lebendigen Gedanken da ist und sich offenbar macht. So wird er sein Leben, als ein ewiges Glied in der Kette der Offenbarung des göttlichen Lebens und jedwedes andere geistige Leben, als eben ein solches Glied erkennen und heilig halten lernen; und nur in der unmittelbaren Berührung mit Gott und dem nicht vermittelten Ausströmen seines Lebens aus jenem Leben, Licht und Seligkeit; in jeder Entfernung aber aus der Unmittelbarkeit Tod, Finsternis und Elend finden. Mit einem Worte: diese Entwickelung wird ihn zur Religion bilden; und diese Religion des Einwohnens unsers Lebens in Gott soll allerdings auch in der neuen Zeit herrschen und in derselben sorgfältig gebildet werden. Dagegen soll die Religion der alten Zeit, die das geistige Leben von dem göttlichen abtrennte, und dem erstern nur vermittelst eines Abfalls von dem zweiten das absolute Dasein zu verschaffen wußte, das sie ihm zugedacht hatte, und welche Gott als Faden brauchte, um die Selbstsucht noch über den Tod des sterblichen Leibes hinaus in andere Welten einzuführen, und durch Furcht und Hoffnung in diesen die für die gegenwärtige Welt schwach gebliebene, zu verstärken – diese Religion, die offenbar eine Dienerin der Selbstsucht war, soll allerdings mit der alten Zeit zugleich zu Grabe getragen werden; denn in der neuen Zeit bricht die Ewigkeit nicht erst jenseit des Grabes an, sondern sie kommt ihr mitten in ihre Gegenwart hinein, die Selbstsucht ist aber sowohl des Regiments, als des Dienstes entlassen, und zieht demnach auch ihre Dienerschaft mit ihr ab. [...]
Unmittelbar, im gewöhnlichen Leben und in einer wohlgeordneten Gesellschaft bedarf es der Religion durchaus nicht, um das Leben zu bilden, sondern es reicht für diese Zwecke die wahre Sittlichkeit vollkommen hin. In dieser Rücksicht ist also die Religion nicht praktisch und kann und soll gar nicht praktisch werden, sondern sie ist lediglich Erkenntnis: sie macht bloß den Menschen sich selber vollkommen klar und verständlich, beantwortet die höchste Frage, die er aufwerfen kann, löset ihm den letzten Widerspruch auf, und bringt so vollkommene Einigkeit mit sich selbst, und durchgeführte Klarheit in seinen Verstand. Sie ist seine vollständige Erlösung und Befreiung von allem fremden Bande; und so ist sie ihm denn die Erziehung, als etwas, das ihm schlechtweg und ohne weitern Zweck gebührt, schuldig. Ein Gebiet, um als Antrieb zu wirken, erhält die Religion nur entweder in einer höchst unsittlichen und verdorbenen Gesellschaft, oder wenn die Wirkungssphäre des Menschen nicht innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, sondern über dieselbe hinaus liegt, und dieselbe vielmehr immerfort neu zu erschaffen und zu erhalten hat, wie beim Regenten, welcher in vielen Fällen ohne Religion sein Amt gar nicht mit gutem Gewissen führen könnte. Von dem letztern Falle ist in einer auf alle und auf die ganze Nation berechneten Erziehung nicht die Rede. Wo in der ersten Rücksicht bei klarer Einsicht des Verstandes in die Unverbesserlichkeit des Zeitalters dennoch unablässig fortgearbeitet wird an demselben; wo mutig der Schweiß des Säens erduldet wird, ohne einige Aussicht auf eine Ernte; wo wohlgetan wird auch den Undankbaren, und gesegnet werden mit Taten und Gütern Diejenigen, die da fluchen, und in der klaren Vorhersicht, daß sie abermals fluchen werden; wo nach hundertfältigem Mißlingen dennoch ausgeharrt wird im Glauben und in der Liebe: da ist es nicht die bloße Sittlichkeit, die da treibt, denn diese will einen Zweck, sondern es ist die Religion, die Ergebung in ein höheres uns unbekanntes Gesetz, das demütige Verstummen vor Gott, die innige Liebe zu seinem in uns ausgebrochenen Leben, welches allein und um sein selbst willen gerettet werden soll, wo das Auge nichts anders zu retten sieht.
Auf diese Weise kann die erlangte Religionseinsicht der Zöglinge der neuen Erziehung in ihrem kleinen Gemeinwesen, in dem sie zunächst aufwachsen, nicht praktisch werden, noch soll sie es auch. Dieses Gemeinwesen ist wohlgeordnet, und in ihm gelingt das geschickt Unternommene immer; auch soll das noch zarte Alter des Menschen erhalten werden in der Unbefangenheit und im ruhigen Glauben an sein Geschlecht. Die Erkenntnis seiner Tücken bleibe vorbehalten der eigenen Erfahrung des gereiften und befestigten Alters.
Nur in diesem gereifteren Alter sonach und in dem ernstlich gemeinten Leben, nachdem die Erziehung längst ihn sich selber überlassen hat, könnte der Zögling derselben, falls seine gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Einfachheit zu höhern Stufen fortschreiten sollten, seiner Religionskenntnis, als eines Antriebes bedürfen. Wie soll nun die Erziehung, welche über diesen Punkt den Zögling, so lange er unter ihren Händen ist, nicht prüfen kann, dennoch sicher sein können, daß, wenn nur dieses Bedürfnis eintreten werde, auch dieser Antrieb unfehlbar wirken werde? Ich antworte: dadurch, daß ihr Zögling überhaupt so gebildet ist, daß keine Erkenntnis, die er hat, in ihm tot und kalt bleibt, wenn die Möglichkeit eintritt, daß sie ein Leben bekomme, sondern jedwede notwendig sogleich eingreift in das Leben, so wie das Leben derselben bedarf. Ich werde diese Behauptung sogleich noch tiefer begründen, und dadurch den ganzen in dieser und der vorigen Rede behandelten Begriff erheben und einfügen in ein größeres Ganzes der Erkenntnis, welchem größeren Ganzen selber ich auf diesem Begriffe ein neues Licht und eine höhere Klarheit geben werde, nachdem ich nur vorher das wahre Wesen der neuen Erziehung, deren allgemeine Beschreibung ich so eben geschlossen habe, bestimmt werde angegeben haben.
Diese Erziehung erscheint nun nicht mehr, so wie im Anfange unserer heutigen Rede, bloß als die Kunst den Zögling zu reiner Sittlichkeit zu bilden, sondern sie leuchtet vielmehr ein als die Kunst, den ganzen Menschen durchaus und vollständig zum Menschen zu bilden. Hierzu gehören zwei Hauptstücke, zuerst in Absicht der Form, daß der wirkliche lebendige Mensch, bis in die Wurzel seines Lebens hinein, keineswegs aber der bloße Schatten und Schemen eines Menschen gebildet werde, sodann in Absicht des Inhalts, daß alle notwendigen Bestandteile des Menschen ohne Ausnahme und gleichmäßig ausgebildet werden. Diese Bestandteile sind Verstand und Wille, und die Erziehung hat zu beabsichtigen die Klarheit des ersten, und die Reinheit des zweiten. Zur Klarheit des ersten aber sind zu erheben zwei Hauptfragen: zuerst was es sei, das der reine Wille eigentlich wolle, und durch welche Mittel dieses Gewollte zu erreichen sei, durch welches Hauptstück die übrigen dem Zöglinge beizubringenden Erkenntnisse befaßt werden; sodann, was dieser reine Wille in seinem Grunde und Wesen selber sei, wodurch die Religionserkenntnis befaßt wird. Die genannten Stücke nun, entwickelt bis zum Eingreifen ins Leben, fordert die Erziehung schlechtweg, und gedenkt keinem das Mindeste davon zu erlassen, denn jeder soll eben ein Mensch sein; was Jemand nun noch weiter werde, und welche besondere Gestalt die allgemeine Menschheit in ihm annehme oder erhalte, geht die allgemeine Erziehung nichts an, und liegt außerhalb ihres Kreises. [...]
1) [...] Die erste, zu allererst der Zeit nach sich entwickelnde Grundart des Bewußtseins ist die des dunklen Gefühls. Mit diesem Gefühle wird am gewöhnlichsten und in der Regel der Grundtrieb erfaßt als Liebe des Einzelnen zu sich selbst, und zwar gibt das dunkle Gefühl dieses Selbst zunächst nur als ein solches, das da leben will und wohl sein. Hieraus entsteht die sinnliche Selbstsucht, als wirklicher Grundtrieb und entwickelnde Kraft eines solchen, in dieser Übersetzung seines ursprünglichen Grundtriebes befangenen Lebens. So lange der Mensch fortfährt, also sich zu verstehen, so lange muß er selbstsüchtig handeln, und kann nicht anders; und diese Selbstsucht ist das einzig beharrende, sich gleichbleibende und sicher zu erwartende in dem unaufhörlichen Wandel seines Lebens. [...]
Die zweite Grundart des Bewußtseins, welche in der Regel sich nicht von selbst entwickelt, sondern in der Gesellschaft sorgfältig gepflegt werden muß, ist die klare Erkenntnis. Würde der Grundtrieb der Menschheit in diesem Elemente erfaßt, so würde dies eine zweite, von der ersten ganz verschiedene Klasse von Menschen geben. Eine solche, die Grundliebe selbst erfassende Erkenntnis läßt nun nicht, wie eine andere Erkenntnis dies wohl kann, kalt und unteilnehmend, sondern der Gegenstand derselben wird geliebt über Alles, da dieser Gegenstand ja nur die Deutung und Übersetzung unserer ursprünglichen Liebe selbst ist. Andere Erkenntnis erfaßt fremdes, und dieses bleibt fremd, und läßt kalt; diese erfaßt den Erkennenden selbst und seine Liebe, und diese liebt er. [...]
Daß nun eine solche klare Erkenntnis unmittelbar antreibend werde im Leben, und man hierauf sicher zählen könne, hängt, wie gesagt, davon ab, daß es die wirkliche und wahre Liebe des Menschen sei, die durch dieselbe gedeutet werde; auch daß ihm unmittelbar klar werde, daß es also sei, und mit der Deutung zugleich das Gefühl jener Liebe in ihm angeregt und von ihm empfunden werde; daß daher niemals die Erkenntnis in ihm entwickelt werde, ohne daß zugleich die Liebe es werde, indem im entgegengesetzten Falle er kalt bleiben würde, und niemals die Liebe, ohne daß die Erkenntnis zugleich es werde, indem im Gegenteile sein Antrieb ein dunkles Gefühl werden würde; daß daher mit jedem Schritte seiner Bildung der ganze vereinigte Mensch gebildet werde. Ein von der Erziehung also als ein unteilbares Ganzes immerfort behandelter Mensch wird es auch fernerhin bleiben, und jede Erkenntnis wird ihm notwendig Lebensantrieb werden.
2) Indem auf diese Weise statt des dunkeln Gefühls die klare Erkenntnis zu dem allerersten, und zu der wahrem Grundlage und Ausgangspunkte des Lebens gemacht wird, wird die Selbstsucht ganz übergangen, und um ihre Entwicklung betrogen. Denn nur das dunkle Gefühl gibt dem Menschen sein Selbst als ein genußbedürftiges und schmerzscheuendes; keineswegs aber gibt es ihm also der klare Begriff, sondern dieser zeigt es als Glied einer sittlichen Ordnung, und es gibt eine Liebe zu dieser Ordnung, welche bei der Entwicklung des Begriffs zugleich mit angezündet und entwickelt wird. Mit der Selbstsucht bekommt diese Erziehung gar nichts zu tun, weil sie die Wurzel derselben, das dunkle Gefühl, durch Klarheit erstickt; sie bestreitet sie nicht, ebensowenig als sie dieselbe entwickelt, sie weiß gar nicht von ihr. Wäre es möglich, daß diese Sucht später dennoch sich regen sollte, so würde sie das Herz schon angefüllt finden von einer höhern Liebe, die ihr den Platz versagt.
3) Dieser Grundtrieb des Menschen nun, wenn er in klare Erkenntnis übersetzt wird, geht nicht auf eine schon gegebene und vorhandene Welt, welche ja nur leidend genommen werden kann, wie sie eben ist, und in der eine zu ursprünglich schöpferischer Tätigkeit treibende Liebe keinen Wirkungskreis für sich fände; sondern er geht, zur Erkenntnis gesteigert auf eine Welt, die da werden soll, eine apriorische, eine solche, die da zukünftig ist, und ewig fort zukünftig bleibt. Das aller Erscheinung zu Grunde liegende göttliche Leben tritt darum niemals ein als ein bestehendes und gegebenes Sein, sondern als etwas, das da werden soll, und nachdem ein solches, das da werden sollte, geworden ist, wird es abermals eintreten als ein werden sollendes in alle Ewigkeit, daß daher jenes göttliche Leben niemals eintritt in den Tod des stehenden Seins, sondern immerfort bleibt in der Form des fortfließenden Lebens. Die unmittelbare Erscheinung und Offenbarung Gottes ist die Liebe; erst die Deutung dieser Liebe durch die Erkenntnis setzt ein Sein, und zwar ein solches, das ewig fort nur werden soll, und dieses, als die einzige wahre Welt, in wiefern an einer Welt überhaupt Wahrheit ist. Dagegen ist die zweite gegebene und von uns als vorhanden vorgefundene Welt nur der Schatten und Schemen, aus welchem die Erkenntnis ihrer Deutung der Liebe eine feste Gestalt und einen sichtbaren Leib erbaut; diese zweite Welt das Mittel und die Bedingung der Anschaulichkeit der für sich selbst unsichtbaren höhern Welt. Nicht einmal in diese letztere höhere Welt tritt Gott unmittelbar ein, sondern auch hier nur vermittelt durch die eine, reine, unwandelbare und gestaltlose Liebe, in welcher Liebe allein er unmittelbar erscheint. [...]
4) [...] Da nun, wie wir gleichfalls ersehen haben, auf die letzte Weise eine von den bisherigen gewöhnlichen Menschen durchaus verschiedene Menschen-Art eingeführt, und als die Regel gesetzt wird, so würde durch eine solche Erziehung allerdings eine ganz neue Ordnung der Dinge, und eine neue Schöpfung beginnen. Zu dieser neuen Gestalt würde nun die Menschheit sich selber durch sich selbst, eben indem sie als gegenwärtiges Geschlecht sich selbst als zukünftiges Geschlecht erzieht, erschaffen; auf die Weise, wie sie allein dies kann, durch die Erkenntnis, als das einzige gemeinschaftliche und frei mitzuteilende, und das wahre, die Geisterwelt zur Einheit verbindende Licht und Luft dieser Welt. Bisher wurde die Menschheit, was sie eben wurde und werden konnte; mit diesem Werden durch das Ohngefähr ist es vorbei; denn da, wo sie am allerweitesten sich entwickelt hat, ist sie zu Nichts geworden. Soll sie nicht bleiben in diesem Nichts, so muß sie von nun an zu allem, was sie noch weiter werden soll, sich selbst machen. Dies sei die eigentliche Bestimmung des Menschengeschlechts auf der Erde, sagte ich in den Vorlesungen, deren Fortsetzung diese sind, daß es mit Freiheit sich zu dem mache, was es eigentlich ursprünglich ist. Dieses Sichselbstmachen, im Allgemeinen mit Besonnenheit und nach einer Regel, muß nun irgendwo und irgendwann im Raum und in der Zeit einmal anheben, wodurch ein zweiter Hauptabschnitt der freien und besonnenen Entwickelung des Menschengeschlechts an die Stelle des ersten Abschnitts einer nicht freien Entwickelung treten würde. Wir sind der Meinung, daß, in Absicht der Zeit, diese Zeit eben jetzt sei, und daß dermalen das Geschlecht in der wahren Mitte seines Lebens auf der Erde zwischen seinen beiden Hauptepochen stehe; in Absicht des Raums aber glauben wir, daß zu allernächst den Deutschen es anzumuten sei, die neue Zeit, vorangehend und vorbildend für die übrigen, zu beginnen.
5) [...] Wenn wir als allererste Voraussetzung der neuen Erziehung aufstellen, daß in der Wurzel des Menschen ein reines Wohlgefallen am Guten sei und daß dieses Wohlgefallen so sehr entwickelt werden könne, daß es dem Menschen unmöglich werde, das für gut Erkannte zu unterlassen, und statt dessen das für bös Erkannte zu tun; so hat dagegen die bisherige Erziehung nicht bloß angenommen, sondern auch ihre Zöglinge von früher Jugend an belehrt, teils, daß dem Menschen eine natürliche Abneigung gegen Gottes Gebote beiwohne, teils, daß es ihm schlechthin unmöglich sei, dieselben zu erfüllen. Was läßt von einer solchen Belehrung, wenn sie für Ernst genommen wird und Glauben findet, anderes sich erwarten, als daß jeder Einzelne sich in seine nun einmal nicht abzuändernde Natur ergebe, nicht versuche zu leisten, was ihm nun als einmal unmöglich vorgestellt ist, und nicht besser zu sein begehre, denn er und alle übrigen zu sein vermögen; ja, daß er sich sogar die ihm angemutete Niederträchtigkeit gefallen lasse, sich selbst in seiner radikalen Sündhaftigkeit und Schlechtigkeit anzuerkennen; indem diese Niederträchtigkeit vor Gott ihm als das einzige Mittel vorgestellt wird, mit demselben sich abzufinden: und daß er, falls etwa eine solche Behauptung, wie die unsrige, an sein Ohr trifft, nicht anders denken könne, als daß man bloß einen schlechten Scherz mit ihm treiben wolle, indem er allgegenwärtig fühlt in seinem Innern, und mit den Händen greift, daß dieses nicht wahr, sondern das Gegenteil davon allein wahr sei? Wenn wir eine von allem gegebenen Sein ganz unabhängige und vielmehr diesem Sein selbst das Gesetz gebende Erkenntnis annehmen, und in diese gleich vom Anbeginn jedes menschliche Kind eintauchen, und es von nun an in dem Gebiete derselben immerfort erhalten wollen, wogegen wir die nur historisch zu erlernende Beschaffenheit der Dinge als eine geringfügige Nebensache, die von selbst sich ergibt, betrachten: so treten die reifsten Früchte der bisherigen Bildung uns entgegen und erinnern uns, daß es ja bekanntermaßen gar keine apriorische Erkenntnis gebe, und daß sie wohl wissen möchten, wie man erkennen könne, außer durch Erfahrung. Und damit diese übersinnliche und apriorische Welt auch sogar an derjenigen Stelle sich nicht verrate, wo es gar nicht zu vermeiden schien – an der Möglichkeit einer Erkenntnis von Gott, und selbst an Gott nicht die geistige Selbsttätigkeit sich erhebe, sondern das leidende Hingeben Alles in Allem bliebe, hat gegen diese Gefahr die bisherige Menschenbildung das kühne Mittel gefunden, das Dasein Gottes zu einem historischen Factum zu machen, dessen Wahrheit durch ein Zeugenverhör ausgemittelt wird.
[...] Jetzt vermag es das Zeitalter noch gar nicht, unsern Worten zu glauben, und es ist notwendig, daß ihm dieselben vorkommen wie Märchen. Wir wollen auch diesen Glauben nicht; wir wollen nur Raum zum Schaffen und Handeln. Nachmals wird es sehen, und es wird glauben seinen eigenen Augen.
So wird z. B. Jedermann, der mit den Erzeugungen der letzten Zeit bekannt ist, schon längst bemerkt haben, daß hier abermals die Sätze und Ansichten ausgesprochen werden, welche die neuere deutsche Philosophie seit ihrer Entstehung geprediget hat, und wiederum gepredigt, weil sie eben nichts weiter vermochte, denn zu predigen. Daß diese Predigten fruchtlos verhallet sind in der leeren Luft, ist nun hinlänglich klar, auch ist der Grund klar, warum sie also verhallen mußten. Nur auf Lebendiges wirkt Lebendiges; in dem wirklichen Leben der Zeit aber ist gar keine Verwandtschaft zu dieser Philosophie, indem diese Philosophie ihr Wesen treibt in einem Kreise, der für jene noch gar nicht aufgegangen, und für Sinnenwerkzeuge, die jener noch nicht erwachsen sind. Sie ist gar nicht zu Hause in diesem Zeitalter, sondern sie ist ein Vorgriff der Zeit und ein schon im Voraus fertiges Lebenselement eines Geschlechts, das in demselben erst zum Lichte erwachsen soll. Auf das gegenwärtige Geschlecht muß sie Verzicht tun; damit sie aber bis dahin nicht müßig sei, so übernehme sie dermalen die Aufgabe, das Geschlecht, zu welchem sie gehört, sich zu bilden. [...]
4. Hauptverschiedenheit zwischen den deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft
Das in diesen Reden vorgeschlagene Bildungsmittel eines neuen Menschengeschlechts müsse zu allererst von Deutschen an Deutschen angewendet werden, und es komme dasselbe ganz eigentlich und zunächst unserer Nation zu, ist gesagt worden. Auch dieser Satz bedarf eines Beweises, und wir werden auch hier, so wie bisher, anheben von dem höchsten und allgemeinsten, zeigend, was der Deutsche an und für sich, unabhängig von dem Schicksale, das ihn dermalen betroffen hat, in seinem Grundzuge sei und von jeher gewesen sei, seitdem er ist; und darlegend, daß schon in diesem Grundzuge die Fähigkeit und Empfänglichkeit einer solchen Bildung, ausschließend vor allen andern europäischen Nationen, liege.
Der Deutsche ist zuvörderst ein Stamm der Germanier überhaupt, über welche letztere hier hinreicht die Bestimmung anzugeben, daß sie da waren, die im alten Europa errichtete gesellschaftliche Ordnung mit der im alten Asien aufbewahrten wahren Religion zu vereinigen, und so an und aus sich selbst eine neue Zeit, im Gegensatze des untergegangenen Altertums, zu entwickeln. Ferner reicht es hin den Deutschen insbesondere nur im Gegensatze mit den andern neben ihm entstandenen germanischen Völkerstämmen zu bezeichnen; indem andere neueuropäische Nationen, als z. B. die von slavischer Abstammung, sich vor dem übrigen Europa noch nicht so klar entwickelt zu haben scheinen, daß eine bestimmte Zeichnung von ihnen möglich sei, andere aber von der gleichen germanischen Abstammung, von denen der zugleich anzuführende Hauptunterscheidungsgrund nicht gilt, wie die Skandinavier hier unbezweifelt für Deutsche genommen werden, und unter allen den allgemeinen Folgen unserer Betrachtung mit begriffen sind. [...]
Der zu allererst und unmittelbar der Betrachtung sich darbietende Unterschied zwischen den Schicksalen der Deutschen und der übrigen aus derselben Wurzel erzeugten Stämme ist der, daß die ersten in den ursprünglichen Wohnsitzen des Stammvolks blieben, die letzten in andere Sitze auswanderten, die ersten die ursprüngliche Sprache des Stammvolks behielten und fortbildeten, die letzten eine fremde Sprache annahmen, und dieselbe allmählich nach ihrer Weise umgestalteten. [...]
Die Sprache überhaupt, und besonders die Bezeichnung der Gegenstände in derselben durch das Lautwerden der Sprachwerkzeuge hängt keineswegs von willkürlichen Beschlüssen und Verabredungen ab, sondern es gibt zuförderst ein Grundgesetz, nach welchem jedweder Begriff in den menschlichen Sprachwerkzeugen zu diesem und keinem andern Laute wird. So wie die Gegenstände sich in den Sinnenwerkzeugen des Einzelnen mit dieser bestimmten Figur, Farbe u. s. w. abbilden, so bilden sie sich im Werkzeuge des gesellschaftlichen Menschen, in der Sprache mit diesem bestimmten Laute ab. Nicht eigentlich redet der Mensch, sondern in ihm redet die menschliche Natur, und verkündiget sich andern seines Gleichen. Und so müßte man sagen: die Sprache ist eine einzige und durchaus notwendige. [...]
Nenne man die unter denselben äußern Einflüssen auf das Sprachwerkzeug stehenden, zusammenlebenden und in fortgesetzter Mitteilung ihre Sprache fortbildenden Menschen ein Volk, so muß man sagen: die Sprache dieses Volks ist notwendig so wie sie ist, und nicht eigentlich dieses Volk spricht seine Erkenntnis aus, sondern seine Erkenntnis selbst spricht sich aus aus demselben.
[...] Niemals ist ein Zeitpunkt eingetreten, da die Zeitgenossen aufgehört hätten sich zu verstehen, indem ihr ewiger Vermittler und Dolmetscher die aus ihnen allen sprechende gemeinsame Naturkraft immerfort war und blieb. So verhält es sich mit der Sprache als Bezeichnung der Gegenstände unmittelbar sinnlicher Wahrnehmung, und dieses ist alle menschliche Sprache anfangs. Erhebt von dieser das Volk sich zu Erfassung des Übersinnlichen, so vermag dieses Übersinnliche zur beliebigen Wiederholung und zur Vermeidung der Verwirrung mit dem sinnlichen für den ersten Einzelnen, und zur Mitteilung und zweckmäßigen Leitung für andere, zuvörderst nicht anders festgehalten zu werden, denn also, daß ein Selbst als Werkzeug einer übersinnlichen Welt bezeichnet, und von demselben Selbst, als Werkzeug der sinnlichen Welt, genau unterschieden werde – eine Seele, Gemüt und dergleichen einem körperlichen Leib entgegengesetzt werde. Ferner könnten die verschiedenen Gegenstände dieser übersinnlichen Welt, da sie insgesamt nur in jenem übersinnlichen Werkzeuge erscheinen, und für dasselbe da sind, in der Sprache nur dadurch bezeichnet werden, daß gesagt werde, ihr besonderes Verhältnis zu ihrem Werkzeuge sei also wie das Verhältnis der und der bestimmten sinnlichen Gegenstände zum sinnlichen Werkzeuge, und das in diesem Verhältnis ein besonderes übersinnliches einem besondern sinnlichen gleichgesetzt, und durch diese Gleichsetzung sein Ort im übersinnlichen Werkzeuge durch die Sprache angedeutet werde. Weiter vermag in diesem Umkreise die Sprache nichts; sie gibt ein sinnliches Bild des Übersinnlichen bloß mit der Bemerkung, daß es ein solches Bild sei; wer zur Sache selbst kommen will, muß nach der durch das Bild ihm angegebenen Regel sein eigenes geistiges Werkzeug in Bewegung setzen. – Im allgemeinen erhellt, daß diese sinnbildliche Bezeichnung des Übersinnlichen jedesmal nach der Stufe der Entwicklung des sinnlichen Erkenntnisvermögens unter dem gegebenen Volke sich richten müsse; daß daher der Anfang und Fortgang dieser sinnbildlichen Bezeichnung in verschiedenen Sprachen sehr verschieden ausfallen werde, nach der Verschiedenheit des Verhältnisses, das zwischen der sinnlichen und geistigen Ausbildung des Volkes, das eine Sprache redet, stattgefunden und fortwährend stattfindet.
Wir beleben zuvörderst diese in sich klare Bemerkung durch ein Beispiel. Etwas, das zufolge der in der vorigen Rede erklärten Erfassung des Grundtriebes nicht erst durch das dunkle Gefühl, sondern sogleich durch klare Erkenntnis entsteht, dergleichen jedesmal ein übersinnlicher Gegenstand ist, heißt mit einem griechischen, auch in der deutschen Sprache häufig gebrauchten Worte, eine Idee, und dieses Wort gibt genau dasselbe Sinnbild, was in der deutschen das Wort Gesicht, wie dieses in folgenden Wendungen der lutherischen Bibelübersetzung: ihr werdet Gesichte sehen, ihr werdet Träume haben, vorkommt. Idee oder Gesicht in sinnlicher Bedeutung wäre etwas, das nur durch das Auge des Leibes, keineswegs aber durch einen andern Sinn, etwa der Betastung. des Gehörs u. s. w. erfaßt werden könnte, so wie etwa ein Regenbogen, oder die Gestalten, welche im Traume vor uns vorübergehen. Dasselbe in übersinnlicher Bedeutung hieße zuvörderst, zufolge des Umkreises, in dem das Wort gelten soll, etwas, das gar nicht durch den Leib, sondern nur durch den Geist erfaßt wird, sodann, das auch nicht durch das dunkle Gefühl des Geistes, wie manches andere, sondern allein durch das Auge desselben, die klare Erkenntnis, erfaßt werden kann. Wollte man nun etwa ferner annehmen, daß den Griechen bei dieser sinnbildlichen Bezeichnung allerdings der Regenbogen und die Erscheinungen der Art zum Grunde gelegen, so müßte man gestehen, daß ihre sinnliche Erkenntnis schon vorher sich zur Bemerkung des Unterschiedes zwischen den Dingen, daß einige sich allen oder mehreren Sinnen, einige sich bloß dem Auge offenbaren, erhoben haben müsse, und daß außerdem sie den entwickelten Begriff, wenn er ihnen klar geworden wäre, nicht also, sondern anders hätten bezeichnen müssen. Es würde sodann auch ihr Vorzug in geistiger Klarheit erhellen etwa vor einem andern Volke, das den Unterschied zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem nicht durch ein aus dem besonnenen Zustande des Wachens hergenommenes Sinnbild habe bezeichnen können, sondern zum Traume seine Zuflucht genommen, um ein Bild für eine andere Welt zu finden; zugleich würde einleuchten, daß dieser Unterschied nicht etwa durch die größere oder geringere Stärke des Sinns fürs Übersinnliche in den beiden Völkern, sondern daß er lediglich durch die Verschiedenheit ihrer sinnlichen Klarheit, damals, als sie Übersinnliches bezeichnen wollten, begründet sei.
[...] Ferner, da die Sprache nicht durch Willkür vermittelt, sondern als unmittelbare Naturkraft aus dem verständigen Leben ausbricht, so hat eine ohne Abbruch nach diesem Gesetze fortentwickelte Sprache auch die Kraft, unmittelbar einzugreifen in das Leben und dasselbe anzuregen. Wie die unmittelbar gegenwärtigen Dinge den Menschen bewegen, so müssen auch die Worte einer solchen Sprache den bewegen, der sie versteht, denn auch sie sind Dinge, keineswegs willkürliches Machwerk. [...]
Ganz das Gegenteil aber von allem bisher Gesagten erfolgt alsdann, wenn ein Volk mit Aufgebung seiner eigenen Sprache eine fremde, für übersinnliche Bezeichnung schon sehr gebildete annimmt [...]. – In Absicht des sinnlichen Teils der Sprache zwar ist diese Gegebenheit ohne Folgen. In jedem Volke müssen ja ohnedies die Kinder diesen Teil der Sprache, gleich als ob die Zeichen willkürlich wären, lernen und so die ganze frühere Sprachentwicklung der Nation hierin nachholen; jedes Zeichen aber in diesem sinnlichen Umkreise kann durch die unmittelbare Ansicht, oder Berührung des Bezeichneten vollkommen klar gemacht werden. [...] Dagegen ist diese Veränderung von den bedeutendsten Folgen in Rücksicht des übersinnlichen Teils der Sprache. Dieser hat zwar für die ersten Eigentümer der Sprache sich gemacht auf die bisher beschriebene Weise; für die spätern Eroberer derselben aber enthält das Sinnbild eine Vergleichung mit einer sinnlichen Anschauung, die sie entweder schon längst, ohne die beiliegende geistige Ausbildung, übersprungen haben, oder die sie dermalen noch nicht gehabt haben, auch wohl niemals haben können. Das höchste, was sie hiebei tun können, ist, daß sie das Sinnbild und die geistige Bedeutung derselben sich erklären lassen, wodurch sie die flache und tote Geschichte einer fremden Bildung, keineswegs aber eigene Bildung erhalten und Bilder bekommen, die für sie weder unmittelbar klar, noch auch lebenanregend sind, sondern völlig also willkürlich erscheinen müssen, wie der sinnliche Teil der Sprache. Für sie ist nun, durch diesen Eintritt der bloßen Geschichte als Erklärerin, die Sprache in Absicht des ganzen Umkreises ihrer Sinnbildlichkeit tot, abgeschlossen und ihr stetiger Fortfluß abgebrochen. [...]
[...] Ich bediene mich als solchen Beispiels der drei berüchtigten Worte, Humanität, Popularität, Liberalität. Diese Worte, vor dem Deutschen, der keine andere Sprache gelernt hat, ausgesprochen, sind ihm ein völlig leerer Schall, der an nichts ihm schon Bekanntes durch Verwandtschaft des Lautes erinnert und so aus dem Kreise seiner Anschauung und aller möglichen Anschauung ihn vollkommen herausreißt. [...] Hätte man nun etwa dem Deutschen statt des Wortes Humanität das Wort Menschlichkeit, wie jenes wörtlich übersetzt werden muß, ausgesprochen, so hätte er uns ohne weitere historische Erklärung verstanden; aber er hätte gesagt: da ist man nicht eben viel, wenn man ein Mensch ist und kein wildes Tier. Also aber, wie wohl nie ein Römer gesagt hätte, würde der Deutsche sagen, deswegen, weil die Menschheit überhaupt in seiner Sprache nur ein sinnlicher Begriff geblieben, niemals aber wie bei den Römern zum Sinnbilde eines übersinnlichen geworden. [...]
Würde ich ferner dem Deutschen statt der Wörter Popularität und Liberalität die Ausdrücke Haschen nach Gunst beim großen Haufen, und Entfernung vom Sklavensinn, wie jene wörtlich übersetzt werden müssen, sagen, so bekäme derselbe zuvörderst nicht einmal ein klares und lebhaftes sinnliches Bild, dergleichen der frühere Römer allerdings bekam. Dieser sah alle Tage die schmiegsame Höflichkeit des ehrgeizigen Kandidaten gegen alle Welt, so wie die Ausbrüche des Sklavensinns vor Augen, und jene Worte bildeten sie ihm wieder lebendig vor. [...]
[...] Hätte man das, was jene drei ausländischen Worte eigentlich wollen müssen, wenn sie überhaupt etwas wollen, dem Deutschen in seinen Worten, und in seinem sinnbildlichen Kreise also ausgesprochen: Menschenfreundlichkeit, Leutseligkeit, Edelmut, so hätte er uns verstanden; die genannten Schlechtigkeiten aber hätten sich niemals in jene Bezeichnungen einschieben lassen. Im Umfange deutscher Rede entsteht eine solche Einhüllung in Unverständlichkeit und Dunkel, entweder aus Ungeschicktheit, oder aus böser Tücke; sie ist zu vermeiden, und die Übersetzung in rechtes wahres Deutsch liegt als stets fertiges Hilfsmittel bereit. In den neulateinischen Sprachen aber ist diese Unverständlichkeit natürlich und ursprünglich, und sie ist durch gar kein Mittel zu vermeiden, indem diese überhaupt nicht im Besitze irgend einer lebendigen Sprache, woran sie die tote prüfen könnten, sich befinden, und die Sache genau genommen, eine Muttersprache gar nicht haben. [...]
Somit ist unsre nächste Aufgabe, den unterscheidenden Grundzug des Deutschen vor den andern Völkern germanischer Abkunft zu finden, gelöst. Die Verschiedenheit ist sogleich bei der ersten Trennung des gemeinschaftlichen Stamms entstanden, und besteht darin, daß der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber tote Sprache. [...] Sollte vom innern Werte der deutschen Sprache die Rede entstehen, so müßte wenigstens eine von gleichem Range, eine ebenfalls ursprüngliche, als etwa die griechische, den Kampfplatz betreten; unser gegenwärtiger Zweck aber liegt tief unter einer solchen Vergleichung.
Welchen unermeßlichen Einfluß auf die ganze menschliche Entwicklung eines Volks die Beschaffenheit seiner Sprache haben möge, die Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimste Tiefe seines Gemüts bei Denken und Wollen begleitet, und beschränkt oder beflügelt, welche die gesamte Menschenmenge, die dieselbe redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinsamen Verstande verknüpft, welche der wahre gegenseitige Durchströmungspunkt der Sinnenwelt und der der Geister ist, und die Enden dieser beiden also in einander verschmilzt, daß gar nicht zu sagen ist, zu welcher von beiden sie selber gehöre; wie verschieden die Folge dieses Einflusses ausfallen möge, da, wo das Verhältnis ist, wie Leben und Tod, läßt sich im Allgemeinen erraten. [...]
[...] Ich gebe diese Folgen vorläufig in der Kürze also an: 1) Beim Volke der lebendigen Sprache greift die Geistesbildung ein ins Leben; beim Gegenteile geht geistige Bildung und Leben jedes seinen Gang für sich fort. 2) Aus demselben Grunde ist es einem Volke der ersten Art mit aller Geistesbildung rechter eigentlicher Ernst, und es will, daß dieselbe ins Leben eingreife; dagegen einem von der letztern Art diese vielmehr ein genialisches Spiel ist, mit dem sie nichts weiter wollen. Die letztern haben Geist; die erstern haben zum Geiste auch noch Gemüt. 3) Was aus dem zweiten folgt: die erstern haben redlichen Fleiß und Ernst in allen Dingen und sind mühsam, dagegen die letztern sich im Geleite ihrer glücklichen Natur gehen lassen. 4) Was aus allem zusammen folgt: In einer Nation von der ersten Art ist das große Volk bildsam, und die Bildner einer solchen erproben ihre Entdeckungen an dem Volke, und wollen auf dieses einfließen; dagegen in einer Nation von der zweiten Art die gebildeten Stände vom Volke sich scheiden, und des letztern nicht weiter, denn als eines blinden Werkzeugs ihrer Pläne achten. Die weitere Erörterung dieser angegebenen Merkmale behalte ich der folgenden Rede vor.
5. Folgen aus der aufgestellten Verschiedenheit
[...] Die erste Folge von dem aufgestellten Grundunterschiede, die ich angab, war die: beim Volke der lebendigen Sprache greife die Geistesbildung ein in das Leben; beim Gegenteile gehe geistige Bildung und Leben jedes für sich seinen Gang fort. [...] Sodann, wenn von geistiger Bildung die Rede ist, so ist darunter zu allererst die Philosophie [...]; denn diese ist es, welche das ewige Urbild alles geistigen Lebens wissenschaftlich erfasset. Von dieser und von aller auf sie gegründeten Wissenschaft wird nun gerühmt, daß beim Volke der lebendigen Sprache sie einfließe in das Leben. Nun aber ist, in scheinbarem Widerspruche mit dieser Behauptung, oftmals und auch von den unsern gesagt worden, daß Philosophie, Wissenschaft, schöne Kunst, und dergleichen Selbstzwecke seien, und dem Leben nicht dienten, und daß es Herabwürdigung derselben sei, sie nach ihrer Nützlichkeit in diesem Dienste zu schätzen. Es ist hier der Ort, diese Ausdrücke näher zu bestimmen und vor aller Mißdeutung zu verwahren. Sie sind wahr in folgendem doppelten aber beschränkten Sinne: zuvörderst, daß Wissenschaft oder Kunst dem Leben auf einer gewissen niedern Stufe, z. B. dem irdischen und sinnlichen Leben oder der gemeinen Erbaulichkeit, wie einige gedacht haben, nicht müsse dienen wollen; sodann daß ein einzelner zufolge seiner persönlichen Abgeschiedenheit vom Ganzen einer Geisterwelt, in diesen besonderen Zweigen des allgemeinen göttlichen Lebens völlig ausgehen könne, ohne eines außer ihnen liegenden Antriebes zu bedürfen; und volle Befriedigung in ihnen finden könne. Keineswegs aber sind sie wahr in strenger Bedeutung; denn es ist eben so unmöglich, daß es mehrere Selbstzwecke gebe, als es unmöglich ist, daß es mehrere Absolute gebe. Der einzige Selbstzweck, außer welchem es keinen andern geben kann, ist das geistige Leben. Dieses äußert sich nur zum Teil und erscheint als ein ewiger Fortfluß aus ihm selber, als Quell, d. i. als ewige Tätigkeit. Diese Tätigkeit erhält ewig fort ihr Musterbild von der Wissenschaft, die Geschicklichkeit, nach diesem Bilde sich zu gestalten, von der Kunst; und insoweit könnte es scheinen, daß Wissenschaft und Kunst da seien als Mittel für das tätige Leben, als den Zweck. Nun aber ist in dieser Form der Tätigkeit das Leben selber niemals vollendet und zur Einheit geschlossen, sondern es geht fort ins Unendliche. Soll nun doch das Leben als eine solche geschlossene Einheit da sein, so muß es also da sein in einer andern Form. Diese Form ist nun die des reinen Gedankens, der die in der dritten Rede beschriebene Religionseinsicht gibt; eine Form, die als geschlossene Einheit mit der Unendlichkeit des Tuns schlechthin auseinanderfällt, und in dem letztern, dem Tun, niemals vollständig ausgedrückt werden kann. Beide demnach, der Gedanke, so wie die Tätigkeit, sind nur in der Erscheinung auseinanderfallende Formen, jenseit der Erscheinung aber sind sie, eine wie die andere, dasselbe Eine absolute Leben; und man kann gar nicht sagen, daß der Gedanke um des Tuns, oder das Tun um des Gedankens willen sei und also sei, sondern daß beides schlechthin sein solle, indem auch in der Erscheinung das Leben ein vollendetes Ganze sein solle, also, wie es dies ist jenseit aller Erscheinung. Innerhalb dieses Umkreises demnach und zufolge dieser Betrachtung ist es noch viel zu wenig gesagt, daß die Wissenschaft einfließe aufs Leben; sie ist vielmehr selber, und in sich selbstbeständiges Leben. – Oder, um dasselbe an eine bekannte Wendung anzuknüpfen. Was hilft alles Wissen, hört man zuweilen sagen, wenn nicht darnach gehandelt wird? In diesem Ausspruche wird das Wissen als Mittel für das Handeln, und dieses letztere als der eigentliche Zweck angesehen. Man könnte umgekehrt sagen, wie kann man doch gut handeln, ohne das Gute zu kennen? und es würde in diesem Ausspruche das Wissen als das bedingende des Handelns betrachtet. Beide Aussprüche aber sind einseitig; und das Wahre ist, daß beides, Wissen so wie Handeln, auf dieselbe Weise unabtrennliche Bestandteile des vernünftigen Lebens sind.
In sich selbstbeständiges Leben aber, wie wir soeben uns ausdrückten, ist die Wissenschaft nur alsdann, wenn der Gedanke der wirkliche Sinn und die Gesinnung des Denkenden ist, also daß er, ohne besondere Mühe, und sogar ohne dessen sich klar bewußt zu sein, alles andere, was er denkt, ansieht, beurteilt, zufolge jenes Grundgedankens ansieht und beurteilt, und falls derselbe aufs Handeln einfließt, nach ihm eben so notwendig handelt. Keineswegs aber ist der Gedanke Leben und Gesinnung, wenn er nur als Gedanke eines fremden Lebens gedacht wird; so klar und vollständig er auch als ein solcher bloß möglicher Gedanke begriffen sein mag, und so hell man sich auch denken möge, wie etwa Jemand also denken könne. In diesem letztern Falle liegt zwischen unserm gedachten Denken und zwischen unserm wirklichen Denken ein großes Feld von Zufall und Freiheit, welche letzte wir nicht vollziehen mögen; und so bleibt jenes gedachte Denken von uns abstehend, und ein bloß mögliches und ein von uns frei gemachtes und immer fort frei zu wiederholendes Denken. In jenem ersten Falle hat der Gedanke unmittelbar durch sich selbst unser Selbst ergriffen und es zu sich selbst gemacht, und durch diese also entstandene Wirklichkeit des Gedankens für uns geht unsre Einsicht hindurch zu dessen Notwendigkeit. Daß nun das letztere also erfolge, kann, wie eben gesagt, keine Freiheit erzwingen, sondern es muß eben sich selbst machen, und der Gedanke selber muß uns ergreifen, und uns nach sich bilden.
Diese lebendige Wirksamkeit des Gedankens wird nun sehr befördert, ja, wenn das Denken nur von der gehörigen Tiefe und Stärke ist, sogar notwendig gemacht, durch Denken und Bezeichnen in einer lebendigen Sprache. [...] So eines Besitzers der lebendigen Sprache Denken nicht lebendig wird, so kann man einen solchen ohne Bedenken beschuldigen, daß er gar nicht gedacht, sondern nur geschwärmt habe. Den Besitzer einer toten Sprache kann man in demselben Falle dessen nicht sofort beschuldigen; gedacht mag er allerdings haben nach seiner Weise, die in seiner Sprache niedergelegten Begriffe sorgfältig entwickelt; er hat nur das nicht getan, was, falls es ihm gelänge, einem Wunder gleich zu achten wäre. [...]
In dieser Weise, sage ich, fließt die geistige Bildung, und hier insbesondere das Denken in einer Ursache nicht ein in das Leben, sondern es ist selbst Leben des also Denkenden. Doch strebt es notwendig, aus diesem also denkenden Leben einzufließen auf anderes Leben außer ihm, und so auf das vorhandene allgemeine Leben, und dieses nach sich zu gestalten. Denn eben weil jenes Denken Leben ist, wird es gefühlt von seinem Besitzer mit innigem Wohlgefallen in seiner belebenden, verklärenden und befreienden Kraft. Aber jeder, dem Heil aufgegangen ist in seinem Innern, will notwendig, daß allen andern dasselbe Heil widerfahre, und er ist so getrieben und muß arbeiten, daß die Quelle, auf der ihm sein Wohlsein aufging, auch über andre sich verbreite. Anders derjenige, der bloß ein fremdes Denken als ein mögliches begriffen hat. So wie ihm selber dessen Inhalt weder Wohl noch Wehe gibt, sondern es nur seine Muße angenehm beschäftigt und unterhält, so kann er auch nicht glauben, daß es einem andern wohl oder wehe machen könne, und hält es zuletzt für einerlei, woran Jemand seinen Scharfsinn übe, und womit er seine müßigen Stunden ausfülle.
Unter den Mitteln, das Denken, das im einzelnen Leben begonnen, in das allgemeine Leben einzuführen, ist das vorzüglichste die Dichtung, und so ist denn diese der zweite Hauptzweig der geistigen Bildung eines Volkes. Schon unmittelbar der Denker, wie er seinen Gedanken in der Sprache bezeichnet, welches nach Obigem nicht anders denn sinnbildlich geschehen kann, und zwar über den bisherigen Umkreis der Sinnbildlichkeit hinaus neu erschaffend, ist Dichter; und falls er dies nicht ist, wird ihm schon beim ersten Gedanken die Sprache, und beim Versuche des zweiten das Denken selber ausgehen. Diese durch den Denker begonnene Erweiterung und Ergänzung des sinnbildlichen Kreises der Sprache durch dieses ganze Gebiet der Sinnbilder zu verflößen, also daß jedwedes an seiner Stelle den ihm gebührenden Anteil von der neuen geistigen Veredlung erhalte, und so das ganze Leben bis auf seinen letzten sinnlichen Boden herab in den neuen Lichtstrahl getaucht erscheine, wohlgefalle, und in bewußtloser Täuschung wie von selbst sich veredle, dieses ist das Geschäft der eigentlichen Dichtung. Nur eine lebendige Sprache kann eine solche Dichtung haben; denn nur in ihr ist der sinnbildliche Kreis durch erschaffendes Denken zu erweitern, und nur in ihr bleibt das schon Geschaffene lebendig und dem Einströmen verschwisterten Lebens offen. Eine solche Sprache führt in sich Vermögen unendlicher, ewig zu erfrischender und zu verjüngender Dichtung, denn jede Regung des lebendigen Denkens in ihr eröffnet eine neue Ader dichterischer Begeisterung; und so ist ihr denn diese Dichtung das vorzüglichste Verflößungsmittel der erlangten geistigen Ausbildung in das allgemeine Leben. [...]
[...] Beim Volke der lebendigen Sprache geht die Untersuchung aus von einem Bedürfnisse des Lebens, welches durch sie befriedigt werden soll, und erhält so alle die nötigenden Antriebe, die das Leben selbst bei sich führt. Bei dem der toten will sie weiter nichts, denn die Zeit auf eine angenehme und dem Sinne fürs Schöne angemessene Weise hinbringen, und sie hat ihren Zweck vollständig erreicht, wenn sie dies getan hat. [...] Zwar wird in keinem Volke der Welt ohne einen ursprünglichen Antrieb im Menschen, der, als ein Übersinnliches, mit dem ausländischen Namen mit Recht Genius genannt wird, irgend etwas Treffliches entstehen. Aber dieser Antrieb für sich allein regt nur die Einbildungskraft an, und entwirft in ihr über dem Boden schwebende, niemals vollkommen bestimmte Gestalten. Daß diese bis auf den Boden des wirklichen Lebens herab vollendet, und bis zur Haltbarkeit in diesem bestimmt werden, dazu bedarf es des fleißigen, besonnenen und nach einer festen Regel einhergehenden Denkens. Genialität liefert dem Fleiße den Stoff zur Bearbeitung, und der letzte würde ohne die erste entweder nur das schon bearbeitete, oder nichts zu bearbeiten haben. Der Fleiß aber führt diesen Stoff, der ohne ihn ein leeres Spiel bleiben würde, ins Leben ein; und so vermögen beide nur in ihrer Vereinigung etwas, getrennt aber sind sie nichtig. [...]
Was insbesondere die größere Mühe anbelangt, so ist natürlich, daß diese auf das Volk der lebendigen Sprache falle. Eine lebendige Sprache kann in Vergleichung mit einer andern auf einer hohen Stufe der Bildung stehen, aber sie kann niemals in sich selber diejenige Vollendung und Ausbildung erhalten, die eine tote Sprache gar leichtlich erhält. In der letzten ist der Umfang der Wörter geschlossen, die möglichen schicklichen Zusammenstellungen derselben werden allmählich auch erschöpft, und so muß der, der diese Sprache reden will, sie eben reden, so wie sie ist; nachdem er dieses aber einmal gelernt hat, redet die Sprache in seinem Munde sich selbst, und denkt und dichtet für ihn. In einer lebendigen Sprache aber, wenn nur in ihr wirklich gelebt wird, vermehren und verändern die Worte und ihre Bedeutungen sich immerfort, und eben dadurch werden neue Zusammenstellungen möglich und die Sprache, die niemals ist, sondern ewig fort wird, redet sich nicht selbst, sondern wer sie gebrauchen will, muß eben selber nach seiner Weise und schöpferisch für sein Bedürfnis sie reden. Ohne Zweifel erfordert das letzte weit mehr Fleiß und Übungen, denn das erste. Ebenso gehen, wie schon oben gesagt, die Untersuchungen des Volks einer lebendigen Sprache bis auf die Wurzel der Ausströmung der Begriffe aus der geistigen Natur selbst; dagegen die einer toten Sprache nur einen fremden Begriff zu durchdringen und sich begreiflich zu machen suchen, und so in der Tat nur geschichtlich und auslegend, jene ersten aber wahrhaft philosophisch sind. [...]
Nach Allem wird der ausländische Genius die betretenen Heerbahnen des Altertums mit Blumen bestreuen, und der Lebensweisheit, die leicht ihm für Philosophie gelten wird, ein zierliches Gewand weben; dagegen wird der deutsche Geist neue Schachten eröffnen, und Licht und Tag einführen in ihre Abgründe und Felsmassen von Gedanken schleudern, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen erbauen. [...]
[...] In Beziehung auf die Bildungsgeschichte überhaupt eines Menschengeschlechts, das historisch in ein Altertum und in eine neue Welt zerfallen ist, werden zur ursprünglichen Fortbildung dieser neuen Welt im Großen und Ganzen die beiden beschriebenen Hauptstämme sich also verhalten. Der ausländisch gewordene Teil der frischen Nation hat durch seine Annahme der Sprache des Altertums eine weit größere Verwandtschaft zu diesem erhalten. Es wird diesem Teile anfangs weit leichter werden, die Sprache desselben auch in ihrer ersten und unveränderten Gestalt zu erfassen, in die Denkmale ihrer Bildung einzudringen, und in dieselben ungefähr so viel frisches Leben zu bringen, daß sie sich an das entstandene neue Leben anfügen können. Kurz es wird von ihnen das Studium des Klassischen Altertums über das neuere Europa ausgegangen sein. Von den ungelöst gebliebenen Aufgaben desselben begeistert wird es dieselben fortbearbeiten, aber freilich nur also, wie man eine, keineswegs durch ein Bedürfnis des Lebens, sondern durch bloße Wißbegier gegebene Aufgabe bearbeitet, leicht sie nehmend, nicht mit ganzem Gemüte, sondern nur mit der Einbildungskraft sie erfassend, und lediglich in dieser zu einem luftigen Leibe sie gestaltend. Bei dem Reichtume des Stoffs, den das Altertum hinterlassen, bei der Leichtigkeit, mit der in dieser Weise sich arbeiten läßt, werden sie eine Fülle solcher Bilder in den Gesichtskreis der neuen Welt einführen. Diese schon in die neue Form gestalteten Bilder der alten Welt, angekommen bei demjenigen Teile des Urstamms, der durch beibehaltene Sprache im Flusse ursprünglicher Bildung blieb, werden auch dessen Aufmerksamkeit und Selbsttätigkeit reizen, sie, welche vielleicht, wenn sie in der alten Form geblieben wären, unbeachtet und unvernommen vor ihm vorübergegangen wären. Aber er wird, so gewiß er sie nur wirklich erfaßt und nicht etwa nur sie weiter gibt von Hand in Hand, dieselben erfassen gemäß seiner Natur, nicht im bloßen Wissen eines fremden, sondern als Bestandteil seines Lebens; und so sie aus dem Leben der neuen Welt nicht nur ableiten, sondern sie auch in dasselbe wiederum einführen, verkörpernd die vorher bloß luftigen Gestalten zu gediegenen, und im wirklichen Lebenselemente haltbaren Leibern.
In dieser Verwandlung, die das Ausland selbst ihm zu geben niemals vermocht hätte, erhält nun dieses es von ihnen zurück, und vermittelst dieses Durchgangs allein wird eine Fortbildung des Menschengeschlechts auf der Bahn des Altertums, eine Vereinigung der beiden Haupthälften und ein regelmäßiger Fortfluß der menschlichen Entwicklung möglich. [...]
[...] Wenn aber in seiner Blindheit für solche Verhältnisse und fortgerissen von oberflächlichem Scheine, das Ausland jemals darauf ausgehen sollte, sein Mutterland der Selbständigkeit zu berauben, und es dadurch zu vernichten und aufzunehmen in sich: so würde dasselbe, wenn ihm dieser Vorsatz gelänge, dadurch für sich selbst die letzte Ader zerschneiden, durch die es bisher noch zusammenhing mit der Natur und dem Leben, und es würde gänzlich anheimfallen dem geistigen Tode, der ohnedies im Fortgange der Zeiten immer sichtbarer als sein Wesen sich offenbart hat; sodann wäre der bisher noch stetig fortgegangene Fluß der Bildung unsers Geschlechts in der Tat beschlossen, und die Barbarei müßte wieder beginnen und ohne Rettung fortschreiten, so lange, bis wir insgesamt wieder in Höhlen lebten, wie die wilden Tiere, und gleich ihnen uns untereinander aufzehrten. Daß dies wirklich also sei, und notwendig also erfolgen müsse, kann freilich nur der Deutsche einsehen, und er allein soll es auch; dem Ausländer, der, da er keine fremde Bildung kennt, unbegrenztes Feld hat, sich in der seinigen zu bewundern, muß es, und mag es immer erscheinen als eine abgeschmackte Lästerung der schlecht unterrichteten Unwissenheit. [...]
6. Darlegung der deutschen Grundzüge in der Geschichte
Welche Hauptunterschiede sein würden zwischen einem Volke, das in seiner ursprünglichen Sprache sich fortbildet, und einem solchen, das eine fremde Sprache angenommen, ist in der vorigen Rede auseinander gesetzt. Wir sagten bei dieser Gelegenheit: was das Ausland betreffe, so wollten wir dem eigenen Urteile jedweden Beobachters die Entscheidung überlassen, ob in demselben diejenigen Erscheinungen wirklich einträten, die zufolge unserer Behauptungen darin eintreten müßten; was aber die Deutschen betrifft, machten wir uns anheischig darzulegen, daß diese sich wirklich also geäußert, wie unsern Behauptungen zufolge das Volk einer Ursprache sich äußern müsse. Wir gehen heute an die Erfüllung unseres Versprechens und zwar legen wir das zu Erweisende zunächst dar an der letzten großen und in gewissem Sinne, vollendeten Welttat des deutschen Volkes, an der kirchlichen Reformation.
Das aus Asien stammende und durch seine Verderbung erst recht asiatisch gewordene, nur stumme Ergebung und blinden Glauben predigende Christentum war schon für die Römer etwas Fremdartiges und Ausländisches; es wurde niemals von ihnen wahrhaft durchdrungen und angeeignet, und teilte ihr Wesen in zwei nicht aneinander passende Hälften; wobei jedoch die Anfügung des fremden Teils durch den angestammten schwermütigen Aberglauben vermittelt wurde. An den eingewanderten Germaniern erhielt diese Religion Zöglinge, in denen keine frühere Verstandesbildung ihr hinderlich war, aber auch kein angestammter Aberglaube sie begünstigte und so wurde sie denn an dieselben gebracht, als ein zum Römer, das sie nun einmal sein wollten, eben auch gehöriges Stück, ohne sonderlichen Einfluß auf ihr Leben. [...]
Nicht länger aber konnte der bisherige Zustand der Dinge bestehen, sobald dieses Licht in ein in wahrem Ernste und bis auf das Leben herab religiöses Gemüt fiel, und, wenn dieses Gemüt von einem Volke umgeben war, dem es seine ernstere Ansicht der Sache leicht mitteilen konnte, und dieses Volk Häupter fand, welche auf sein entschiedenes Bedürfnis etwas gaben. So tief auch das Christentum herabsinken mochte, so bleibt doch immer in ihm ein Grundbestandteil, in dem Wahrheit ist und der ein Leben, das nur wirkliches und selbstständiges Leben ist, sicher anregt; die Frage: was sollen wir tun, damit wir selig werden? War diese Frage auf einen erstorbenen Boden gefallen, wo es entweder überhaupt an seinen Ort gestellt blieb, ob wohl so etwas, wie Seligkeit im Ernste möglich sei, oder, wenn auch das erste angenommen worden wäre, dennoch gar kein fester und entschiedener Wille, selbst auch selig zu werden, vorhanden war, so hatte auf diesem Boden die Religion gleich anfangs nicht eingegriffen in Leben und Willen, sondern sie war nur als ein schwankender und blasser Schatten im Gedächtnisse und in der Einbildungskraft behangen geblieben; und so mußten natürlich auch alle fernere Aufklärungen über den Zustand der vorhandenen Religionsbegriffe gleichfalls ohne Einfluß auf das Leben bleiben. War hingegen jene Frage in einen ursprünglich lebendigen Boden gefallen, so daß im Ernste geglaubt wurde, es gebe eine Seligkeit und der feste Wille da war, selig zu werden und die von der bisherigen Religion angegebenen Mittel zur Seligkeit mit innigem Glauben und redlichem Ernste in dieser Absicht gebraucht worden waren, so mußte, wenn in diesen Boden, der gerade durch sein Ernstnehmen dem Lichte über die Beschaffenheit dieser Mittel sich länger verschloß, dieses Licht zuletzt dennoch fiel, ein gräßliches Entsetzen sich erzeugen vor dem Betruge um das Heil der Seele und die treibende Unruhe, dieses Heil auf andere Weise zu retten und was als in ewiges Verderben stürzend erschien, konnte nicht scherzhaft genommen werden. Ferner konnte der Einzelne, den zuerst diese Ansicht ergriffen, keineswegs zufrieden sein, etwa nur seine eigne Seele zu retten, gleichgültig über das Wohl aller übrigen unsterblichen Seelen, indem er, seiner tiefern Religion zufolge, dadurch auch nicht einmal die eigene Seele gerettet hätte: sondern mit der gleichen Angst, die er um diese fühlte, mußte er ringen, schlechthin allen Menschen in der Welt das Auge zu öffnen über die verdammliche Täuschung.
Auf diese Weise nun fiel die Einsicht, die lange vor ihm sehr viele Ausländer wohl in größerer Verstandesklarheit gehabt hatten, in das Gemüt des deutschen Mannes, Luther. An altertümlicher und feiner Bildung, an Gelehrsamkeit, an andern Vorzügen übertrafen ihn nicht nur Ausländer, sondern sogar viele in seiner Nation. Aber ihn ergriff ein allmächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil und dieser ward das Leben in seinem Leben und setzte immerfort das letzte in die Wage und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert. Mögen andere bei der Reformation irdische Zwecke gehabt haben, sie hätten nie gesiegt, hätte nicht an ihrer Spitze ein Anführer gestanden, der durch das Ewige begeistert wurde; daß dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos entgegenging, ist natürlich und durchaus kein Wunder. Dies nun ist ein Beleg von deutschem Ernst und Gemüt.
Daß Luther mit diesem rein menschlichen, und nur durch jeden selbst zu besorgenden Anliegen an alle und zunächst an die Gesamtheit seiner Nation sich wendete, lag, wie gesagt, in der Sache. Wie nahm nun sein Volk diesen Antrag auf? Blieb es in seiner dumpfen Ruhe, gefesselt an den Boden durch irdische Geschäfte und ungestört fortgehend den gewohnten Gang, oder erregte die nicht alltägliche Erscheinung gewaltiger Begeisterung bloß sein Gelächter? Keineswegs, sondern es wurde wie durch ein fortlaufendes Feuer ergriffen von derselben Sorge für das Heil der Seele und diese Sorge eröffnete schnell auch ihr Auge der vollkommenen Klarheit und sie nahmen auf im Fluge das ihnen Dargebotene. War diese Begeisterung nur eine augenblickliche Erhebung der Einbildungskraft, die im Leben und gegen dessen ernsthafte Kämpfe und Gefahren nicht Stand hielt? Keineswegs, sie entbehrten Alles, und trugen alle Martern und kämpften in blutigen zweifelhaften Kriegen, lediglich damit sie nicht wieder unter die Gewalt des verdammlichen Papsttums gerieten, sondern ihnen und ihren Kindern fort das allein seligmachende Licht des Evangeliums schiene; und es erneuten sich an ihnen in später Zeit alle Wunder, die das Christentum bei seinem Beginnen an seinen Bekennern darlegte. Alle Äußerungen jener Zeit sind erfüllt von dieser allgemein verbreiteten Besorgtheit um die Seligkeit. Sehen Sie hier einen Beleg von der Eigentümlichkeit des deutschen Volkes. Es ist durch Begeisterung zu jedweder Begeisterung und jedweder Klarheit leicht zu erheben und seine Begeisterung hält aus für das Leben und gestaltet dasselbe um. [...]
Ohnerachtet man nun bekennen muß, daß in der Angst jenes Zeitalters um das Heil der Seelen, eine Dunkelheit und Unklarheit blieb, indem es nicht darum zu tun war, den äußeren Vermittler zwischen Gott und den Menschen nur zu verändern, sondern gar keines äußern Mittlers zu bedürfen, und das Band des Zusammenhanges in sich selber zu finden; so war es doch vielleicht notwendig, daß die religiöse Ausbildung der Menschen im Ganzen durch diesen Mittelzustand hindurchginge. Luthern selbst hat sein redlicher Eifer noch mehr gegeben, denn er suchte, und ihn weit hinausgeführt über sein Lehrgebäude. Nachdem er nur die ersten Kämpfe der Gewissensangst, die ihm sein kühnes Losreißen von dem ganzen bisherigen Glauben verursachte, bestanden hatte, sind alle seine Äußerungen voll eines Jubels und Triumphs über die erlangte Freiheit der Kinder Gottes, welche die Seligkeit gewiß nicht mehr außer sich und jenseit des Grabes suchten, sondern der Ausbruch des unmittelbaren Gefühls derselben waren. Er ist hierin das Vorbild aller künftigen Zeitalter geworden und hat für uns alle vollendet. – Sehen Sie auch hier einen Grundzug des deutschen Geists. Wenn er nur sucht, so findet er mehr, als er suchte; denn er gerät hinein in den Strom lebendigen Lebens, das durch sich selbst fortrinnt und ihn mit sich fortreißt. [...]
In einer andern Rücksicht aber, und zwar nicht auf das Volk, sondern auf die gebildeten Stände, hat Deutschland durch seine Kirchenverbesserung einen allgemeinen und dauernden Einfluß auf das Ausland gehabt; und durch diesen Einfluß das Ausland wieder zum Vorgänger für sich selbst, und zu seinem eigenen Anreger zu neuen Schöpfungen sich zubereitet. Das freie und selbsttätige Denken, oder die Philosophie, war schon in den vorhergehenden Jahrhunderten unter der Herrschaft der alten Lehre häufig angeregt und geübt worden, keineswegs aber, um aus sich selbst Wahrheit hervorzubringen, sondern nur, um zu zeigen, daß und auf welche Weise die Lehre der Kirche wahr sei. Dasselbe Geschäft in Beziehung auf ihre Lehre erhielt zunächst die Philosophie auch bei den deutschen Protestanten und ward bei diesen Dienerin des Evangeliums, so wie sie bei den Scholastikern die der Kirche gewesen war. Im Auslande, das entweder kein Evangelium hatte, oder das dasselbe nicht mit unvermischt deutscher Andacht und Tiefe des Gemüts gefaßt hatte, erhob das durch den erhaltenen glänzenden Triumph angefeuerte freie Denken sich leichter und höher, ohne die Fessel eines Glaubens an Übersinnliches; aber es blieb in der sinnlichen Fessel des Glaubens an den natürlichen, ohne Bildung und Sitte angewachsenen Verstand; und weit entfernt, daß es in der Vernunft die Quelle auf sich selbst beruhender Wahrheit entdeckt hätte, wurden für dasselbe die Aussprüche dieses rohen Verstandes dasjenige, was für die Scholastiker die Kirche, für die ersten protestantischen Theologen das Evangelium war; ob sie wahr seien, darüber regte sich kein Zweifel, die Frage war bloß, wie sie diese Wahrheit gegen bestreitende Ansprüche behaupten könnten.
Indem nun dieses Denken in das Gebiet der Vernunft, deren Gegenstreit bedeutender gewesen sein würde, gar nicht hineinkam, so fand es keinen Gegner, außer der historisch vorhandenen Religion und wurde mit dieser leicht fertig, indem es sie an den Maßstab des vorausgesetzten gesunden Verstandes hielt und sich dabei klar zeigte, daß sie demselben eben widerspräche, und so kam es denn, daß, so wie dieses alles ins Reine gebracht wurde, im Auslande die Benennung des Philosophen und die des Irrreligiösen und Gottesläugners, gleichbedeutend wurden, und zu gleicher ehrenvoller Auszeichnung gereichten.
Die versuchte gänzliche Erhebung über allen Glauben an fremdes Ansehen, welche in diesen Bestrebungen des Auslandes das richtige war, wurde den Deutschen, von denen sie vermittelst der Kirchenverbesserung erst ausgegangen war, zu neuer Anregung. Zwar sagten untergeordnete und unselbständige Köpfe unter uns diese Lehre des Auslandes eben nach [...]; wo aber selbstständiger deutscher Geist sich regte, da genügte das Sinnliche nicht, sondern es entstand die Aufgabe das, freilich nicht auf fremdes Ansehen zu glaubende, Übersinnliche in der Vernunft selbst aufzusuchen und so erst eigentliche Philosophie zu erschaffen, indem man, wie es sein sollte, das freie Denken zur Quelle unabhängiger Wahrheit machte. Dahin strebte Leibnitz im Kampfe mit jener ausländischen Philosophie; dies erreichte der eigentliche Stifter der neuen deutschen Philosophie, nicht ohne das Geständnis durch eine Äußerung des Auslandes, die inzwischen tiefer genommen worden, als sie gemeint gewesen, angeregt worden zu sein. Seitdem ist unter uns die Aufgabe vollständig gelöst und die Philosophie vollendet worden, welches man indessen sich begnügen muß, zu sagen, bis ein Zeitalter kommt, das es begreift. [...]
Sie haben an dem Gesagten eine klare Übersicht der gesamten Bildungsgeschichte der neuen Welt, und des sich immer gleichbleibenden Verhältnisses der verschiedenen Bestandteile der letzten zur ersten. Wahre Religion, in der Form des Christentums, war der Keim der neuen Welt und ihre Gesamtaufgabe die, diese Religion in die vorhandene Bildung des Altertums zu verflößen und die letzte dadurch zu vergeistigen und zu heiligen. Der erste Schritt auf diesem Wege war, das die Freiheit raubende äußere Ansehen der Form dieser Religion von ihr abzuscheiden, und auch in sie das freie Denken des Altertums einzuführen. Es regte an zu diesem Schritte das Ausland, der Deutsche tat ihn. Der zweite, der eigentlich die Fortsetzung und Vollendung des ersten, ist der, diese Religion und mit ihr alle Weisheit in uns selber aufzufinden. Auch ihn vorbereitete das Ausland, und vollzog der Deutsche. Der dermalen in der ewigen Zeit an der Tagesordnung sich befindende Fortschritt ist die vollkommene Erziehung der Nation zum Menschen. Ohne dies wird die gewonnene Philosophie nie ausgedehnte Verständlichkeit, vielweniger noch allgemeine Anwendbarkeit im Leben finden; so wie hinwiederum ohne Philosophie die Erziehungskunst niemals zu vollständiger Klarheit in sich selbst gelangen wird. Beide greifen daher in einander und sind eins ohne das andere unvollständig und unbrauchbar. Schon allein darum, weil der Deutsche bisher alle Schritte der Bildung zur Vollendung gebracht und er eigentlich dazu aufbewahrt worden ist in der neuen Welt, kommt ihm dasselbe auch mit der Erziehung zu; wie aber diese einmal in Ordnung gebracht ist, wird es sich mit den übrigen Angelegenheiten der Menschheit leicht ergeben.
In diesem Verhältnisse also hat wirklich die deutsche Nation zur Fortbildung des menschlichen Geschlechts in der neuen Zeit bisher gestanden. Noch ist über eine schon zwei Mal fallen gelassene Bemerkung über den naturgemäßen Hergang, den diese Nation hierbei genommen, daß nämlich in Deutschland alle Bildung vom Volke ausgegangen, mehr Licht zu verbreiten. [...]
Die im Mutterlande zurückgebliebenen Deutschen hatten alle Tugenden, die ehemals auf ihrem Boden zu Hause waren, beibehalten: Treue, Biederkeit, Ehre, Einfalt; aber sie hatten von Bildung zu einem höhern und geistigen Leben nicht mehr erhalten, als das damalige Christentum und seine Lehrer an zerstreut wohnende Menschen bringen konnten. Dies war wenig, und sie standen so gegen ihre ausgewanderten Stammverwandten zurück, und waren in der Tat zwar brav und bieder, aber dennoch halb Barbaren. Es entstanden unter ihnen indessen Städte, die durch Glieder aus dem Volke errichtet wurden. In diesen entwickelte sich schnell jeder Zweig des gebildeten Lebens zur schönsten Blüte. In ihnen entstanden, zwar auf Kleines berechnete, dennoch aber treffliche bürgerliche Verfassungen und Einrichtungen, und von ihnen aus verbreitete sich ein Bild von Ordnung und eine Liebe derselben erst über das übrige Land. Ihr ausgebreiteter Handel half die Welt entdecken. Ihren Bund fürchteten Könige. Die Denkmäler ihrer Baukunst dauern noch, haben der Zerstörung von Jahrhunderten getrotzt, die Nachwelt steht bewundernd vor ihnen und bekennt ihre eigene Unmacht.
Ich will diese Bürger der deutschen Reichsstädte des Mittelalters nicht vergleichen mit den andern ihnen gleichzeitigen Ständen und nicht fragen, was indessen der Adel tat und die Fürsten; aber in Vergleich mit den übrigen germanischen Nationen, einige Striche Italiens abgerechnet, hinter welchen selbst jedoch in den schönen Künsten die Deutschen nicht zurückblieben, in den nützlichen sie übertrafen und ihre Lehrer wurden, – diese abgerechnet waren nun diese deutschen Bürger die gebildeten und jene die Barbaren. Die Geschichte Deutschlands, deutscher Macht, deutscher Unternehmungen, Erfindungen, Denkmale, Geistes, ist in diesem Zeitraume lediglich die Geschichte dieser Städte, und alles übrige, als da sind Länderverpfändungen und Wiedereinlösungen und dergleichen, ist nicht des Erwähnens wert. Auch ist dieser Zeitpunkt der einzige in der deutschen Geschichte, in der diese Nation glänzend und ruhmvoll und mit dem Range der ihr als Stammvolk gebührt, dasteht; so wie ihre Blüte durch die Habsucht und Herrschsucht der Fürsten zerstört und ihre Freiheit zertreten wird, sinkt das Ganze allmählich immer tiefer herab und geht entgegen dem gegenwärtigen Zustand; wie aber Deutschland herabsinkt, sieht man das übrige Europa eben also sinken, in Rücksicht dessen, was das Wesen betrifft und nicht den bloßen äußern Schein.
Der entscheidende Einfluß dieses in der Tat herrschenden Standes auf die Entwicklung der deutschen Reichsverfassung, auf die Kirchenverbesserung und auf Alles, was jemals die deutsche Nation bezeichnete und von ihr ausging in das Ausland, ist allenthalben unverkennbar, und es läßt sich nachweisen, daß alles, was noch jetzt Ehrwürdiges ist unter den Deutschen, in seiner Mitte entstanden ist.
Und mit welchem Geiste brachte hervor und genoß dieser deutsche Stand diese Blüten? Mit dem Geiste der Frömmigkeit, der Ehrbarkeit, der Bescheidenheit, des Gemeinsinnes. Für sich selbst bedurften sie wenig, für öffentliche Unternehmungen machten sie unermeßlichen Aufwand. Selten steht irgendwo ein einzelner Name hervor und zeichnet sich aus, weil alle gleichen Sinnes waren und gleicher Aufopferung für das Gemeinsame. Ganz unter denselben äußern Bedingungen, wie in Deutschland, waren auch in Italien freie Städte entstanden. Man vergleiche die Geschichten beider; man halte die fortwährenden Unruhen, die innern Zwiste, ja Kriege, den beständigen Wechsel der Verfassungen und der Herrscher, in den ersten, gegen die friedliche Ruhe und Eintracht in den letztern. Wie konnte klarer sich aussprechen, daß ein innerlicher Unterschied in den Gemütern der beiden Nationen gewesen sein müsse? Die deutsche Nation ist die einzige unter den neueuropäischen Nationen, die es an ihrem Bürgerstande schon seit Jahrhunderten durch die Tat gezeigt hat, daß sie die republikanische Verfassung zu ertragen vermöge.
Unter den einzelnen und besondern Mitteln, den deutschen Geist wieder zu heben, würde es ein sehr kräftiges sein, wenn wir eine begeisternde Geschichte der Deutschen aus diesem Zeitraume hätten, die da National- und Volksbuch würde, so wie Bibel oder Gesangbuch es sind, so lange, bis wir selbst wiederum etwas des Aufzeichnens Wertes hervorbrächten. Nur müßte eine solche Geschichte nicht etwa chronikenmäßig die Taten und Ereignisse aufzählen, sondern sie müßte uns, wunderbar ergreifend und ohne unser eigenes Zutun oder klares Bewußtsein, mitten hinein versetzen in das Leben jener Zeit, so daß wir selbst mit ihnen zu gehen, zu stehen, zu beschließen, zu handeln schienen, und dies nicht durch kindische und tändelnde Erdichtung, wie es so viele historische Romane getan haben, sondern durch Wahrheit; und aus diesem ihrem Leben müßte sie die Taten und Ereignisse, als Belege desselben, hervorblicken lassen. [...]
Jene Zeit war der jugendliche Traum der Nation in beschränkten Kreisen von künftigen Taten, Kämpfen und Siegen, und die Weissagung, was sie einst bei vollendeter Kraft sein würde. Verführerische Gesellschaft und die Lockung der Eitelkeit hat die heranwachsende fortgerissen in Kreise, die nicht die ihrigen sind, und indem sie auch da glänzen wollte, steht sie da mit Schmach bedeckt und ringend sogar um ihre Fortdauer. Aber ist sie denn wirklich veraltet und entkräftet? Hat ihr nicht auch seitdem immerfort und bis auf diesen Tag die Quelle des ursprünglichen Lebens fortgequollen, wie keiner andern Nation? Können jene Weissagungen ihres jugendlichen Lebens, die durch die Beschaffenheit der übrigen Völker und durch den Bildungsplan der ganzen Menschheit bestätig werden, – können sie unerfüllt bleiben? Nimmermehr. Bringe man diese Nation nur zuvörderst zurück von der falschen Richtung, die sie ergriffen, zeige man ihr in dem Spiegel jener ihrer Jugendträume ihren wahren Hang und ihre wahre Bestimmung, bis unter diesen Betrachtungen sich ihr die Kraft entfalte, diese ihre Bestimmung mächtig zu erweisen. Möchte diese Aufforderung etwas dazu beitragen, daß recht bald ein dazu ausgerüsteter deutscher Mann diese vorläufige Aufgabe löse!
7. Noch tiefere Erfassung der Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes
[...] Die dermalige deutsche Philosophie, in wiefern dieselbe hier der Erwähnung wert ist, will Gründlichkeit und wissenschaftliche Form, unerachtet sie dieselbe nicht zu erschwingen vermag, sie will Einheit, auch nicht ohne frühern Vorgang des Auslandes, sie will Realität und Wesen – nicht bloße Erscheinung, sondern eine in der Erscheinung erscheinende Grundlage dieser Erscheinung, und hat in allen diesen Stücken recht und übertrifft sehr weit die herrschenden Philosophien des dermaligen auswärtigen Auslandes, indem sie in der Ausländerei weit gründlicher und folgebeständiger ist, denn jenes. Diese der bloßen Erscheinung unterzulegende Grundlage ist ihnen nun, wie sie sie auch etwa noch fehlerhafter weiterbestimmen mögen, immer ein festes Sein, das da ist, was es eben ist, und nichts weiter, in sich gefesselt und an sein eigenes Wesen gebunden; und so tritt denn der Tod und die Entfremdung von der Ursprünglichkeit, die in ihnen selbst sind, auch heraus vor ihre Augen. Weil sie selbst nicht zum Leben schlechtweg aus sich selber heraus sich aufzuschwingen vermögen, sondern für freien Aufflug stets eines Trägers und einer Stütze bedürfen, darum kommen sie auch mit ihrem Denken, als dem Abbilde ihres Lebens, nicht über diesen Träger hinaus: das, was nicht Etwas ist, ist ihnen notwendig Nichts, weil, zwischen jenem in sich verwachsenen Sein und dem Nichts, ihr Auge nichts weiter sieht, da ihr Leben da nichts weiter hat. [...]
Die wahre in sich selbst zu Ende gekommene und über die Erscheinung hinweg wahrhaft zum Kerne derselben durchgedrungene Philosophie hingegen geht aus von dem Einen, reinen, göttlichen Leben, – als Leben schlechtweg, welches es auch in alle Ewigkeit, und darin immer Eines bleibt, nicht aber als von diesem oder jenem Leben; und sie sieht, wie lediglich in der Erscheinung dieses Leben unendlich fort sich schließe und wiederum öffne, und erst diesem Gesetze zufolge es zu einem Sein, und zu einem Etwas überhaupt komme. Ihr entsteht das Sein, was jene sich vorausgeben läßt. Und so ist denn diese Philosophie recht eigentlich nur deutsch, d. i. ursprünglich; und umgekehrt, so Jemand nur ein wahrer Deutscher würde, so würde er nicht anders denn also philosophiren können. [...]
Daß die Errichtung und Regierung der Staaten als eine freie Kunst angesehen werde, die ihre festen Regeln habe, darin hat ohne Zweifel das Ausland, es selbst nach dem Muster des Altertums, uns zum Vorgänger gedient. Worein wird nun ein solches Ausland, das schon an dem Elemente seines Denkens und Wollens, seiner Sprache, einen festen geschlossenen und toten Träger hat, und Alle, die ihm hierin folgen, diese Staatskunst setzen? Ohne Zweifel in die Kunst, eine gleichfalls feste und tote Ordnung der Dinge zu finden, aus welchem Toten das lebendige Regen der Gesellschaft hervorgehe, und also hervorgehe, wie sie es beabsichtigt; alles Leben in der Gesellschaft zu einem großen und künstlichen Druck- und Räderwerke zusammenzufügen, in welchem jedes Einzelne durch das Ganze immerfort genötigt werde, dem Ganzen zu dienen; ein Rechenexempel zu lösen aus endlichen und benannten Größen zu einer nennbaren Summe, aus der Voraussetzung, jeder wolle sein Wohl, zu dem Zwecke, eben dadurch jeden wider seinen Dank und Willen zu zwingen das allgemeine Wohl zu befördern. Das Ausland hat vielfältig diesen Grundsatz ausgesprochen und Kunstwerke jener gesellschaftlichen Maschinenkunst geliefert; das Mutterland hat die Lehre angenommen, und die Anwendung derselben zu Hervorbringung gesellschaftlicher Maschinen weiter bearbeitet, auch hier, wie immer, umfassender, tiefer, wahrer, seine Muster bei Weitem übertreffend. Solche Staatskünstler wissen, falls es etwa mit dem bisherigen Gange der Gesellschaft stockt, dies nicht anders zu erklären, als daß etwa eines der Räder derselben ausgelaufen sein möge, und kennen kein anderes Heilungsmittel, denn dies, die schadhaften Räder herauszuheben und neue einzusetzen. [...]
[...] Es ist jedoch hiebei zur Ehre deutschen Geblüts und Gemüts anzumerken, daß, so gute Künstler wir auch in der bloßen Lehre dieser Zwangsberechnungen sein mochten, wir dennoch, wenn es zur Ausübung kam, durch das dunkle Gefühl, es müsse nicht also sein, gar sehr gehemmt wurden, und in diesem Stücke gegen das Ausland zurückblieben. [...]
Anders die echt deutsche Staatskunst. Auch sie will Festigkeit, Sicherheit und Unabhängigkeit von der blinden und schwankenden Natur, und ist hierin mit dem Auslande ganz einverstanden. Nur will sie nicht, wie diese, ein festes und gewisses Ding, als das erste, durch welches der Geist als das zweite Glied, erst gewiß gemacht werde, sondern sie will gleich von vorn herein, und als das allererste und einige Glied, einen festen und gewissen Geist. Dieser ist für sie die aus sich selbst lebende und ewig bewegliche Triebfeder, die das Leben der Gesellschaft ordnen und fortbewegen wird. Sie begreift, daß sie diesen Geist nicht durch Strafreden an die schon verwahrloste Erwachsenheit, sondern nur durch Erziehung des noch unverdorbenen Jugendalters hervorbringen könne; und zwar will sie mit dieser Erziehung sich nicht, wie das Ausland, an die schroffe Spitze, den Fürsten, sondern sie will sich mit derselben an die breite Fläche, an die Nation wenden, indem ja ohne Zweifel auch der Fürst zu dieser gehören wird. So wie der Staat an den Personen seiner erwachsenen Bürger die fortgesetzte Erziehung des Menschengeschlechts ist, so müsse, meint diese Staatskunst, der künftige Bürger selbst erst zur Empfänglichkeit jener höheren Erziehung herauferzogen werden. Hierdurch wird nun diese deutsche und allerneueste Staatskunst wiederum die allerälteste; denn auch diese bei den Griechen gründete das Bürgertum auf die Erziehung, und bildete Bürger, wie die folgenden Zeitalter sie nicht wieder gesehen haben. In der Form dasselbe, in dem Gehalte mit nicht engherzigem und ausschließendem, sondern allgemeinem und weltbürgerlichem Geiste, wird hinfür der Deutsche tun.
Derselbe Geist des Auslandes herrscht bei der großen Mehrzahl der unsrigen auch in ihrer Ansicht des gesamten Lebens eines Menschengeschlechts und der Geschichte, als dem Bilde jenes Lebens. Eine Nation, die eine geschlossene und erstorbene Grundlage ihrer Sprache hat, kann es, wie wir zu einer andern Zeit gezeigt haben, in allen Redekünsten nur bis zu einer gewissen von jener Grundlage verstatteten Stufe der Ausbildung bringen, und sie wird ein goldenes Zeitalter erleben. Ohne die größte Bescheidenheit und Selbstverläugnung kann eine solche Nation von dem ganzen Geschlechte nicht füglich höher denken, denn sie selbst sich kennt; sie muß daher voraussetzen, daß es auch für dieses ein letztes, höchstes und niemals zu übertreffendes Ziel der Ausbildung geben werde. [...]
Wie in unsre wissenschaftliche Ansicht, eben so fließt dieser Geist des Auslandes auch ein in unser gewöhnliches Leben und die Regeln desselben; damit aber dieses klar, und das Vorhergehende noch klarer werde, ist es nötig, zuvörderst das Wesen des ursprünglichen Lebens oder der Freiheit mit tieferm Blicke zu durchdringen.
Die Freiheit im Sinne des unentschiedenen Schwankens zwischen mehreren gleich Möglichen genommen, ist nicht Leben, sondern nur Vorhof und Eingang zu wirklichem Leben. Endlich muß es doch einmal aus diesem Schwanken heraus zum Entschlusse und zum Handeln kommen und erst jetzt beginnt das Leben.
Nun erscheint unmittelbar und auf den ersten Blick jedweder Willensentschluß als Erstes, keineswegs als Zweites und Folge aus einem Ersten, als seinem Grunde – als schlechthin durch sich daseiend, und so daseiend, wie er es ist; welche Bedeutung als die einzig mögliche verständige des Worts Freiheit wir festsetzen wollen. Aber es sind, in Absicht auf den innern Gehalt eines solchen Willensentschlusses, zwei Fälle möglich; entweder nämlich erscheint in ihm nur die Erscheinung abgetrennt vom Wesen, und ohne daß das Wesen auf irgend eine Weise in ihrem Erscheinen eintrete, oder das Wesen tritt selbst erscheinend ein in dieser Erscheinung eines Willensentschlusses: und zwar ist hierbei sogleich mit anzumerken, daß das Wesen nur in einem Willensentschlusse, und durchaus in nichts anderem, zur Erscheinung werden kann, wiewohl umgekehrt es Willensentschlüsse geben kann, in denen keineswegs das Wesen, sondern nur die bloße Erscheinung heraustritt. Wir reden zunächst von dem letzten Falle.
Die bloße Erscheinung, als solche, ist durch ihre Abtrennung und durch ihren Gegensatz mit dem Wesen, sodann dadurch, daß sie fähig ist, selbst auch zu erscheinen und sich darzustellen, unabänderlich bestimmt, und sie ist darum notwendig also, wie sie eben ist und ausfällt. Ist daher, wie wir voraussetzen, irgend ein gegebener Willensentschluß in seinem Inhalte bloße Erscheinung, so ist er insofern in der Tat nicht frei, Erstes und Ursprüngliches, sondern er ist notwendig, und ein zweites, aus einem höhern ersten, dem Gesetze der Erscheinung überhaupt, also wie es ist, hervorgehendes Glied. Da nun, wie auch hier mehrmals erinnert worden, das Denken des Menschen denselben also vor ihn selber hinstellt, wie er wirklich ist, und immerfort der treue Abdruck und Spiegel seines Innern bleibt, so kann ein solcher Willensentschluß, obwohl er auf den ersten Blick, da er ja ein Willensentschluß ist, als frei erscheint, dennoch dem wiederholten und tiefern Denken keineswegs also erscheinen, sondern er muß in diesem als notwendig gedacht werden, wie er es denn wirklich und in der Tat ist. [...]
[...] Falls daher in dem Willensentschlusse des einzelnen nichts weiter herausbricht in die Erscheinung, als die Erscheinbarkeit, Darstellbarkeit und Sichtbarkeit überhaupt, die in der Tat die Sichtbarkeit von Nichts ist, so ist der Inhalt eines solchen Willensentschlusses bestimmt durch das geschlossene Ganze aller möglichen Willensentschlüsse dieses und aller möglichen übrigen einzelnen Willen, und er enthält nichts weiter und kann nichts weiter enthalten, denn dasjenige, was nach Abziehung aller jener möglichen Willensentschlüsse zu wollen übrig bleibt. [...]
Wo dagegen das Wesen selber, unmittelbar und gleichsam in eigner Person, keineswegs durch einen Stellvertreter, eintritt in der Erscheinung eines Willensentschlusses, da ist zwar alles das oben Erwähnte, aus der Erscheinung, als einem geschlossenen Ganzen erfolgende, gleichfalls vorhanden, denn die Erscheinung erscheint ja auch hier; aber eine solche Erscheinung geht in diesem Bestandteile nicht auf und ist durch denselben nicht erschöpft, sondern es findet sich in ihr noch ein Mehreres, ein anderer, aus jenem Zusammenhange nicht zu erklärender, sondern nach Abzug des Erklärbaren übrig bleibender Bestandteil. [...] Wo nun dieses Mehr wirklich als ein solches ersichtliches Mehr eintritt, aber es vermag nur in einem Wollen einzutreten, da tritt das Wesen selbst, das allein ist, und allein zu sein vermag, und das da ist von sich und durch sich, das göttliche Wesen, ein in die Erscheinung, und macht sich selbst unmittelbar sichtbar; und daselbst ist eben darum wahre Ursprünglichkeit und Freiheit, und so wird denn auch an sie geglaubt.
Und so findet denn auf die allgemeine Frage, ob der Mensch frei sei oder nicht, keine allgemeine Antwort statt; denn eben weil der Mensch frei ist, in niederm Sinne; weil er bei unentschiedenem Schwanken und Wanken anhebt, kann er frei sein, oder auch nicht frei, im höhern Sinne des Worts. In der Wirklichkeit ist die Weise, wie Jemand diese Frage beantwortet, der klare Spiegel seines wahren inwendigen Seins. Wer in der Tat nicht mehr ist, als ein Glied in der Kette der Erscheinungen, der kann wohl einen Augenblick sich frei wähnen, aber seinem strengeren Denken hält dieser Wahn nicht Stand; wie er aber sich selbst findet, eben also denkt er notwendig sein ganzes Geschlecht. Wessen Leben dagegen ergriffen ist von dem wahrhaftigen, und Leben unmittelbar aus Gott geworden ist, der ist frei und glaubt an Freiheit in sich und Andern.
Wer an ein festes beharrliches und totes Sein glaubt, der glaubt nur darum daran, weil er in sich selbst tot ist; und nachdem er einmal tot ist, kann er nicht anders, denn also glauben, sobald er nur in sich selbst klar wird. Er selbst und seine ganze Gattung von Anbeginn bis ans Ende wird ihm ein zweites und eine notwendige Folge aus irgend einem vorauszusetzenden ersten Gliede. Diese Voraussetzung ist sein wirkliches, keineswegs ein bloß gedachtes Denken, sein wahrer Sinn, der Punkt, wo sein Denken unmittelbar selbst Leben ist; und ist so die Quelle alles seines übrigen Denkens und Beurteilens seines Geschlechts in seiner Vergangenheit, der Geschichte, seiner Zukunft den Erwartungen von ihm, und seiner Gegenwart, im wirklichen Leben an ihm selber und Andern. Wir haben diesen Glauben an den Tod, im Gegensatze mit einem ursprünglich lebendigen Volke, Ausländerei genannt. Diese Ausländerei wird somit, wenn sie einmal unter den Deutschen ist, sich auch im wirklichen Leben derselben zeigen, als ruhige Ergebung in die nun einmal unabänderliche Notwendigkeit ihres Seins, als Aufgeben aller Verbesserung unsrer selbst oder Andrer durch Freiheit, als Geneigtheit, sich selbst und alle so zu verbrauchen, wie sie sind, und aus ihrem Sein den möglichst größten Vorteil für uns selbst zu ziehen; kurz, als das in allen Lebensregungen immerfort sich abspiegelnde Bekenntnis des Glaubens an die allgemeine und gleichmäßige Sündhaftigkeit aller, den ich an einem andern Orte hinlänglich geschildert habe [Anweisung zum seligen Leben, 11. Vorlesung] [...]. [...]
Und so trete denn endlich in seiner vollendeten Klarheit heraus, was wir in unsrer bisherigen Schilderung unter Deutschen verstanden haben. Der eigentliche Unterscheidungsgrund liegt darin, ob man an ein absolut Erstes und Urgründliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unsers Geschlechts glaube, oder ob man an alles dieses nicht glaube, ja wohl deutlich einzusehen und zu begreifen vermeine, daß das Gegenteil von diesem Allem stattfinde. Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben, oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens entschieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen, und sie nicht hassen, oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben; alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche. [...] Jetzt wird endlich dieser Nation durch eine in sich selbst klar gewordene Philosophie der Spiegel vorgehalten, in welchem sie mit klarem Begriffe erkenne, was sie bisher ohne deutliches Bewußtsein durch die Natur ward, und wozu sie von derselben bestimmt ist; und es wird ihr der Antrag gemacht, nach diesem klaren Begriffe und mit besonnener und freier Kunst, vollendet und ganz, sich selbst zu dem zu machen, was sie sein soll, den Bund zu erneuern und ihren Kreis zu schließen. Der Grundsatz, nach dem sie diesen zu schließen hat, ist ihr vorgelegt; was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei, und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun. Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt, oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo es auch geboren sei, und welche Sprache es rede, ist undeutsch und fremd für uns, und es ist zu wünschen, daß es je eher je lieber sich gänzlich von uns abtrenne.
Und so trete denn bei dieser Gelegenheit, gestützt auf das oben über die Freiheit Gesagte, endlich auch einmal vernehmlich heraus, und wer noch Ohren hat zu hören, der höre, was diejenige Philosophie, die mit gutem Fuge sich die deutsche nennt, eigentlich wolle, und worin sie jeder ausländischen und totgläubigen Philosophie mit ernster und unerbittlicher Strenge sich entgegensetze; und zwar trete dieses heraus, keineswegs darum, damit auch das Tote es verstehe, was unmöglich ist, sondern damit es diesem schwerer werde, ihr die Worte zu verdrehen, und sich das Ansehen zu geben, als ob es selbst eben auch ungefähr dasselbe wolle und im Grunde meine. Diese deutsche Philosophie erhebt sich wirklich und durch die Tat ihres Denkens, keineswegs prahlt sie es bloß zufolge einer dunklen Ahnung, daß es so sein müsse, ohne es jedoch bewerkstelligen zu können, – sie erhebt sich zu dem unwandelbaren „Mehr denn alle Unendlichkeit,“ und findet allein in diesem das wahrhafte Sein. Zeit und Ewigkeit und Unendlichkeit erblickt sie in ihrer Entstehung aus dem Erscheinen und Sichtbarwerden jenes Einen, das an sich schlechthin unsichtbar ist, und nur in dieser seiner Unsichtbarkeit erfaßt, richtig erfaßt wird. Schon die Unendlichkeit ist nach dieser Philosophie nichts an sich, und es kommt ihr durchaus kein wahrhaftes Sein zu; sie ist lediglich das Mittel, woran das einige, das da ist, und das nur in seiner Unsichtbarkeit ist, sichtbar wird, und woraus ihm ein Bild, ein Schemen und Schatten seiner selbst, im Umkreise der Bildlichkeit erbaut wird. Alles, was innerhalb dieser Unendlichkeit der Bilderwelt noch weiter sichtbar werden mag, ist nun vollends ein Nichts des Nichts, ein Schatten des Schattens, und lediglich das Mittel, woran jenes erste Nichts der Unendlichkeit und der Zeit selber sichtbar werde, und dem Gedanken der Aufflug zu dem unbildlichen und unsichtbaren Sein sich eröffne.
Innerhalb dieses einzig möglichen Bildes der Unendlichkeit tritt nun das Unsichtbare unmittelbar heraus nur als freies und ursprüngliches Leben des Sehens, oder als Willensentschluß eines vernünftigen Wesens, und kann durchaus nicht anders heraustreten und erscheinen. Alles als nicht geistiges Leben erscheinende beharrliche Dasein ist nur ein aus dem Sehen hingeworfener, vielfach durch das Nichts vermittelter leerer Schatten, im Gegensatze mit welchem und durch dessen Erkenntnis als vielfach vermitteltes Nichts, das Sehen selbst sich eben erheben soll zum Erkennen seines eignen Nichts und zur Anerkennung des Unsichtbaren als des einzigen Wahren. [...]
8. Was ein Volk sei, in der höhern Bedeutung des Worts, und was Vaterlandsliebe
Die vier letzten Reden haben die Frage beantwortet: was ist der Deutsche im Gegensatze mit andern Völkern germanischer Abkunft? Der Beweis, der durch dieses alles für das Ganze unserer Untersuchung geführt werden soll, wird vollendet, wenn wir noch die Untersuchung der Frage hinzufügen: was ist ein Volk? welche letztere Frage gleich ist einer andern und zugleich mitbeantwortet diese andere, oft aufgeworfene und auf sehr verschiedene Weisen beantwortete Frage, diese: was ist Vaterlandsliebe, oder, wie man sich richtiger ausdrücken würde, was ist Liebe des Einzelnen zu seiner Nation? [...]
Der natürliche, nur im wahren Falle der Not aufzugebende Trieb des Menschen ist der, den Himmel schon auf dieser Erde zu finden und ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk; das Unvergängliche im Zeitlichen selbst zu pflanzen und zu erziehen, – nicht bloß auf eine unbegreifliche Weise und allein durch die sterblichen Augen undurchdringbare Kluft mit dem Ewigen zusammenhängend, sondern auf eine dem sterblichen Auge selbst sichtbare Weise.
[...] Welcher Edeldenkende will nicht durch Tun oder Denken ein Samenkorn streuen zu unendlicher immerfortgehender Vollkommnung seines Geschlechts, etwas Neues und vorher nie Dagewesenes hineinwerfen in die Zeit, das in ihr bleibe und nie versiegende Quelle werde neuer Schöpfungen; seinen Platz auf dieser Erde und die ihm verliehene kurze Spanne Zeit bezahlen mit einem auch hienieden ewig Dauernden, so daß er, als dieser Einzelne, wenn auch nicht genannt durch die Geschichte (denn Durst nach Nachruhm ist eine verächtliche Eitelkeit) dennoch in seinem eigenen Bewußtsein und seinem Glauben offenbare Denkmale hinterlasse, daß auch er dagewesen sei? [...]
Was könnte es nun sein, das dieser Aufforderung und diesem Glauben des Edlen an die Ewigkeit und Unvergänglichkeit seines Werkes, die Gewähr zu leisten vermöchte? Offenbar nur eine Ordnung der Dinge, die er für selbst ewig und für fähig, Ewiges in sich aufzunehmen, anzuerkennen vermöchte. Eine solche Ordnung aber ist die, freilich in keinem Begriffe zu erfassende, aber dennoch wahrhaft vorhandene, besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung, aus welcher er selbst mit allem seinem Denken und Tun und mit seinem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist, das Volk, von welchem er abstammt und unter welchem er gebildet wurde und zu dem, was er jetzt ist, heraufwuchs. [...]
Dies nun ist in höherer, vom Standpunkte der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommener Bedeutung des Worts ein Volk: das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht. Die Gemeinsamkeit dieses besondern Gesetzes ist es, was in der ewigen Welt und eben darum auch in der zeitlichen, diese Menge zu einem natürlichen und von sich selbst durchdrungenen Ganzen verbindet. [...]
Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volks, aus dem er selber sich entwickelt hat und der Eigentümlichkeit desselben, nach jenem verborgenen Gesetze; ohne Einmischung und Verderbung durch irgendein Fremdes und in das Ganze dieser Gesetzgebung nicht Gehöriges. Diese Eigentümlichkeit ist das Ewige, dem er die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge, in die er sein Ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn sie allein ist ihm das entbindende Mittel, wodurch die kurze Spanne seines Lebens hienieden zu fortdauerndem Leben ausgedehnt wird. Sein Glaube und sein Streben, Unvergängliches zu pflanzen, sein Begriff, in welchem er sein eigenes Leben als ein ewiges Leben erfaßt, ist das Band, welches zunächst seine Nation und vermittelst ihrer das ganze Menschengeschlecht, innigst mit ihm selber verknüpft, und ihrer aller Bedürfnisse, bis auf Ende der Tage, einführt in sein erweitertes Herz. Dies ist seine Liebe zu seinem Volke, zuvörderst achtend, vertrauend, desselben sich freuend, mit der Abstammung daraus sich ehrend. Es ist Göttliches in ihm erschienen, und das Ursprüngliche hat dasselbe gewürdigt, es zu seiner Hülle und zu seinem unmittelbaren Verflößungsmittel in die Welt zu machen; es wird darum auch ferner Göttliches aus ihm hervorbrechen. Sodann tätig, wirksam, sich aufopfernd für dasselbe. Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzung des wechselnden Daseins, hat für ihn ja ohnedies nie Wert gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des dauernden; aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbstständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muß er sogar sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat.
So ist es. Die Liebe, die wahrhaftig Liebe sei, und nicht bloß eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht und entzündet sich, und ruht allein in dem Ewigen. Nicht einmal sich selbst vermag der Mensch zu lieben, es sei denn, daß er sich als Ewiges erfasse; außerdem vermag er sich sogar nicht zu achten, noch zu billigen. Noch weniger vermag er etwas außer sich zu lieben, außer also, daß er es aufnehme in die Ewigkeit seines Glaubens und seines Gemüts und es anknüpfe an diese. Wer nicht zuvörderst sich als ewig erblickt, der hat überhaupt keine Liebe, und kann auch nicht lieben ein Vaterland, dergleichen es für ihn nicht gibt. Wer zwar vielleicht sein unsichtbares Leben, nicht aber eben also sein sichtbares Leben, als ewig erblickt, der mag wohl einen Himmel haben, und in diesem sein Vaterland, aber hienieden hat er kein Vaterland, denn auch dieses wird nur unter dem Bilde der Ewigkeit, und zwar der sichtbaren und versinnlichten Ewigkeit erblickt, und er vermag daher auch nicht sein Vaterland zu lieben. [...]
Volk und Vaterland in dieser Bedeutung, als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit, und als dasjenige, was hienieden ewig sein kann, liegt weit hinaus über den Staat, im gewöhnlichen Sinne des Worts, – über die gesellschaftliche Ordnung, wie dieselbe im bloßen klaren Begriffe erfaßt, und nach Anleitung dieses Begriffs errichtet und erhalten wird. Dieser will gewisses Recht, innerlichen Frieden, und daß jeder durch Fleiß seinen Unterhalt und die Fristung seines sinnlichen Daseins finde, so lange Gott sie ihm gewähren will. Dieses alles ist nur Mittel, Bedingung und Gerüst dessen, was die Vaterlandsliebe eigentlich will, des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in der Welt, immer reiner, vollkommener und getroffener im unendlichen Fortgange. Eben darum muß diese Vaterlandsliebe den Staat selbst regieren, als durchaus oberste, letzte und unabhängige Behörde, zuvörderst, indem sie ihn beschränkt in der Wahl der Mittel für seinen nächsten Zweck, den innerlichen Frieden. Für diesen Zweck muß freilich die natürliche Freiheit des Einzelnen auf mancherlei Weise beschränkt werden, und wenn man gar keine andere Rücksicht und Absicht mit ihnen hätte, denn diese, so würde man wohl tun, dieselbe so eng, als immer möglich, zu beschränken, alle ihre Regungen unter eine einförmige Regel zu bringen, und sie unter immerwährender Aufsicht zu erhalten. [...] Nur die höhere Ansicht des Menschengeschlechts und der Völker erweitert diese beschränkte Berechnung. Freiheit, auch in den Regungen des äußerlichen Gebens, ist der Boden, in welchem die höhere Bildung keimt; eine Gesetzgebung, welche diese letztere im Auge behält, wird der ersteren einen möglichst ausgebreiteten Kreis lassen, selber auf die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der einförmigen Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regieren ein wenig schwerer und mühsamer werde.
Um dies an einem Beispiele zu erläutern: Man hat erlebt, daß Nationen ins Angesicht gesagt worden, sie bedürften nicht so vieler Freiheit, als etwa manche andere Nation. [...] Wenn aber die Worte also genommen werden, wie sie gesagt sind, so sind sie wahr unter der Voraussetzung, daß eine solche Nation des ursprünglichen Lebens und des Triebes nach solchem, durchaus unfähig sei. Eine solche Nation, falls eine solche, in der auch nicht wenige Edlere eine Ausnahme von der allgemeinen Regel machten, möglich sein sollte, bedürfte in der Tat gar keiner Freiheit, denn diese ist nur für die höhern, über den Staat hinausliegenden Zwecke; sie bedarf bloß der Bezähmung und Abrichtung, damit die Einzelnen friedlich neben einander bestehen, und damit das Ganze zu einem tüchtigen Mittel für willkürlich zu setzende, außer ihr liegende Zwecke zubereitet werde. Wir können unentschieden lassen, ob man von irgend einer Nation dies mit Wahrheit sagen könne; so viel ist klar, daß ein ursprüngliches Volk der Freiheit bedarf, daß dieses das Unterpfand ist seines Beharrens als ursprünglich, und daß es in seiner Fortdauer einen immer höher steigenden Grad derselben ohne alle Gefahr erträgt. Und dies ist das erste Stück, in Rücksicht dessen die Vaterlandsliebe den Staat selbst regieren muß.
Sodann muß sie es sein, die den Staat darin regiert, daß sie ihm selbst einen höhern Zweck setzt, denn den gewöhnlichen der Erhaltung des innern Friedens, des Eigentums, der persönlichen Freiheit, des Lebens und des Wohlseins aller. Für diesen höhern Zweck allein, und in keiner andern Absicht, bringt der Staat eine bewaffnete Macht zusammen. [...] In der Erhaltung der hergebrachten Verfassung, der Gesetze, des bürgerlichen Wohlstandes, ist gar kein rechtes eigentliches Leben und kein ursprünglicher Entschluß. Umstände und Lage, längst vielleicht verstorbene Gesetzgeber, haben diese erschaffen; die folgenden Zeitalter gehen gläubig fort auf der angetretenen Bahn, und leben so in der Tat nicht ein eigenes öffentliches Leben, sondern sie wiederholen nur ein ehemaliges Leben. Es bedarf in solchen Zeiten keiner eigentlichen Regierung. Wenn aber dieser gleichmäßige Fortgang in Gefahr gerät, und es nun gilt, über neue, nie also dagewesene Fälle zu entscheiden: dann bedarf es eines Lebens, das aus sich selber lebe. Welcher Geist nun ist es, der in solchen Fällen sich an das Ruder stellen dürfe, der mit eigener Sicherheit und Gewißheit, und ohne unruhiges Hin- und Herschwanken zu entscheiden vermöge, der ein unbezweifeltes Recht habe, jedem, den es treffen mag, ob er nun selbst es wolle oder nicht, gebietend anzumuten, und den Widerstrebende zu zwingen, daß er alles, bis auf sein Leben, in Gefahr setze? Nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung und der Gesetze, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle, der nur um des ersten willen da ist, sich eben opfern soll. [...]
So ist es auch bisher gewesen. Wo da wirklich regiert worden ist, wo bestanden worden sind ernsthafte Kämpfe, wo der Sieg errungen worden ist gegen gewaltigen Widerstand, da ist es jene Verheißung ewigen Lebens gewesen, die da regierte und kämpfte und siegte. Im Glauben an diese Verheißung kämpften die in diesen Reden früher erwähnten deutschen Protestanten. [...]
In diesem Glauben setzten unsere ältesten gemeinsamen Vorfahren, das Stammvolk der neuen Bildung, die von den Römern Germanier genannten Deutschen, sich der herandrängenden Weltherrschaft der Römer mutig entgegen. [...] Ihre Nachkommen haben sogar, sobald sie es ohne Verlust für ihre Freiheit konnten, die Bildung derselben sich angeeignet, in wie weit es ohne Verlust ihrer Eigentümlichkeit möglich war. Wofür haben sie denn also mehrere Menschenalter hindurch gekämpft im blutigen, immer mit derselben Kraft sich wieder erneuernden Kriege? Ein römischer Schriftsteller läßt es ihre Anführer also aussprechen: „Ob ihnen denn etwas anderes übrig bleibe, als entweder die Freiheit zu behaupten oder zu sterben, bevor sie Sklaven würden?“ Freiheit war ihnen, daß sie eben Deutsche blieben, daß sie fortfuhren ihre Angelegenheiten selbständig und ursprünglich ihrem eigenen Geiste gemäß, zu entscheiden, und diesem gleichfalls gemäß auch in ihrer Fortbildung vorwärts zu rücken, und daß sie diese Selbständigkeit auch auf ihre Nachkommenschaft fortpflanzten; Sklaverei hießen ihnen alle jene Segnungen, die ihnen die Römer antrugen, weil sie dabei etwas anderes, denn Deutsche, weil sie halbe Römer werden müßten. Es versteht sich von selbst, setzten sie voraus, das jeder, ehe er dies werde, lieber sterbe, und daß ein wahrhafter Deutscher nur könne leben wollen, um eben Deutscher zu sein und zu bleiben, und die Seinigen zu eben solchen zu bilden. [...]
Diese, und alle andere in der Weltgeschichte, die ihres Sinnes waren, haben gesiegt, weil das Ewige sie begeisterte, und so siegt immer und notwendig diese Begeisterung über den, der nicht begeistert ist. Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemüts ist es, welche Siege erkämpft. [...]
9. An welchen in der Wirklichkeit vorhandenen Punkt die neue Nationalerziehung der Deutschen anzuknüpfen sei
[...] Die deutsche Vaterlandsliebe hat ihren Sitz verloren; sie soll einen andern breitern und tiefern erhalten, in welchem sie in ruhiger Verborgenheit sich begründe und stähle, und zu rechter Zeit in jugendlicher Kraft hervorbreche, und auch dem Staate die verlorne Selbständigkeit wieder gebe. [...]
Ob nun, so streng auch die Glieder dieses Beweises an einander schließen mögen, derselbe auch andere ergreifen, und sie zur Tätigkeit anregen werde, hängt zu allererst davon ab, ob es so etwas, wie wir deutsche Eigentümlichkeit und deutsche Vaterlandsliebe geschildert haben, überhaupt gebe, und ob diese der Erhaltung und des Strebens dafür wert sei oder nicht. Daß der – auswärtige oder einheimische – Ausländer diese Frage mit Nein beantwortet, versteht sich; aber dieser ist auch nicht mit zur Beratschlagung berufen. Übrigens ist hierbei anzumerken, daß die Entscheidung über diese Frage keineswegs auf einer Beweisführung durch Begriffe beruht, welche hierin zwar klar machen, keineswegs aber über wirkliches Dasein oder Wert Auskunft zu geben vermögen, sondern, daß die letztern lediglich durch eines jeglichen unmittelbare Erfahrung an ihm selber bewährt werden können. In einem solchen Falle mögen Millionen sagen: es sei nicht, so kann dadurch niemals mehr gesagt sein, denn daß es nur in ihnen nicht sei, keineswegs, daß es überhaupt nicht sei, und wenn ein Einziger gegen diese Millionen auftritt und versichert, daß es sei, so behält er gegen sie alle recht. Nichts verhindert, daß, da ich nun gerade rede, ich in dem angegebenen Falle dieser einzige sei, der da versichert, daß er aus unmittelbarer Erfahrung an sich selbst wisse, daß es so etwas, wie deutsche Vaterlandsliebe gebe, daß er den unendlichen Wert des Gegenstandes derselben kenne, daß diese Liebe allein ihn getrieben habe, auf jede Gefahr zu sagen, was er gesagt hat und noch sagen wird, indem uns dermalen gar nichts übrig geblieben ist, denn das Sagen, und sogar dieses, auf alle Weise gehemmt und verkümmert wird. Wer dasselbe in sich fühlt, der wird überzeugt werden; wer es nicht fühlt, kann nicht überzeugt werden, denn allein auf jene Voraussetzung stützt sich mein Beweis; an ihm habe ich meine Worte verloren, aber wer wollte nicht etwas so Geringfügiges, als Worte sind, auf das Spiel setzen?
Diejenige bestimmte Erziehung, von der wir uns die Rettung der deutschen Nation versprechen, ist in unserer zweiten und dritten Rede im Allgemeinen beschrieben worden. Wir haben sie als eine gänzliche Umschaffung des Menschengeschlechts bezeichnet, und es wird passend sein, an diese Bezeichnung eine wiederholte Übersicht des Ganzen anzuknüpfen.
In der Regel galt bisher die Sinnenwelt für die rechte, eigentliche, wahre und wirklich bestehende Welt, sie war die erste, die dem Zögling der Erziehung vorgeführt wurde; von ihr erst wurde er zum Denken, und zwar meist zu einem Denken über diese, und im Dienst derselben angeführt. Die neue Erziehung kehrt diese Ordnung gerade zu um. Ihr ist nur die Welt, die durch das Denken erfaßt wird, die wahre und wirklich bestehende Welt; in diese will sie ihren Zögling, sogleich wie sie mit demselben beginnt, einführen. An diese Welt allein will sie seine ganze Liebe und sein ganzes Wohlgefallen binden; so daß ein Leben allein in dieser Welt des Geistes bei ihm notwendig entstehe und hervorkomme. Bisher lebte in der Mehrheit allein das Fleisch, die Materie, die Natur; durch die neue Erziehung soll in der Mehrheit, ja gar bald in der Allheit, allein der Geist leben, und dieselbe treiben; der feste und gewisse Geist, von welchem früher, als von der einzigmöglichen Grundlage eines wohleingerichteten Staats gesprochen worden, soll im Allgemeinen erzeugt werden.
Durch eine solche Erziehung wird ohne Zweifel der Zweck, den wir zunächst uns vorgesetzt haben, und von dem unsre Reden ausgegangen sind, erreicht. Jener zu erzeugende Geist führt die höhere Vaterlandsliebe, das Erfassen seines irdischen Lebens als eines ewigen und des Vaterlandes, als des Trägers dieser Ewigkeit, und, falls er in den Deutschen aufgebauet wird, die Liebe für das deutsche Vaterland, als einen seiner notwendigen Bestandteile unmittelbar in sich selber; und aus dieser Liebe folgt der mutige Vaterlandsverteidiger und der ruhige und rechtliche Bürger von selbst. Es wird durch eine solche Erziehung sogar noch mehr erreicht, als dieser nächste Zweck; wie das allemal der Fall ist, wo ein großes Ziel durch ein durchgreifendes Mittel gewollt wird; der ganze Mensch wird nach allen seinen Teilen vollendet, in sich selbst abgerundet, nach außen zu allen seinen Zwecken in Zeit und Ewigkeit mit vollkommener Tüchtigkeit ausgestattet. [...]
Indem nun, unserm eignen wohlbedachten Sinne nach, der Gedanke einer solchen neuen Erziehung keineswegs als ein bloßes zur Übung des Scharfsinns oder der Streitfertigkeit angestelltes Bild zu betrachten ist, sondern derselbe vielmehr zur Stunde ausgeübt und ins Leben eingeführt werden soll, so kommt uns zuvörderst zu, anzugeben, an welches in der wirklichen Welt schon vorliegende Glied diese Ausführung sich anknüpfen solle.
Wir geben auf diese Frage zur Antwort: an den von Johann Heinrich Pestalozzi erfundenen, vorgeschlagenen und unter dessen Augen schon in glücklicher Ausübung befindlichen Unterrichtsgang soll sie sich anschließen. Wir wollen diese unsre Entscheidung tiefer begründen und näher bestimmen.
Zuvörderst, wir haben die eignen Schriften des Mannes gelesen und durchdacht, und aus diesen unsern Begriff seiner Unterrichts- und Erziehungskunst uns gebildet; gar keine Kunde aber haben wir genommen von dem, was die gelehrten Neuigkeitsblätter darüber berichtet und gemeint; und über die Meinungen wieder gemeint haben. [...]
[...] An ihm hätte ich eben so gut, wie an Luther, oder falls es noch andere diesen gleichende gegeben hat, an irgend einem andern, die Grundzüge des deutschen Gemüts darlegen, und den erfreuenden Beweis führen können, daß dieses Gemüt in seiner ganzen wunderwirkenden Kraft in dem Umkreise der deutschen Zunge noch bis auf diesen Tag walte. Auch er hat ein mühvolles Leben hindurch im Kampfe mit allen möglichen Hindernissen von innen mit eigner hartnäckiger Unklarheit und Unbeholfenheit, und selbst höchst spärlich ausgestattet mit den gewöhnlichsten Hilfsmitteln der gelehrten Erziehung, äußerlich mit anhaltender Verkennung, gerungen nach einem bloß geahneten ihm selbst durchaus unbewußten Ziele, aufrecht gehalten und getrieben durch einen unversiegbaren und allmächtigen und deutschen Trieb, die Liebe zu dem armen verwahrlosten Volke. Diese allmächtige Liebe hatte ihn, eben so wie Luthern, nur in einer andern und seiner Zeit angemeßneren Beziehung, zu ihrem Werkzeuge gemacht, und war das Leben geworden in seinem Leben, sie war der ihm selbst unbekannte feste und unwandelbare Leitfaden dieses seines Lebens, der es hindurchführte durch alle ihn umgebende Nacht, und der den Abend desselben – denn es war unmöglich, daß eine solche Liebe unbelohnt von der Erde abtrete – krönte mit seiner wahrhaft geistigen Erfindung, die weit mehr leistete, denn er je mit seinen kühnsten Wünschen begehrt hatte. Er wollte bloß dem Volke helfen; aber seine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdehnung genommen, hebt das Volk, hebt allen Unterschied zwischen diesem und einem gebildeten Stande auf, gibt, statt der gesuchten Volkserziehung, Nationalisierung, und hätte wohl das Vermögen, den Völkern und dem ganzen Menschengeschlecht aus der Tiefe seines dermaligen Elendes emporzuhelfen.
[...] In Absicht des Inhalts ist es der erste Schritt der von mir beschriebenen neuen Erziehung, daß sie die freie Geistestätigkeit des Zöglings, sein Denken, in welchem späterhin die Welt seiner Liebe ihm aufgehen soll, anrege und bilde; mit diesem ersten Schritte beschäftigten sich Pestalozzi's Schriften vorzüglich, und auf diesen Gegenstand geht unsere Prüfung seines Grundbegriffs zu allererst. [...]
[...] Ohne Zweifel entstand lediglich aus dem Wunsche, jene Kinder der äußersten Armut sobald als möglich aus der Schule zum Broterwerb zu entlassen, und dennoch sie mit einem Mittel zu versehen, wodurch sie den abgebrochenen Unterricht nachholen könnten, in Pestalozzi's liebendem Gemüte die Überschätzung des Lesens und Schreibens, die Aufstellung dieser beinahe als Ziel und Gipfel des Volksunterrichts, sein unbefangener Glaube an die Aussage der abgelaufenen Jahrtausende, daß dieses die besten Hilfsmittel der Belehrung seien; da er ja außerdem gefunden haben würde, daß gerade dieses Lesen und Schreiben bisher die eigentlichen Werkzeuge gewesen, um die Menschen in Nebel und Schatten einzuhüllen und sie überklug zu machen. [...] Jene halbe Erziehung ist um nichts besser, denn gar keine; sie läßt es eben beim Alten, und wenn man dies will, so erspare man sich lieber auch das Halbe, und erkläre gleich von vorn herein geradezu, daß man nicht wolle, daß der Menschheit geholfen werde. Unter jener Voraussetzung nun kann in der bloßen Nationalerziehung, so lange dieselbe dauert, Lesen und Schreiben zu nichts nützen, wohl aber kann es sehr schädlich werden, indem es von der unmittelbaren Anschauung zum bloßen Zeichen, und von der Aufmerksamkeit, die da weiß, daß sie nichts fasse, wenn sie es nicht jetzt und zur Stelle faßt, zur Zerstreutheit, die sich ihres Niederschreibens tröstet, und irgend einmal vom Papiere lernen will, was sie wahrscheinlich nie lernen wird, und überhaupt zu der den Umgang mit Buchstaben so oft begleitenden Träumerei leichtlich verleiten könnte, so wie es dieses auch bisher getan hat. Erst am völligen Schlusse der Erziehung, und als das letzte Geschenk derselben mit auf den Weg, könnten diese Künste mitgeteilt und der Zögling geleitet werden durch Zergliederung der Sprache, die er schon längst vollkommen besitzt, die Buchstaben zu erfinden und zu gebrauchen; welches ihm bei der übrigen Bildung, die er schon erlangt hat, ein Spiel sein würde.
So in der bloßen und allgemeinen Nationalerziehung. Etwas anderes ist es mit dem künftigen Gelehrten. Dieser soll einst nicht bloß über das Alleingeltende sich aussprechen, wie es ihm ums Herz ist, sondern er soll auch in einsamem Nachdenken die verborgene und ihm selber unbewußte eigentümliche Tiefe seines Gemüts in das Licht der Sprache erheben, und er muß darum früher an der Schrift das Werkzeug dieses einsamen und dennoch lauten Denkens in die Hände bekommen und bilden lernen; doch wird auch mit ihm weniger zu eilen sein, als es bisher geschehen. Es wird dies zu seiner Zeit bei der Unterscheidung der bloßen Nationalerziehung von der gelehrten deutlicher erhellen.
[...] Was daraus wird, wenn die Menschheit im Ganzen in jedem folgenden Zeitalter sich also wiederholt, wie sie im vorhergehenden war, haben wir nun zur Genüge ersehen; soll eine gänzliche Umbildung mit derselben vorgenommen werden, so muß sie einmal ganz losgerissen werden von sich selber, und ein trennender Einschnitt gemacht werden in ihr hergebrachtes Fortleben. [...]
Im Felde der objektiven Erkenntnis, die auf äußere Gegenstände geht, fügt die Bekanntschaft mit dem Wortzeichen der Deutlichkeit und Bestimmtheit der innern Erkenntnis für den Erkennenden selbst durchaus nichts hinzu, sondern sie erhebt dieselbe bloß in den völlig verschiedenen Kreis der Mitteilbarkeit für andere. Die Klarheit jener Erkenntnis beruht gänzlich auf der Anschauung, und dasjenige, was man nach Belieben in allen seinen Teilen, gerade so wie es wirklich ist, in der Einbildungskraft wieder erzeugen kann, ist vollkommen erkannt, ob man nun dazu ein Wort habe oder nicht. [...]
[...] An diese Anschauung kann ein beliebiger Teil der Sinnenwelt geknüpft werden, sie kann eingeführt werden in das Gebiet der Matematik, so lange, bis an diesen Vorübungen der Zögling hinlänglich gebildet sei, um zur Entwerfung einer gesellschaftlichen Ordnung der Menschen, und zur Liebe dieser Ordnung, als dem zweiten und wesentlichen Schritte seiner Bildung, angeführt zu werden. [...]
10. Zur nähern Bestimmung der deutschen Nationalerziehung
[...] Dieser ganze Teil der Erziehung ist nur Mittel und Vorübung zu dem zweiten wesentlichen Teile derselben, der bürgerlichen und religiösen Erziehung. [...] Wie es möglich sein werde, daß jedweder Zögling, auch aus dem niedrigsten Stande geboren, indem der Stand der Geburt wahrhaftig keinen Unterschied in den Anlagen macht, den Unterricht über diese Gegenstände, der allerdings, wenn man so will, die allertiefste Metaphysik enthält [...] und welche zu fassen dermalen sogar Gelehrten und selbst spekulierenden Köpfen so unmöglich fällt, fassen und sogar leicht fassen werde; darüber ermüde man sich nur vorläufig nicht im Hin- und Herzweifeln; wenn man nur in Absicht der ersten Schritte folgen will, so wird dies späterhin die Erfahrung lehren. Nur darum, weil unsre Zeit überhaupt in der Welt der leeren Begriffe gefesselt, und an keiner Stelle in die Welt der wahrhaftigen Realität und Anschauung hineingekommen ist, ist es ihr nicht anzumuten, daß sie gerade bei der allerhöchsten und geistigsten Anschauung, und nachdem sie schon über alles Maß klug ist, das Anschauen anfange. Ihr muß die Philosophie anmuten, ihre bisherige Welt aufzugeben und eine ganz andere sich zu verschaffen, und es ist kein Wunder, wenn eine solche Anmutung ohne Erfolg bleibt. Der Zögling unsrer Erziehung aber ist gleich von Anbeginn an einheimisch geworden in der Welt der Anschauung und hat niemals eine andere gesehen; er soll seine Welt nicht verändern, sondern sie nur steigern, und dieses ergibt sich von selbst. [...]
Es müsse niemals das Erkenntnisvermögen des Zöglings angeregt werden, ohne daß die Liebe für den erkannten Gegenstand es zugleich werde, indem außerdem die Erkenntnis tot, und eben so niemals die Liebe, ohne daß sie der Erkenntnis klar werde, indem außerdem die Liebe blind bleibe, – ist einer der Hauptgrundsätze der von uns vorgeschlagenen Erziehung [...]. Die Anregung und Entwicklung dieser Liebe nun knüpft sich an den folgegemäßen Lehrgang am Faden der Empfindung und der Anschauung von selbst, und kommt ohne allen unsern Vorsatz oder Zutun. Das Kind hat einen natürlichen Trieb nach Klarheit und Ordnung; dieser wird in jenem Lehrgange immerfort befriedigt, und erfüllt so das Kind mit Freude und Lust; mitten in der Befriedigung aber wird er durch die neuen Dunkelheiten, die nun zum Vorschein kommen, wiederum angeregt, und so ferner befriediget, und so geht das Leben hin in Liebe und Lust am Lernen. [...]
Noch aber gibt es eine andere Liebe, diejenige, welche den Menschen an den Menschen bindet, und alle einzelne zu einer einigen Vernunftgemeinde der gleichen Gesinnung verbindet. Wie jene die Erkenntnis, so bildet diese das handelnde Leben, und treibt an, das Erkannte in sich und andern darzustellen. [...]
Die gewöhnliche Annahme, daß der Mensch von Natur selbstsüchtig sei, und auch das Kind mit dieser Selbstsucht geboren werde, und daß es allein die Erziehung sei, die demselben eine sittliche Triebfeder einpflanze, gründet sich auf eine sehr oberflächliche Beobachtung und ist durchaus falsch. Da aus Nichts sich nicht Etwas machen läßt, die noch so weit fortgesetzte Entwicklung eines Grundtriebes aber ihn doch niemals zu dem Gegenteile von sich selbst machen kann; wie sollte doch die Erziehung vermögen, jemals Sittlichkeit in das Kind hineinzubringen, wenn diese nicht ursprünglich und vor aller Erziehung vorher in demselben wäre? So ist sie es denn auch wirklich in allen menschlichen Kindern, die zur Welt geboren werden; die Aufgabe ist bloß, die ursprünglichste und reinste Gestalt, in der sie zum Vorschein kommt, zu ergründen.
Durchgeführte Spekulation sowohl, als die gesamte Beobachtung stimmen überein, daß diese ursprünglichste und reinste Gestalt der Trieb nach Achtung sei, und daß diesem Triebe erst das Sittliche, als einzig möglicher Gegenstand der Achtung, das Rechte und Gute, die Wahrhaftigkeit, die Kraft der Selbstbeherrschung, in der Erkenntnis aufgehe. Beim Kinde zeigt sich dieser Trieb zuerst als Trieb auch geachtet zu werden, von dem, was ihm die höchste Achtung einflößt; und es richtet sich dieser Trieb, zum sichern Beweise, daß keineswegs aus der Selbstsucht die Liebe stamme, in der Regel weit stärker und entschiedener auf den ernsteren, öfter abwesenden und nicht unmittelbar als Wohltäter erscheinenden Vater, denn auf die mit ihrer Wohltätigkeit stets gegenwärtige Mutter. Von diesem will das Kind bemerkt sein, es will seinen Beifall haben; nur inwiefern dieser mit ihm zufrieden ist, ist es selbst mit sich zufrieden: dies ist die natürliche Liebe des Kindes zum Vater; keineswegs als zum Pfleger seines sinnlichen Wohlseins, sondern als zu dem Spiegel, auf welchem ihm sein eigener Wert oder Unwert entgegenstrahlt; an diese Liebe kann nun der Vater selbst schweren Gehorsam und jede Selbstverläugnung leicht anknüpfen; für den Lohn seines herzlichen Beifalls gehorcht es mit Freuden. Wiederum ist dies die Liebe, die es vom Vater begehrt, daß dieser bemerke sein Bestreben, gut zu sein, und es anerkenne, daß er sich merken lasse, es mache ihm Freude, wenn er billigen könne, und tue ihm herzlich wehe, wenn er mißbilligen müsse, er wünsche nichts mehr, als immer mit demselben zufrieden sein zu können, und alle seine Forderungen an dasselbe haben nur die Absicht, das Kind selbst immer besser und achtungswürdiger zu machen; deren Anblick wiederum die Liebe des Kindes fortdauernd belebt und verstärkt, und ihm zu allen seinen fernern Bestrebungen neue Kraft gibt. [...]
[...] Dieses Vertrauen auf einen fremden und außer uns befindlichen Maßstab der Selbstachtung ist auch der eigentümliche Grundzug der Kindheit und Unmündigkeit, auf dessen Vorhandensein ganz allein die Möglichkeit aller Belehrung und aller Erziehung der nachwachsenden Jugend zu vollendeten Menschen sich gründet. Der mündige Mensch hat den Maßstab seiner Selbstschätzung in ihm selber, und will von andern geachtet sein, nur inwiefern sie selbst erst seiner Achtung sich würdig gemacht haben; und bei ihm nimmt dieser Trieb die Gestalt des Verlangens an, andere achten zu können, und Achtungswürdiges außer sich hervorzubringen. Wenn es nicht einen solchen Grundtrieb im Menschen gäbe, woher käme doch die Erscheinung, daß es dem auch nur erträglich guten Menschen wehe tut, die Menschen schlechter zu finden, als er sie sich dachte, und daß es ihn tief schmerzt, sie verachten zu müssen; da es ja der Selbstsucht im Gegenteile wohl tun müßte, über andere sich hochmütig erheben zu können? Diesen letzten Grundzug der Mündigkeit nun soll der Erzieher darstellen, so wie auf den ersten bei dem Zöglinge sicher zu rechnen ist. Der Zweck der Erziehung in dieser Rücksicht ist es eben, die Mündigkeit in dem von uns angegebenen Sinne hervorzubringen, und nur, nachdem dieser Zweck erreicht ist, ist die Erziehung wirklich vollendet und zu Ende gebracht. Bisher sind viele Menschen ihr ganzes Leben hindurch Kinder geblieben: diejenigen, welche zu ihrer Zufriedenheit des Beifalls der Umgebung bedurften, und nichts Rechts geleistet zu haben glaubten, als wenn sie dieser gefielen. [...]
Die Grundlage aller sittlichen Erziehung ist es, daß man wisse, es sei ein solcher Trieb im Kinde, und ihn festiglich voraussetze, sodann, daß man ihn in seiner Erscheinung erkenne, und ihn durch zweckmäßige Aufregung und Darreichung eines Stoffs, woran er sich befriedige, allmählich immer mehr entwickle. Die allererste Regel ist, daß man ihn auf den ihm allein angemessenen Gegenstand richte, auf das Sittliche, keineswegs aber etwa in einem ihm fremdartigen Stoffe ihn abfinde. Das Lernen z. B. führt seinen Reiz und seine Belohnung in sich selber; höchstens könnte angestrengter Fleiß, als eine Übung der Selbstüberwindung, Beifall verdienen; aber dieser freie und über die Forderung hinausgehende Fleiß wird wenigstens in der bloßen, allgemeinen Nationalerziehung kaum eine Stelle finden. Daß daher der Zögling lerne, was er soll, muß betrachtet werden, als etwas, das sich eben von selbst versteht, und wovon nicht weiter geredet wird; selbst das schnellere und bessere Lernen des fähigern Kopfs muß betrachtet werden eben als ein bloßes Naturereignis, das ihm selber zu keinem Lobe oder Auszeichnung dient, am allerwenigsten aber andere Mängel verdeckt. Nur im Sittlichen soll diesem Trieb sein Wirkungskreis angewiesen werden; aber die Wurzel aller Sittlichkeit ist die Selbstbeherrschung, die Selbstüberwindung, die Unterordnung seiner selbstsüchtigen Triebe unter den Begriff des Ganzen. Nur durch diese, und schlechthin durch nichts anderes, sei es dem Zöglinge möglich, den Beifall des Erziehers zu erhalten, dessen für seine eigne Zufriedenheit zu bedürfen er von seiner geistigen Natur angewiesen und durch die Erziehung gewöhnt ist. Es gibt, wie wir schon in unsrer zweiten Rede erinnert haben, zwei sehr verschiedene Weisen jener Unterordnung des persönlichen Selbst unter das Ganze. Zuvörderst diejenige, die schlechthin sein muß, und keinem in keinem Stücke erlassen werden kann, die Unterwerfung unter das, um der bloßen Ordnung des Ganzen willen entworfene, Gesetz der Verfassung. Wer gegen dieses sich nicht vergeht, den trifft nur nicht Mißfallen, keineswegs aber wird ihm Beifall zuteil; so wie den, der sich dagegen verginge, wirkliches Mißfallen und Tadel treffen würde, der da, wo öffentlich gefehlt worden, auch öffentlich ergehen müßte, und, wo er fruchtlos bliebe, sogar durch hinzugefügte Strafe geschärft werden könnte. Sodann gibt es eine Unterordnung des einzelnen unter das Ganze, die nicht gefordert, sondern nur freiwillig geleistet werden kann: daß man durch eigene Aufopferung den Wohlstand desselben steigere und vermehre. Um das Verhältnis der bloßen Gesetzmäßigkeit und dieser höhern Tugend zu einander den Zöglingen gleich von Jugend auf recht einzuprägen, wird es zweckmäßig sein, nur demjenigen, gegen den einen gewissen Zeitraum hindurch in der ersten Rücksicht keine Klage gewesen, solche freiwillige Aufopferungen, gleichsam als den Lohn der Gesetzmäßigkeit zu gestatten, dem aber, der in Regelmäßigkeit und Ordnung seiner selbst noch nicht ganz sicher ist, die Erlaubnis dazu zu versagen. [...] Dieser Art der Aufopferung werde zuteil tätige Billigung, wirkliche Anerkennung ihrer Verdienstlichkeit, keineswegs zwar öffentlich, als Lob, was das Gemüt verderben und eitel machen, und es von der Selbständigkeit ableiten könnte, sondern im geheim und mit dem Zögling allein. Diese Anerkennung soll nichts mehr sein, als das eigne, dem Zöglinge auch äußerlich dargestellte gute Gewissen desselben, und die Bestätigung seiner Zufriedenheit mit sich selbst, seiner Selbstachtung, und die Ermunterung, sich auch ferner zu vertrauen. Die hierbei beabsichtigten Vorteile würde folgende Einrichtung vortrefflich befördern. Wo mehrere Erzieher und Erzieherinnen sind, wie wir denn dies als die Regel voraussetzen, da wähle jedes Kind frei, und so wie sein Vertrauen und sein Gefühl dasselbe treibt, einen darunter zum besondern Freunde und gleichsam Gewissensrate. Bei diesem suche es Rat in allen Fällen, wo es ihm schwer wird, recht zu tun; er helfe ihm durch freundliche Zusprache nach; er sei der Vertraute der freiwilligen Leistungen, die es übernimmt; und er sei endlich derjenige, der das Treffliche mit seinem Beifalle krönt. In den Personen dieser Gewissensräte nun müßte die Erziehung, jedem einzelnen nach seiner Weise, folgegemäß zu immer größerer Stärke in Selbstüberwindung und Selbstbeherrschung emporhelfen; und so wird allmählich Festigkeit und Selbständigkeit entstehen, durch deren Erzeugung die Erziehung sich selbst abschließt und für die Zukunft aufhebt. Durch eigenes Tun und Handeln schließt sich uns am klarsten der Umfang der sittlichen Welt auf, und wem sie also aufgegangen ist, dem ist sie wahrhaftig aufgegangen. Ein solcher weiß nun selbst, was in ihr enthalten ist, und bedarf keines fremden Zeugnisses mehr über sich, sondern vermag es, selbst ein richtiges Gericht über sich zu halten und ist von nun an mündig.
[...] Das Kind ohne alle Ausnahme will recht und gut sein, keineswegs will es, so wie ein junges Tier bloß wohl sein. Die Liebe ist der Grundbestandteil des Menschen; diese ist da, so wie der Mensch da ist, ganz und vollendet, und es kann ihr nichts hinzugefügt werden; denn diese liegt hinaus über die fortwachsende Erscheinung des sinnlichen Lebens und ist unabhängig von ihm. Nur die Erkenntnis ist es, woran sich dieses sinnliche Leben knüpft, und welche mit demselben entsteht und fortwächst. Diese entwickelt sich nur langsam und allmählich, im Fortlaufe der Zeit. Wie soll nun, so lange, bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des Rechten und Guten entstehe, an welches das treibende Wohlgefallen sich knüpfen könne, jene angeborene Liebe über die Zeiten der Unwissenheit hinwegkommen, sich entwickeln und üben? Die vernünftige Natur hat ohne alles unser Zutun der Schwierigkeit abgeholfen. Das dem Kinde in seinem Innern abgehende Bewußtsein stellt sich ihm äußerlich und verkörpert dar an dem Urteile der erwachsenen Welt. Bis in ihm selbst ein verständiger Richter sich entwickle, wird es durch einen Naturtrieb an diese verwiesen, und so ihm ein Gewissen außer ihm gegeben, bis in ihm selber sich eins erzeuge. Diese bis jetzt wenig bekannte Wahrheit soll die neue Erziehung anerkennen, und sie soll die ohne ihr Zutun vorhandene Liebe auf das Rechte leiten. Bis jetzt ist in der Regel diese Unbefangenheit und diese kindliche Gläubigkeit der Unmündigen an die höhere Vollkommenheit der Erwachsenen zum Verderben derselben gebraucht worden; ihre Unschuld gerade, und ihr natürlicher Glauben an uns, machte es uns möglich, ihnen statt des Guten, das sie innerlich wollten, unser Verderbnis, das sie verabscheut haben würden, wenn sie es zu erkennen vermocht hätten, einzupflanzen, noch ehe sie Gutes und Böses unterscheiden konnten.
Dies ist eben die allergrößte Vergehung, die unsrer Zeit zur Last fällt; und es wird hierdurch auch die täglich sich darbietende Erscheinung erklärt, daß in der Regel der Mensch um so schlechter, selbstsüchtiger, für alle guten Neigungen erstorbener und zu jedem rechten Werke untauglicher wird, je mehr Jahre er zählt, und um je weiter daher er sich von den ersten Tagen seiner Unschuld, die fürs erste noch immer in einigen Ahnungen des Guten leise nachklingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner bewiesen, daß das gegenwärtige Geschlecht, wenn es nicht einen durchaus trennenden Abschnitt in sein Fortleben macht, eine noch verdorbenere Nachkommenschaft, und diese eine abermals verdorbenere, notwendig hinterlassen werde. [...] Es ist eine abgeschmackte Verleumdung der menschlichen Natur, daß der Mensch als Sünder geboren werde: wäre dies wahr, wie könnte doch jemals an ihn auch nur ein Begriff von Sünde kommen, der ja nur im Gegensatze mit einer Nichtsünde möglich ist? Er lebt sich zum Sünder; und das bisherige menschliche Leben war in der Regel eine im steigenden Fortschritte begriffene Entwicklung der Sündhaftigkeit. [...]
Ein Haupterfordernis dieser neuen Nationalerziehung ist es, daß in ihr Lernen und Arbeiten vereinigt sei, daß die Anstalt durch sich selbst sich zu erhalten den Zöglingen wenigstens scheine, und daß jeder in dem Bewußtsein erhalten werde, zu diesem Zwecke nach aller seiner Kraft beizutragen. [...] [...] besonders aber darum, weil das gegründete Vertrauen, daß man sich stets durch eigne Kraft werde durch die Welt bringen können und für seinen Unterhalt keiner fremden Wohltätigkeit bedürfe, zur persönlichen Selbständigkeit des Menschen gehört, und die sittliche, weit mehr als man bis jetzt zu glauben scheint, bedingt. [...] Man erkundige sich nur näher nach den Personen, die durch ehrloses Betragen sich auszeichnen; immer wird man finden, daß sie nicht arbeiten gelernt haben, oder die Arbeit scheuen, und daß sie noch überdies üble Wirtschafter sind. Darum soll der Zögling unsrer Erziehung an Arbeitsamkeit gewöhnt werden, damit er der Versuchung zur Ungerechtigkeit durch Nahrungssorgen überhoben sei, und tief, und als allererster Grundsatz der Ehre, soll es in sein Gemüt geprägt werden, daß es schändlich sei, seinen Lebensunterhalt einem andern, denn seiner Arbeit verdanken zu wollen. [...]
Das Grundgesetz dieses kleinen Wirtschaftsstaates sei dieses, daß in ihm kein Artikel zu Speise, Kleidung u. s. w. noch, so weit dies möglich ist, irgend ein Werkzeug gebraucht werden dürfe, das nicht in ihm selbst erzeugt und verfertigt sei. Bedarf die Haushaltung einer Unterstützung von außen, so werden ihr die Gegenstände in Natur, aber keine anderer Art, als die sie auch selbst hat, gereicht, und zwar ohne daß die Zöglinge erfahren, daß ihre eigene Ausbeute vermehrt worden, oder daß sie, wo das letztere zweckmäßig ist, es nur als Darlehen erhalten, und es zu bestimmter Zeit wieder zurückerstatten. Für diese Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit des Ganzen arbeite nun jeder einzelne aus aller seiner Kraft, ohne daß er doch mit demselben abrechne, oder für sich auf irgend ein Eigentum Anspruch mache. Jeder wisse, daß er sich dem Ganzen ganz schuldig ist, und genieße nur oder darbe, wenn es sich so fügt, mit dem Ganzen. Dadurch wird die ehrgemäße Selbständigkeit des Staats und der Familie, in die er einst treten soll, und das Verhältnis ihrer einzelnen Glieder zu ihnen, der lebendigen Anschauung dargestellt, und wurzelt unaustilgbar ein in sein Gemüt. [...]
In den Grundsätzen derselben muß auch der künftige Gelehrte durch die allgemeine Nationalerziehung hindurchgegangen sein, und den ersten Teil derselben, die Entwicklung der Erkenntnis an Empfindung, Anschauung und dem, was an die letztere geknüpft wird, vollständig und klar erhalten haben. Nur dem Knaben, der eine vorzügliche Gabe zum Lernen, und eine hervorstechende Hinneigung nach der Welt der Begriffe zeigt, kann die neue Nationalerziehung erlauben, diesen Stand zu ergreifen; jedem aber, der diese Eigenschaften zeigt, wird sie es ohne Ausnahme, und ohne Rücksicht auf einen vorgeblichen Unterschied der Geburt, erlauben müssen; denn der Gelehrte ist es keinesweg zu seiner eigenen Bequemlichkeit, und jedes Talent dazu ist ein schätzbares Eigentum der Nation, das ihr nicht entrissen werden darf.
Der Ungelehrte ist bestimmt, das Menschengeschlecht auf dem Standpunkte der Ausbildung, die es errungen hat, durch sich selbst zu erhalten, der Gelehrte, nach einem klaren Begriffe und mit besonnener Kunst, dasselbe weiter zu bringen. Der letztere muß mit seinem Begriffe der Gegenwart immer voraus sein, die Zukunft erfassen und dieselbe in die Gegenwart zu künftiger Entwicklung hineinzupflanzen vermögen. Dazu bedarf es einer klaren Übersicht des bisherigen Weltzustandes, einer freien Fertigkeit im reinen und von der Erscheinung unabhängigen Denken, und, damit er sich mitteilen könne, des Besitzes der Sprache bis in ihre lebendige und schöpferische Wurzel hinein. Alles dieses erfordert geistige Selbsttätigkeit ohne alle fremde Leitung und einsames Nachdenken, in welchem darum der künftige Gelehrte, von der Stunde an, da sein Beruf entschieden ist, geübt werden muß, keineswegs bloß, wie beim Ungelehrten, ein Denken unter dem Auge des stets gegenwärtigen Lehrers; es erfordert eine Menge Hilfskenntnisse, die dem Ungelehrten für seine Bestimmung durchaus unbrauchbar sind. Die Arbeit des Gelehrten und das Tagwerk seines Lebens, wird eben jenes einsame Nachdenken sein; zu dieser Arbeit ist er nun sogleich anzuführen, die andere mechanische Arbeit ihm dagegen zu erlassen. [...]
11. Wem die Ausführung dieses Erziehungsplanes anheimfallen werde
[...] Der Staat scheint bisher, je aufgeklärter er zu sein meint, desto fester geglaubt zu haben, daß er, auch ohne alle Religion und Sittlichkeit seiner Bürger, durch die bloße Zwangsanstalt, seinen eigentlichen Zweck erreichen könne, und daß in Absicht jener, diese es halten möchten, wie sie könnten. Möchte er aus den neuen Erfahrungen wenigstens dies gelernt haben, daß er das nicht vermag, und daß er gerade durch den Mangel der Religion und der Sittlichkeit dahin gekommen ist, wo er sich dermalen befindet.
Möchte man ihn, in Absicht seines Zweifels, ob er auch wohl das Vermögen habe, den Aufwand einer Nationalerziehung zu bestreiten, überzeugen können, daß er durch diese einzige Ausgabe, seine meisten übrigen auf die wirtschaftlichste Weise besorgen, und daß, wenn er diese nur übernimmt, er bald nur diese einzige Hauptausgabe haben werde. Bis jetzt ist der bei weitem größte Teil der Einkünfte des Staats auf die Unterhaltung stehender Heere verwendet worden. Den Erfolg dieser Verwendung haben wir gesehen; dies reicht hin; denn tiefer in die besondern Gründe dieses Erfolgs, aus der Einrichtung dieser Heere, einzugehen, liegt außerhalb unsers Plans. Dagegen würde der Staat, der die von uns vorgeschlagene Nationalerziehung allgemein einführte, von dem Augenblicke an, da ein Geschlecht der nachgewachsenen Jugend durch sie hindurch gegangen wäre, gar keines besondern Heeres bedürfen, sondern er hätte an ihnen ein Heer, wie es noch keine Zeit gesehen. Jeder Einzelne ist zu jedem möglichen Gebrauche seiner körperlichen Kraft vollkommen geübt, und begreift sie auf der Stelle, zur Ertragung jeder Anstrengung und Mühseligkeit gewöhnt, sein in unmittelbarer Anschauung aufgewachsener Geist ist immer gegenwärtig und bei sich selbst, in seinem Gemüte lebt die Liebe des Ganzen, dessen Mitglied er ist, des Staats und des Vaterlands, und vernichtet jede andere selbstische Regung. Der Staat kann sie rufen und unter die Waffen stellen, so bald er will, und kann sicher sein, daß kein Feind sie schlägt. [...] Durch unsere Erziehung erhält der Staat arbeitende Stände, die des Nachdenkens über ihr Geschäft von Jugend auf gewohnt sind, und die schon sich selbst durch sich selbst zu helfen vermögen und Neigung haben; vermag nun noch überdies der Staat ihnen auf eine zweckmäßige Weise unter die Arme zu greifen, so werden sie ihn auf das halbe Wort verstehen und seine Belehrung sehr dankbar aufnehmen. Alle Zweige der Haushaltung werden ohne viele Mühe in kurzer Zeit einen Flor gewinnen, den auch noch keine Zeit gesehen hat, und dem Staate wird, wenn er ja rechnen will, und wenn er etwa bis dahin nebenbei auch noch den wahren Grundwert der Dinge kennen lernen sollte, seine erste Auslage tausendfältige Zinsen tragen. Bisher hat der Staat für Gerichte und Polizei-Anstalten vieles tun müssen, und doch niemals genug für sie tun können; Zucht- und Verbesserungs-Häuser haben ihm Ausgaben gemacht, die Armenanstalten endlich erforderten, je mehr auf sie gewendet wurde, einen um so größern Aufwand und erschienen in der ganzen bisherigen Lage eigentlich als Anstalten Arme zu machen. Die erstern werden in einem Staate, der die neue Erziehung allgemein macht, sehr verringert werden, die letztern gänzlich wegfallen. Frühe Zucht sichert vor der spätern sehr mißlichen Zucht und Verbesserung; Arme aber gibt es unter einem also erzognen Volke gar nicht.
[...] Es ist zu erwarten, daß man in demselben uns ungestört lassen werde. Ich hoffe, – vielleicht täusche ich mich selbst darin, aber da ich nur um dieser Hoffnung willen noch leben mag, so kann ich es nicht lassen, zu hoffen; – ich hoffe, daß ich einige Deutsche überzeugen und sie zur Einsicht bringen werde, daß es allein die Erziehung sei, die uns retten könne von allen Übeln, die uns drücken. Ich rechne besonders darauf, daß die Not uns zum Aufmerken und zum ernsten Nachdenken geneigter gemacht habe. [...]
Übernimmt der Staat die ihm angetragene Aufgabe, so wird er diese Erziehung allgemein machen, über die ganze Oberfläche seines Gebiets, für jeden seiner nachgebornen Bürger ohne alle Ausnahme; auch ist es allein diese Allgemeinheit, zu der wir des Staats bedürfen; indem zu einzelnen Anfängen und Versuchen hier und da auch wohl das Vermögen von wohlgesinnten Privatpersonen hinreichen würde. Nun ist allerdings nicht zu erwarten, daß die Eltern allgemein willig sein werden, sich von ihren Kindern zu trennen, und sie dieser neuen Erziehung, von der es schwer sein wird ihnen einen Begriff beizubringen, zu überlassen; sondern es ist nach der bisherigen Erfahrung darauf zu rechnen, daß jeder, der noch etwa das Vermögen zu haben glaubt, seine Kinder im Hause zu nähren, gegen die öffentliche Erziehung und besonders gegen eine so scharf trennende und so lange dauernde öffentliche Erziehung sich setzen wird. In solchen Fällen ist man nun, bei zu erwartender Widersetzlichkeit, von den Staatsmännern bisher gewohnt, daß sie den Vorschlag mit der Antwort abweisen: der Staat habe nicht das Recht, für diesen Zweck Zwang anzuwenden. Indem sie nun warten wollen, bis die Menschen im Allgemeinen den guten Willen haben, ohne Erziehung aber es niemals zu allgemeinem guten Willen kommen kann, so sind sie dadurch gegen alle Verbesserung geschützt und können hoffen, daß es beim Alten bleiben wird bis an das Ende der Tage. [...] Möchten sich aber Staatsmänner finden und hierbei zu Rate gezogen werden, welche vor allen Dingen durch ein tiefes und gründliches Studium der Philosophie und der Wissenschaft überhaupt sich selbst Erziehung gegeben haben, denen es ein rechter Ernst ist mit ihrem Geschäfte, die einen festen Begriff vom Menschen und seiner Bestimmung besitzen, die da fähig sind, die Gegenwart zu verstehen und zu begreifen, was eigentlich der Menschheit dermalen unausbleiblich nottut; hätten diese aus jenen Vorbegriffen etwa selbst eingesehen, daß nur Erziehung vor der außerdem unaufhaltsam über uns hereinbrechenden Barbarei und Verwilderung uns retten könne, schwebte ihnen ein Bild vor von dem neuen Menschengeschlechte, das durch diese Erziehung entstehen würde, wären sie selbst innig überzeugt von der Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit der vorgeschlagenen Mittel: so ließe von solchen sich auch erwarten, daß sie zugleich begriffen, der Staat, als höchster Verweser der menschlichen Angelegenheiten und als der Gott und seinem Gewissen allein verantwortliche Vormund der Unmündigen habe das vollkommene Recht, die letzteren zu ihrem Heile auch zu zwingen. Wo gibt es denn dermalen einen Staat, der da zweifle, ob auch er wohl das Recht habe, seine Untertanen zu Kriegsdiensten zu zwingen und den Eltern für diesen Behuf die Kinder wegzunehmen, ob nun eins von beiden oder beide wollen oder nicht wollen? Und dennoch ist dieser Zwang, zu Ergreifung einer dauernden Lebensart wider den eignen Willen, weit bedenklicher und häufig von den nachteiligsten Folgen für den sittlichen Zustand und für Gesundheit und Leben der Gezwungenen; da hingegen derjenige Zwang, von dem wir reden, nach vollendeter Erziehung die ganze persönliche Freiheit zurückgibt und gar keine andern, denn die heilbringendsten Folgen haben kann. [...]
Soll nun diese Erziehung Nationalerziehung der Deutschen schlechtweg sein, und soll die große Mehrheit aller, die die deutsche Sprache reden, keineswegs aber etwa nur die Bürgerschaft, dieses oder jenes besonderen deutschen Staats, dastehen, als ein neues Menschengeschlecht, so müssen alle deutsche Staaten, jeder für sich, und unabhängig von allen andern, diese Aufgabe ergreifen. [...]
Wohl uns hierbei, daß es noch verschiedene und von einander abgetrennte deutsche Staaten gibt! Was so oft zu unserem Nachteile gereicht ist, kann bei dieser wichtigen Nationalangelegenheit vielleicht zu unserem Vorteile dienen. Vielleicht kann Nacheiferung der mehreren, und die Begierde, einander zuvorzukommen, bewirken, was die ruhige Selbstgenügsamkeit des Einzelnen nicht hervorgebracht hatte; denn es ist klar, daß derjenige unter allen deutschen Staaten, der in dieser Sache den Anfang machen wird, an Achtung, an Liebe, an Dankbarkeit des Ganzen für ihn, den Vorrang gewinnen wird, daß er dastehen wird als der höchste Wohltäter und der eigentliche Stifter der Nation. Er wird den übrigen Mut machen, ihnen ein belehrendes Beispiel geben und ihr Muster werden; er wird Bedenklichkeiten, in denen die andern hängen blieben, beseitigen; aus seinem Schoße werden die Lehrbücher und die ersten Lehrer ausgehen, und den andern geliehen werden; und wer nach ihm der zweite sein wird, wird den zweiten Ruhm erwerben. Zum erfreulichen Zeugnisse, daß unter den Deutschen ein Sinn für das Höhere noch nie ganz ausgestorben, haben bisher mehrere deutsche Stämme und Staaten mit einander um den Ruhm größerer Bildung gestritten; diese haben ausgedehntere Preßfreiheit, freiere Hinwegsetzung über die hergebracht Meinung, andere besser eingerichtete Schulen und Universitäten, andere ehemaligen Ruhm und Verdienste, andere etwas anderes für sich angeführt, und der Streit hat nicht entschieden werden können. Bei der gegenwärtigen Veranlassung wird er es werden. Diejenige Bildung allein, die da strebt, und die es wagt, sich allgemein zu machen und alle Menschen ohne Unterschied zu erfassen, ist ein wirklicher Bestandteil des Lebens; und ist ihrer selbst sicher. [...]
Läßt der Staat die ihm angetragene Aufgabe liegen, so ist es für die Privatpersonen, welche dieselbe aufnehmen, ein desto größerer Ruhm. Fern sei es von uns, der Zukunft durch Mutmaßungen vorzugreifen, oder den Ton des Zweifels und des Mangels an Vertrauen selber anzuheben; worauf unsere Wünsche zunächst gehen, haben wir deutlich ausgesprochen; nur dies sei uns erlaubt, anzumerken: daß, wenn es wirklich also kommen sollte, daß der Staat und die Fürsten die Sache Privatpersonen überließen, dies dem bisherigen schon oben angemerkten und mit Beispielen belegten Gange der deutschen Entwicklung und Bildung gemäß sein, und dieser bis ans Ende sich gleich bleiben würde. Auch in diesem Falle würde der Staat zu seiner Zeit nachfolgen fürs erste wie ein einzelner, der den auf seinen Teil fallenden Beitrag eben auch leisten will, bis er sich etwa später besinnt, daß er kein Teil, sondern das Ganze sei, und daß das Ganze zu besorgen er so Pflicht als Recht habe. Von Stund an fallen alle selbstständige Bemühungen der Privatpersonen weg und unterordnen sich dem allgemeinen Plane des Staats.
Sollte die Angelegenheit diesen Gang nehmen, so wird es mit der beabsichtigten Verbesserung unsers Geschlechts freilich nur langsam, und ohne eine sichere und feste Übersicht und mögliche Berechnung des Ganzen, vorwärts schreiten. Aber lasse man sich ja dadurch nicht abhalten, einen Anfang zu machen! Es liegt in der Natur der Sache selbst, daß sie niemals untergehen könne, sondern, nur einmal ins Werk gesetzt, durch sich selbst fortlebe, und immer weiter um sich greifend sich verbreite. Jeder, der durch diese Bildung hindurchgegangen ist, wird ein Zeuge für sie und ein eifriger Verbreiter; jeder wird den Lohn der erhaltenen Lehre dadurch abtragen, daß er selbst wieder Lehrer wird, und so viele Schüler, die einst auch wieder Lehrer werden, macht, als er kann; und dies geht notwendig so lange fort, bis das Ganze ohne alle Ausnahme ergriffen sei.
Im Falle der Staat sich mit der Sache nicht befassen sollte, so haben Privatunternehmern zu befürchten, daß alle nur irgend vermögende Eltern ihre Kinder dieser Erziehung nicht überlassen werden. Wende man sich sodann in Gottes Namen und mit voller Zuversicht an die armen Verwaisten, an die im Elende auf den Straßen Herumliegenden, an alles, was die erwachsene Menschheit ausgestoßen und weggeworfen hat! [...] Befürchten wir nicht, daß die Armseligkeit und die Verwilderung ihres vorigen Zustandes unserer Absicht hinderlich sein werde! Reißen wir sie nur plötzlich und gänzlich heraus aus demselben und bringen sie in eine durchaus neue Welt; lassen wir nichts an ihnen, das sie an das Alte erinnern könnte, so werden sie ihrer selbst vergessen und dastehen als neue so eben erst erschaffene Wesen. Daß in diese frische und reine Tafel nur das Gute eingegraben werde, dafür muß unser Unterrichtsgang bürgen und unsre Hausordnung. Es wird ein für alle Nachwelt warnendes Zeugnis sein über unsre Zeit, wenn gerade diejenigen, die sie ausgestoßen hat, durch diese Ausstoßung allein das Vorrecht erhalten, ein besseres Geschlecht anzuheben; wenn diese den Kindern derer, die mit ihnen nicht zusammen sein mochten, die beseligende Bildung bringen; und wenn sie die Stammväter werden unsrer künftigen Helden, Weisen, Gesetzgeber, Heilande der Menschheit. [...]
12. Über die Mittel, uns bis zur Erreichung unsers Hauptzwecks aufrecht zu erhalten
[...] Da inzwischen dieses Geschlecht noch nicht gegenwärtig ist, sondern erst heraufgezogen werden soll, und, wenn auch alles über unser Erwarten trefflich gehen sollte, wir dennoch eines beträchtlichen Zwischenraums bedürfen werden, um in jene Zeit hinüber zu kommen, so entsteht die näherliegende Frage: Wie sollen wir uns auch nur durch diesen Zwischenraum hindurch bringen? Wie sollen wir, da wir nichts besseres können, uns erhalten, wenigstens als den Boden, auf dem die Verbesserung vorgehen und als den Ausgangspunkt, an welchen dieselbe sich anknüpfen könne? Wie sollen wir verhindern, daß, wenn einst das also gebildete Geschlecht aus seiner Absonderung hervor unter uns träte, es nicht an uns eine Wirklichkeit vor sich finde, die nicht die mindeste Verwandtschaft habe zu der Ordnung der Dinge, welche es als das Rechte begriffen, und in welcher niemand dasselbe verstehe, oder den mindesten Wunsch und Bedürfnis einer solchen Ordnung der Dinge hege, sondern das Vorhandene als das ganz Natürliche und das einzig Mögliche ansehe? Würden nicht diese eine andere Welt im Busen Tragenden gar bald irre werden, und würde so nicht die Bildung eben so unnütz für die Verbesserung des wirklichen Lebens verhallen, wie die bisherige Bildung verhallt ist?
Geht die Mehrheit in ihrer bisherigen Unachtsamkeit, Gedankenlosigkeit und Zerstreutheit so ferner hin, so ist gerade dieses, als das notwendig sich Ergebende, zu erwarten. Wer sich, ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst, gehen läßt, und von den Umständen sich gestalten, wie sie wollen, der gewöhnt sich bald an jede mögliche Ordnung der Dinge. So sehr auch sein Auge durch etwas beleidigt werden mochte, als er es das erste mal erblickte, läßt es nur täglich auf dieselbe Weise wiederkehren, so gewöhnt er sich daran und findet es späterhin natürlich, und als eben so sein müssend, gewinnt es zuletzt gar lieb, und es würde ihm mit der Herstellung des erstern bessern Zustandes wenig gedient sein, weil dieser ihn aus seiner nun einmal gewohnten Weise zu sein herausrisse. Auf diese Weise gewöhnt man sich sogar an Sklaverei, wenn nur unsre sinnliche Fortdauer dabei ungekränkt bleibt, und gewinnt sie mit der Zeit lieb; und dies ist eben das Gefährlichste an der Unterworfenheit, daß sie für alle wahre Ehre abstumpft und sodann ihre sehr erfreuliche Seite hat für den Trägen, indem sie ihn mancher Sorge und manches Selbstdenkens überhebt.
Laßt uns auf der Hut sein gegen diese Überraschung der Süßigkeit des Dienens, denn diese raubt sogar unsern Nachkommen die Hoffnung künftiger Befreiung. Wird unser äußeres Wirken in hemmende Fesseln geschlagen, laßt uns desto kühner unsern Geist erheben zum Gedanken der Freiheit, zum Leben in diesem Gedanken, zum Wünschen und Begehren nur dieses einigen. [...]
Fragt man mich, wie dies zu erreichen sei, so ist darauf die einzige alles in sich fassende Antwort diese: wir müssen eben zur Stelle werden, was wir ohnedies sein sollten, Deutsche. Wir sollen unsern Geist nicht unterwerfen: so müssen wir eben vor allen Dingen einen Geist uns anschaffen, und einen festen und gewissen Geist; wir müssen ernst werden in allen Dingen und nicht fortfahren, bloß leichtsinniger Weise und nur zum Scherze dazusein; wir müssen uns haltbare und unerschütterliche Grundsätze bilden, die allem unserm übrigen Denken und unserm Handeln zur festen Richtschnur dienen, Leben und Denken muß bei uns aus einem Stücke sein, und ein sich durchdringendes und gediegenes Ganzes; wir müssen in beiden der Natur und der Wahrheit gemäß werden, und die fremden Kunststücke von uns werfen; wir müssen, um es mit einem Worte zu sagen, uns Charakter anschaffen; denn Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend, und die Sache hat in unsrer Sprache keinen besondern Namen, weil sie eben ohne alles unser Wissen und Besinnung aus unserm Sein unmittelbar hervorgehen soll.
Wir müssen zuvörderst über die großen Ereignisse unsrer Tage, ihre Beziehung auf uns, und das, was wir von ihnen zu erwarten haben, mit eigner Bewegung unsrer Gedanken nachdenken, und uns eine klare und feste Ansicht von allen diesen Gegenständen, und ein entschiednes und unwandelbares Ja oder Nein über die hierher fallenden Fragen verschaffen; jeder, der den mindesten Anspruch auf Bildung macht, soll das. [...] Selbst das Schweben in höhern Kreisen des Denkens spricht nicht los von dieser allgemeinen Verbindlichkeit, seine Zeit zu verstehen. Alles Höhere muß eingreifen wollen auf seine Weise in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahrhaftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der letztern; lebte er nicht auch in dieser, so wäre dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht lebte, sondern in ihm nur träumte. [...] Die Gedankenlosigkeit eben ist es, die sich an Alles gewöhnt, wo aber der klare und umfassende Gedanke, und in diesem das Bild dessen, was da sein sollte, immerfort wachsam bleibt, da kommt es zu keiner Gewöhnung. [...]
Vorher war die hergebrachte Sitte unter uns diese, daß, wenn irgend ein ernsthaftes Wort, mündlich oder im Druck, sich vernehmen ließ, das tägliche Geschwätz sich desselben bemächtigte, und es in einen spaßhaften Unterhaltungsstoff seiner drückenden Langeweile verwandelte. [...]
Tiefer unter uns eingewurzelt, fast zur andern Natur geworden, und das Gegenteil beinahe unerhört, war unter den Deutschen die Sitte, daß man alles, was auf die Bahn gebracht wurde, betrachtete als eine Aufforderung an jeden, der einen Mund hätte, nur geschwind und auf der Stelle sein Wort auch dazu zu geben und uns zu berichten, ob er auch derselben Meinung sei, oder nicht; nach welcher Abstimmung denn die ganze Sache vorbei sei, und das öffentliche Gespräch zu einem neuen Gegenstande eilen müsse. Auf diese Weise hatte sich aller literarischer Verkehr unter den Deutschen verwandelt, so wie die Echo der alten Fabel, in einen bloßen reinen Laut, ohne allen Leib und körperlichen Gehalt. Wie in den bekannten schlechten Gesellschaften des persönlichen Verkehrs, so kam es auch in dieser nur darauf an, daß die Menschenstimme forthalle, und daß jeder ohne Stocken sie aufnehme, und sie dem Nachbar zuwerfe, keinesweges aber darauf, was da ertönte. Was ist Charakterlosigkeit und Undeutschheit, wenn es das nicht ist? [...] Ich will nicht gerade auf der Stelle wissen, wie dieser oder jener über die in Anregung gebrachten Fragen denke, d. h. wie er bisher darüber gedacht, oder auch nicht gedacht habe. Er soll es bei sich selbst überlegen und durchdenken, so lange bis sein Urteil fertig ist und vollkommen klar, und soll sich die nötige Zeit dazu nehmen, und gehen ihm etwa die gehörigen Vorkenntnisse und der ganze Grad der Bildung, der zu einem Urteile in diesen Angelegenheiten erfordert wird, noch ab, so soll er sich auch dazu die Zeit nehmen, sich dieselben zu erwerben. Hat nun einer auf diese Weise sein Urteil fertig und klar, so wird nicht gerade verlangt, daß er es auch öffentlich abgebe; sollte dasselbe mit dem hier Gesagten übereinstimmen, so ist dieses eben schon gesagt, und es bedarf nicht eines zweiten Sagens, nur wer etwas Anderes und Besseres sagen kann, ist aufgefordert zu reden; dagegen aber soll es jeder in jedem Falle nach seiner Weise und Lage wirklich leben und treiben. [...]
Wer sind denn diejenigen, die es nicht gerne hören könnten, und unter welcher Bedingung könnten sie es denn nicht gern hören? Allenthalben ist es nur die Unklarheit und die Finsternis die da schreckt. Jedes Schreckbild verschwindet, wenn man es fest ins Auge faßt. Lasset uns mit derselben Unbefangenheit und Unumwundenheit, mit der wir bisher jeden in diese Vorträge fallenden Gegenstand zerlegt haben, auch diesem Schrecknisse unter die Augen treten.
[...] Es wird hier nicht angeregt zu ruhestörenden Auftritten; es wird vielmehr vor diesen, als sicher zum Verderben führend, gewarnt, es wird eine feste unwandelbare Grundlage angegeben, worauf endlich in einem Volke der Welt die höchste, reinste und noch niemals also unter den Menschen gewesene Sittlichkeit aufgebaut, für alle folgende Zeiten gesichert, und von da aus über alle andere Völker verbreitet werde; es wird eine Umschwung des Menschengeschlechts angegeben aus irdischen und sinnlichen Geschöpfen, zu reinen und edlen Geistern. [...]
Was würden dagegen diejenigen, welche diese Furcht hegten und dieselbe durch ihr Handeln zugeständen, annehmen, und laut vor aller Welt bekennen, daß sie es annehmen? Sie würden bekennen, daß sie glauben, daß ein menschenfeindliches und ein sehr kleines und niedriges Princip über uns herrsche, dem jede Regung selbstständiger Kraft bange mache, der von Sittlichkeit, Religion, Veredlung der Gemüter nicht ohne Angst hören könne, indem allein in der Herabwürdigung der Menschen, in ihrer Dumpfheit und ihren Lastern, für ihn Heil sei und Hoffnung, sich zu erhalten. [...]
[...] Über das ganze Gebiet der ganzen deutschen Zunge hinweg, wo irgendhin unsre Stimme frei und unaufgehalten ertönt, ruft sie durch ihr bloßes Dasein den Deutschen zu: Niemand will eure Unterdrückung, euren Knechtssinn, eure sklavische Unterwürfigkeit, sondern eure Selbständigkeit, eure wahre Freiheit, eure Erhebung und Veredlung will man; denn man hindert nicht, daß man sich öffentlich mit euch darüber beratschlage, und euch das unfehlbare Mittel dazu zeige. [...]
13. Fortsetzung der angefangenen Betrachtung
[...] So saß die deutsche Nation, durch gemeinschaftliche Sprache und Denkart sattsam unter sich vereinigt und scharf genug abgeschnitten von den andern Völkern, in der Mitte von Europa da, als scheidender Wall nicht verwandter Stämme, zahlreich und tapfer genug, um ihre Grenzen gegen jeden fremden Anfall zu schützen, sich selbst überlassen durch ihre ganze Denkart wenig geneigt, Kunde von den benachbarten Völkerschaften zu nehmen, in derselben Angelegenheiten sich zu mischen und durch Beunruhigungen sie zur Feindseligkeit aufzureizen. Im Verlaufe der Zeiten bewahrte sie ihr günstiges Geschick vor dem unmittelbaren Anteile am Raube der andern Welten; dieser Gegebenheit, durch welche vor allen andern die Weise der Fortentwicklung der neuern Weltgeschichte, die Schicksale der Völker und der größte Teil ihrer Begriffe und Meinungen begründet worden sind. Seit dieser Gegebenheit erst zerteilte sich das christliche Europa, das vorher, auch ohne sein eignes deutliches Bewußtsein, Eins gewesen war, und als solches in gemeinschaftlichen Unternehmungen sich gezeigt hatte, in mehrere abgesondert Teile; seit jener Gegebenheit erst war eine gemeinschaftliche Beute aufgestellt, nach der jeder auf die gleiche Weise begehrte, weil alle sie auf die gleiche Weise brauchen konnten, und die jeder mit Eifersucht in den Händen des Andern erblickte; erst nun war ein Grund vorhanden zu geheimer Feindschaft und Kriegslust aller gegen alle. Auch wurde es nun erst zum Gewinne für Völker, Völker auch anderer Abkunft und Sprachen durch Eroberung, oder, wenn dies nicht möglich wäre, durch Bündnisse sich einzuverleiben und ihre Kräfte sich zuzueignen. [...] So nun irgend einem Weisen, der Friede und Ruhe gewünscht hätte, über diese Lage der Dinge die Augen klar aufgegangen wären, wovon hätte derselbe Ruhe erwarten können? Offenbar nicht von der natürlichen Beschränkung der menschlichen Habsucht dadurch, daß das Überflüssige keinem nütze; denn eine Beute, wodurch alle versucht werden, war vorhanden, und eben so wenig hätte er sie erwarten können von dem sich selbst eine Grenze setzenden Willen; denn unter solchen, von denen jedweder alles an sich reißt, was er vermag, muß der sich selbst Beschränkende notwendig zu Grunde gehen. [...] Diese beiden Stücke demnach: einen Raub, auf den kein einziger einiges Recht habe, alle aber nach ihm die gleiche Begierde, sodann die allgemeine, immerfort tätig sich regende wirkliche Raubsucht, setzt jenes bekannte System eines Gleichgewichts der Macht in Europa voraus; und unter diesen Voraussetzungen würde dieses Gleichgewicht freilich das einzige Mittel sein die Ruhe zu erhalten, wenn nur erst das zweite Mittel gefunden wäre, jenes Gleichgewicht hervorzubringen und es aus einem leeren Gedanken in ein wirkliches Ding zu verwandeln.
Aber waren denn auch jene Voraussetzungen allgemein und ohne alle Ausnahme zu machen? War nicht im Mittelpunkte von Europa die übermächtige deutsche Nation rein geblieben von dieser Beute und von der Ansteckung mit der Lust darnach, und fast ohne Vermögen, Anspruch auf dieselbe zu machen? [...]
Es war dem nur den nächsten Augenblick berechnenden Eigennutze des Auslandes nicht gemäß, daß es also bliebe. Sie fanden die deutsche Tapferkeit brauchbar, um durch sie ihre Kriege zu führen, und die Hände derselben, um mit ihnen ihren Nebenbuhlern die Beute zu entreißen; es mußte ein Mittel gefunden werden, um diesen Zweck zu erreichen, und die ausländische Schlauheit siegte leicht über die deutsche Unbefangenheit und Verdachtlosigkeit. Das Ausland war es, welches zuerst der über Religionsstreitigkeiten entstandenen Entzweiung der Gemüter in Deutschland sich bediente, um diesen Inbegriff des gesamten christlichen Europa im Kleinen auf der innig verwachsenen Einheit eben so in abgesonderte und für sich bestehende Teile künstlich zu zertrennen, wie erst jenes, über einen gemeinsamen Raub, sich natürlich zertrennt hatte; das Ausland wußte diese also entstandenen besondern Staaten im Schoße der Einen Nation, die keinen Feind hatte, denn das Ausland selbst, und keine Angelegenheit, denn die gemeinsame, gegen die Verführungen und die Hinterlist dieses mit vereinigter Kraft sich zu setzen, – es wußte diese einander gegenseitig vorzustellen, als natürliche Feinde, gegen die jeder immerfort auf der Hut sein müsse, sich selbst dagegen darzustellen als die natürlichen Verbündeten gegen diese von den eignen Landsleuten drohende Gefahr; als die Verbündeten, mit denen allein sie selbst ständen oder fielen, und die sie daher gleichfalls in ihren Unternehmungen mit aller ihrer Macht unterstützen müßten. Nur durch dieses künstliche Bildungsmittel wurden alle Zwiste, die über irgend einen Gegenstand in der alten oder neuen Welt sich entspinnen mochten, zu eignen Zwisten der deutschen Stämme unter einander; jeder aus irgend einem Grunde entstandene Krieg mußte auf deutschem Boden und mit deutschem Blute ausgefochten werden, jede Verrückung des Gleichgewichts in derjenigen Nation, der der ganze Urquell dieser Verhältnisse fremd war, ausgeglichen werden [...]. [...]
Dies also ist der wahre Ursprung und die Bedeutung, dies der Erfolg für Deutschland und für die Welt von dem berüchtigten Lehrgebäude eines künstlich zu erhaltenden Gleichgewichts der Macht unter den europäischen Staaten. Wäre das christliche Europa Eins geblieben, wie es sollte und wie es ursprünglich war, so hätte man nie Veranlassung gehabt, einen solchen Gedanken zu erzeugen; das Eine ruht auf sich selbst und trägt sich selbst, und zerteilt sich nicht in streitende Kräfte, die mit einander in ein Gleichgewicht gebracht werden müßten; nur für das unrechtlich gewordene und zerteilte Europa erhielt jener Gedanke eine notdürftige Bedeutung. Zu diesem unrechtlich gewordenen und zerteilten Europa gehörte Deutschland nicht. Wäre nur wenigstens dieses Eins geblieben, so hätte es auf sich selbst geruht im Mittelpunkte der gebildeten Erde, so wie die Sonne im Mittelpunkte der Welt; es hätte sich in Ruhe erhalten und durch sich seine nächste Umgebung, und hätte, ohne alle künstliche Vorkehrung, durch sein bloßes natürliches Dasein, allem das Gleichgewicht gegeben. [...]
[...] Möchte es Sitte werden in unserer Nation, nicht bloß zum Scherze und gleichsam versuchend, was dabei herauskommen werde, zu denken, sondern also, als ob wahr sein solle und wirklich gelten im Leben, was wir denken: so wird es überflüssig werden, vor solchen Truggestalten einer ursprünglich ausländischen und die Deutschen bloß berückenden Staatsklugheit zu warnen.
Diese Gründlichkeit, Ernst und Gewicht unsrer Denkweise wird, wenn wir sie einmal besitzen, auch hervorbrechen in unserm Leben. Besiegt sind wir; ob wir nun zugleich auch verachtet und mit Recht verachtet sein wollen, ob wir zu allem andern Verluste auch noch die Ehre verlieren wollen, das wird noch immer von uns abhängen. Der Kampf mit den Waffen ist beschlossen; es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten, des Charakters.
[...] Es gibt nämlich Völker, welche, indem sie selbst ihre Eigentümlichkeit beibehalten und dieselbe geehrt wissen wollen, auch den andern Völkern die ihrigen zugestehen, und sie ihnen gönnen und verstatten: zu diesen gehören ohne Zweifel die Deutschen, und es ist dieser Zug in ihrem ganzen vergangenen und gegenwärtigen Weltleben so tief begründet, daß sie sehr oft, um gerecht zu sein sowohl gegen das gleichzeitige Ausland als gegen das Altertum, ungerecht gewesen sind gegen sich selbst. [...]
Tief verächtlich machen wir uns dem Auslande, wenn wir vor den Ohren desselben uns, einer dem andern, deutsche Stämme, Stände, Personen, über unser gemeinschaftliches Schicksal anklagen und einander gegenseitige bittere und leidenschaftliche Vorwürfe machen. Zuvörderst sind alle Anklagen dieser Art größtenteils unbillig, ungerecht, ungegründet. [...]
[...] Nicht sowohl die einzelnen Personen, die von ohngefähr auf den höchsten Plätzen sich befunden haben, sondern die Verbindung und Verwicklung des Ganzen: der ganze Geist der Zeit, die Irrtümer, die Unwissenheit, Seichtigkeit, Verzagtheit, und der von diesen unabtrennliche unsichere Schritt, die gesamten Sitten der Zeit sind es, die unsre Übel herbeigeführt haben; und so sind es denn weit weniger die Personen, welche gehandelt haben, denn die Plätze, und jedermann, und die heftigen Tadler selbst können mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie, an demselben Platze sich befindend, durch die Umgebungen ohngefähr zu demselben Ziele würden hingedrängt worden sein. Träume man weniger von überlegter Bosheit und Verrat! Unverstand und Trägheit reichen fast allenthalben aus, um die Gegebenheiten zu erklären; und dies ist eine Schuld, von der keiner ohne tiefe Selbstprüfung sich ganz lossprechen sollte [...]. [...]
14. Beschluß des Ganzen
Die Reden, welche ich hierdurch beschließe, haben freilich ihre laute Stimme zunächst an Sie gerichtet, aber sie haben im Auge gehabt die ganze deutsche Nation, und sie haben in ihrer Absicht alles, was, so weit die deutsche Zunge reicht, fähig wäre, dieselben zu verstehen, um sich herum versammelt, in den Raum, in dem Sie sichtbarlich atmen. Wäre es mir gelungen, in irgend eine Brust, die hier unter meinem Auge geschlagen hat, einen Funken zu werfen, der da fortglimme und das Leben ergreife, so ist es nicht meine Absicht, daß diese allein und einsam bleiben, sondern ich möchte, über den ganzen gemeinsamen Boden hinweg, ähnliche Gesinnungen und Entschlüsse zu ihnen sammeln und an die ihrigen anknüpfen, so daß über den vaterländischen Boden hinweg, bis an dessen ferneste Grenzen, aus diesem Mittelpunkte heraus eine einzige fortfließende und zusammenhängende Flamme vaterländischer Denkart sich verbreite und entzünde. Nicht zum Zeitvertreib müßiger Ohren und Augen haben sie sich diesem Zeitalter bestimmt, sondern ich will endlich einmal wissen, und jeder Gleichgesinnte soll es mit mir wissen, ob auch außer uns etwas ist, das unserer Denkart verwandt ist. Jeder Deutsche, der noch glaubt, Glied einer Nation zu sein, der groß und edel von ihr denkt, auf sie hofft, für sie wagt, duldet und trägt, soll endlich herausgerissen werden aus der Unsicherheit seines Glaubens; er soll klar sehen, ob er recht habe oder nur ein Tor oder Schwärmer sei, er soll von nun an, entweder mit sicherem und freudigem Bewußtsein seinen Weg fortsetzen, oder mit rüstiger Entschlossenheit Verzicht tun auf ein Vaterland hienieden, und sich allein mit dem himmlischen trösten. Ihnen, nicht als diesen und diesen Personen in unserm täglichen und beschränkten Leben, sondern als Stellvertretern der Nation, und hindurch durch Ihre Gehörswerkzeuge, der ganzen Nation rufen diese Reden also zu:
Es sind Jahrhunderte herabgesunken, seitdem ihr nicht also zusammenberufen worden seid, wie heute; in solcher Anzahl; in einer so großen, so dringenden, so gemeinschaftlichen Angelegenheit, so durchaus als Nation und Deutsche. [...] Geht nur diesesmal nicht von der Stelle, ohne einen festen Entschluß gefaßt zu haben; und jedweder, der diese Stimme vernimmt, fasse diesen Entschluß bei sich selbst und für sich selbst, gleich als ob er allein da sei, und alles allein tun müsse. Wenn recht viele einzeln so denken, so wird bald ein großes Ganzes dastehen, das in eine einige engverbundene Kraft zusammenfließe. Wenn dagegen jedweder, sich selbst ausschließend, auf die übrigen hofft, und den andern die Sache überläßt, so gibt es gar keine anderen, und alle zusammen bleiben, so wie sie vorher waren. – Fasset ihn auf der Stelle, diesen Entschluß. Saget nicht, laß uns noch ein wenig ruhen, noch ein wenig schlafen und träumen, bis etwa die Besserung von selber komme. Sie wird niemals von selbst kommen. Wer, nachdem er einmal das Gestern versäumt hat, das noch bequemer gewesen wäre zur Besinnung, selbst heute noch nicht wollen kann, der wird es morgen noch weniger können. Jeder Verzug macht uns nur noch träger, und wiegt uns nur noch tiefer ein in die freundliche Gewöhnung an unsern elenden Zustand. Auch können die äußern Antriebe zur Besinnung niemals stärker und dringender werden. Wen diese Gegenwart nicht aufregt, der hat sicher alles Gefühl verloren. – Ihr seid zusammenberufen, einen letzten und festen Entschluß und Beschluß zu fassen; keineswegs etwa zu einem Befehle, einem Auftrag, einer Anmutung an andere, sondern zu einer Anmutung an euch selber. Eine Entschließung sollt ihr fassen, die jedweder nur durch sich selbst und in seiner eigenen Person ausführen kann. Es reicht hierbei nicht hin jenes müßige Vorsatznehmen, jenes Wollen, irgend einmal zu wollen, jenes träge Sichbescheiden, daß man sich darein ergeben wolle, wenn man etwa einmal von selber besser würde; sondern es wird von euch gefordert ein solcher Entschluß, der zugleich unmittelbar Leben sei, und inwendige Tat, und der da ohne Wanken oder Erkältung fortdaure und fortwalte, bis er am Ziele sei.
Oder ist vielleicht in euch die Wurzel, aus der ein solcher in das Leben eingreifender Entschluß allein hervorwachsen kann, völlig ausgerottet und verschwunden? Ist wirklich und in der Tat euer ganzes Wesen verdünnet, und zerflossen zu einem hohlen Schatten, ohne Saft und Blut und eigene Bewegkraft; und zu einem Traume, in welchem zwar bunte Gesichter sich erzeugen und geschäftig einander durchkreuzen, der Leib aber todtähnlich und erstarrt daliegen bleibt? [...]
[...] Jetzt stehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen fremden Hüllen und Umhängen, bloß als das, was wir selbst sind. Jetzt muß es sich zeigen, was dieses Selbst ist, oder nicht ist.
Es dürfte Jemand unter euch hervortreten und mich fragen: was gibt gerade Dir, dem einzigen unter allen deutschen Männern und Schriftstellern, den besondern Auftrag, Beruf, und das Vorrecht uns zu versammeln und auf uns einzudringen? hätte nicht jeder unter den tausenden der Schriftsteller Deutschlands, eben dasselbe Recht dazu, wie du; von deren keiner es tut, sondern du allein dich hervordrängst? Ich antworte, daß allerdings jeder dasselbe Recht gehabt hätte, wie ich, und daß ich gerade darum es tue, weil keiner unter ihnen es vor mir getan hat; und daß ich schweigen würde, wenn ein anderer es früher getan hätte. Dies war der erste Schritt zu dem Ziele einer durchgreifenden Verbesserung; irgend einer mußte ihn tun. Ich war der, der es zuerst lebendig einsah; darum wurde ich der, der es zuerst tat. Es wird nach diesem irgend ein anderer Schritt der zweite sein; diesen zu tun haben jetzt alle dasselbe Rechte; wirklich tun aber wird ihn abermals nur ein einzelner. Einer muß immer der erste sein, und wer es sein kann, der sei es eben!
Ohne Sorge über diesen Umstand verweilet ein wenig mit eurem Blicke bei der Betrachtung, auf die wir schon früher euch geführt haben, in welchem beneidenswürdigen Zustande Deutschland sein würde, und in welchem die Welt, wenn das erstere das Glück seiner Lage zu benutzen, und seinen Vorteil zu erkennen gewußt hätte. Heftet darauf euer Auge auf das, was beide nunmehr sind; und lasset euch durchdringen von dem Schmerz und dem Unwillen, der jeden Edlen hierbei erfassen muß. Kehret dann zurück zu euch selbst, und sehet, daß ihr es seid, die die Zeit von den Irrtümern der Vorwelt lossprechen, von deren Augen sie den Nebel hinwegnehmen will, wenn ihr es zulaßt, daß es euch verliehen ist, wie keinem Geschlechte vor euch, das Geschehene ungeschehen zu machen, und den nicht ehrenvollen Zwischenraum auszutilgen aus dem Geschichtsbuche der Deutschen.
Lasset vor euch vorübergehen die verschieden Zustände, zwischen denen ihr eine Wahl zu treffen habt. Gehet ihr ferner so hin in eurer Dumpfheit und Achtlosigkeit, so erwarten euch zunächst alle Übel der Knechtschaft; Entbehrungen, Demütigungen, der Hohn und Übermut des Überwinders; ihr werdet herumgestoßen werden in allen Winkeln, weil ihr allenthalben nicht recht und im Wege seid, so lange, bis ihr durch Aufopferung eurer Nationalität und Sprache euch irgend ein untergeordnetes Plätzchen erkauft, und bis auf diese Weise allmählich euer Volk auslöscht. [...]
Es hängt von euch ab, ob ihr das Ende sein wollt und die letzten eines nicht achtungswürdigen und bei der Nachwelt gewiß sogar über die Gebühr verachteten Geschlechts, bei dessen Geschichte die Nachkommen, falls es nämlich in der Barbarei, die da beginnen wird, zu einer Geschichte kommen kann, sich freuen werden, wenn es mit ihnen zu Ende ist, und das Schicksal preisen werden, daß es gerecht sei; oder, ob ihr der Anfang sein wollt, und der Entwicklungspunkt einer neuen, über alle eure Vorstellungen herrlichen Zeit, und diejenigen, von denen an die Nachkommenschaft die Jahre ihres Heils zähle. Bedenket, daß ihr die letzten seid, in deren Gewalt diese große Veränderung steht. Ihr habt doch noch die Deutschen als Eins nennen hören, ihr habt ein sichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich und einen Reichsverband gesehen, oder davon vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören lassen, die von dieser höhern Vaterlandsliebe begeistert waren. Was nach euch kommt, wird sich an andere Vorstellungen gewöhnen, es wird fremde Formen und einen andern Geschäfts- und Lebensgang annehmen; und wie lange wird es noch dauern, daß keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen. oder von ihnen gehört habe?
[...] Ob aber jemals es uns wieder wohlgehen soll, dies hängt ganz allein von uns ab, und es wird sicherlich nie wieder irgend ein Wohlsein an uns kommen, wenn wir nicht selbst es uns verschaffen, und insbesondere, wenn nicht jeder einzelne unter uns in seiner Weise tut und wirket, als ob er allein sei, und als ob lediglich auf ihm das Heil der künftigen Geschlechter beruhe.
Dies ist's, was ihr zu tun habt; dies ohne Säumen zu tun, beschwören euch diese Reden.
Sie beschwören euch, Jünglinge. Ich, der ich schon seit geraumer Zeit aufgehört habe, zu euch zu gehören, halte dafür, und habe es auch in diesen Reden ausgesprochen, daß ihr noch fähiger seid eines jeglichen über das Gemeine hinausliegenden Gedankens und erregbarer für jedes Gute und Tüchtige, weil euer Alter noch näher liegt den Jahren der kindlichen Unschuld und der Natur. Ganz anders sieht diesen Grundzug an euch die Mehrheit der älteren Welt an. Diese klaget euch an der Anmaßung, des vorschnellen, vermessenen und eure Kräfte überfliegenden Urteils, der Rechthaberei, der Neuerungssucht. Jedoch lächelt sie nur gutmütig dieser eurer Fehler. Alles dieses, meint sie, sei begründet lediglich durch euren Mangel an Kenntniß der Welt, d. h. des allgemeinen menschlichen Verderbens, denn für etwas anders an der Welt haben sie nicht Augen. Jetzt nur, weil ihr gleichgesinnt Gehilfen zu finden hofftet und den grimmigen und hartnäckigen Widerstand, den man euren Entwürfen des Bessern entgegensetzen werde, nicht kenntet, hättet ihr Mut. Wenn nur das jugendliche Feuer eurer Einbildungskraft einmal verflogen sein werde, wenn ihr nur die allgemeine Selbstsucht, Trägheit und Arbeitsscheu wahrnehmen würdet, wenn ihr nur die Süßigkeit des Fortgehens in dem gewohnten Gleise selbst einmal recht würdet geschmeckt haben, so werde euch die Lust, besser und klüger sein zu wollen, denn die andern alle, schon vergehen. Sie greifen diese gute Hoffnung von euch nicht etwa aus der Luft; sie haben dieselbe an ihrer eigenen Person bestätigt gefunden. Sie müssen bekennen, daß sie in den Tagen ihrer unverständigen Jugend ebenso von Weltverbesserung geträumt haben, wie ihr jetzt; dennoch seien sie bei zunehmender Reife so zahm und ruhig geworden wie ihr sie jetzt sehet. Ich glaube ihnen; ich habe selbst schon in meiner nicht sehr langwierigen Erfahrung erlebt, daß Jünglinge, die erst andere Hoffnung erregten, dennoch späterhin jenen wohlmeinenden Erwartungen dieses reifen Alters vollkommen entsprachen. Tut dies nicht länger, Jünglinge, denn wie könnte sonst jemals ein besseres Geschlecht beginnen? Der Schmelz der Jugend zwar wird von euch abfallen, und die Flamme eurer Einbildungskraft wird aufhören, sich aus sich selber zu ernähren: aber fasset diese Flamme und verdichtet sie durch klares Denken, macht euch zu eigen die Kunst dieses Denkens, und ihr werdet die schönste Ausstattung des Menschen, den Charakter, noch zur Zugabe bekommen. An jenem klaren Denken erhaltet ihr die Quelle der ewigen Jugendblüte; wie auch euer Körper altere, oder eure Knie wanken, euer Geist wird in stets erneueter Frischheit sich wiedergebären, und euer Charakter feststehen und ohne Wandel. [...]
Diese Reden beschwören euch Alte. So wie ihr eben gehört habt, denkt man von euch, und sagt es euch unter die Augen; und der Redner setzt in seiner eigenen Person freimütig hinzu, daß, die freilich auch nicht selten vorkommenden und um so verehrungswürdigern Ausnahmen abgerechnet, in Absicht der großen Mehrheit unter euch man vollkommen recht hat. Gehe man durch die Geschichte der letzten zwei oder drei Jahrzehnte; alles außer ihr selbst stimmt überein, sogar ihr selbst, jeder in dem Fache, das ihn nicht unmittelbar trifft, stimmt mit überein, daß, immer die Ausnahmen abgerechnet und nur auf die Mehrheit gesehen, in allen Zweigen, in der Wissenschaft, so wie in den Geschäften des Lebens, die größere Untauglichkeit und Selbstsucht sich bei dem höheren Alter gefunden habe. Die ganze Mitwelt hat es mit angesehen, daß jeder, der das Bessere und Vollkommenere wollte, außer dem Kampfe mit seiner eigenen Unklarheit und den übrigen Umgebungen, noch den schwersten Kampf mit euch zu führen hatte; daß ihr des festen Vorsatzes waret, es müsse nichts aufkommen, was ihr nicht ebenso gemacht und gewußt hättet; daß ihr jede Regung des Denkens für eine Beschimpfung eures Verstandes ansahet; und daß ihr keine Kraft ungebraucht ließet, um in dieser Bekämpfung des Bessern zu siegen; wie ihr denn gewöhnlich auch wirklich siegtet. So waret ihr die aufhaltende Kraft aller Verbesserungen, welche die gütige Natur aus ihrem stets jugendlichen Schoße uns darbot, so lange, bis ihr versammelt wurdet zu dem Staube, der ihr schon vorher waret, und das folgende Geschlecht, im Kriege mit euch, euch gleich geworden war und eure bisherige Verrichtung übernahm. [...]
Euch Alte sonach und Erfahrene, die ihr die Ausnahme macht, euch zuvörderst beschwören diese Reden, bestätigt, bestärkt, beratet in dieser Angelegenheit die jüngere Welt, die ehrfurchtsvoll ihre Blicke nach euch richtet. Euch andere aber, die ihr in der Regel seid, beschwören sie: helfen sollt ihr nicht, störet nur dieses einzige Mal nicht, stellt euch nicht wieder, wie bisher immer, in den Weg mit eurer Weisheit und euren tausend Bedenklichkeiten. [...] Wenn eure Weisheit retten könnte, so würde sie uns ja früher gerettet haben, denn ihr seid es ja, die uns bisher beraten haben. Dies ist nun, so wie alles andere, vergeben, und soll euch nicht weiter vorgerückt werden. Lernt nur endlich einmal euch selbst erkennen, und schweiget. [...]
Diese Reden beschwören euch Denker, Gelehrte und Schriftsteller, die ihr dieses Namens noch wert seid. [...] Ihr ginget oft zu unbesorgt in dem Gebiete des bloßen Denkens fort, ohne euch um die wirkliche Welt zu bekümmern und nachzusehen, wie jenes an diese angeknüpft werden könne; ihr beschriebet euch eure eigene Welt, und ließet die wirkliche zu verachtet und verschmähet auf der Seite liegen. [...] Zwischen dem Begriffe jedoch, und der Einführung desselben in jedwedes besondere Leben, liegt eine große Kluft. Diese Kluft auszufüllen ist sowol das Werk des Geschäftsmannes, der freilich schon vorher so viel gelernt haben soll, um euch zu verstehen, als auch das eurige, die ihr über der Gedankenwelt das Leben nicht vergessen sollt. Hier trefft ihr beide zusammen. Statt über die Kluft hinüber einander scheel anzusehen und herabzuwürdigen, beeifere sich vielmehr jeder Teil von seiner Seite dieselbe auszufüllen, und so den Weg zur Vereinigung zu bahnen. Begreift es doch endlich, daß ihr Beide untereinander euch also notwendig seid, wie Kopf und Arm sich notwendig sind. [...]
Diese Reden beschwören euch Fürsten Deutschlands. Diejenigen, die euch gegenüber so tun, als ob man euch gar nichts sagen dürfte, oder zu sagen hätte, sind verächtliche Schmeichler, sie sind arge Verleumder eurer selbst; weiset sie weit weg von euch. Die Wahrheit ist, daß ihr eben so unwissend geboren werdet, als wir andern alle, und daß ihr hören müßt und lernen, gleich wie auch wir, wenn ihr herauskommen sollt aus dieser natürlichen Unwissenheit. Euer Anteil an der Herbeiführung des Schicksals, das euch zugleich mit euren Völkern betroffen hat, ist hier auf die mildeste, und wie wir glauben, auf die allein gerechte und billige Weise dargelegt worden, und ihr könnt euch, falls ihr nicht etwa nur Schmeichelei, niemals aber Wahrheit hören wollt, über diese Reden nicht beklagen. Dies alles sei vergessen, so wie wir andern alle auch wünschen, daß unser Anteil an der Schuld vergessen werde. Jetzt beginnt, so wie für uns alle, also auch für euch, ein neues Leben. [...]
Euch Deutsche insgesamt, welchen Platz in der Gesellschaft ihr einnehmen möget, beschwören diese Reden, daß jeder unter euch, der da denken kann, zuvörderst denke über den angeregten Gegenstand, und daß jeder dafür tue, was gerade ihm an seinem Platze am nächsten liegt.
Es vereinigen sich mit diesen Reden und beschwören euch eure Vorfahren. Denket, daß in meine Stimme sich mischen die Stimmen eurer Ahnen aus der grauen Vorwelt, die mit ihren Leibern sich entgegen gestemmt haben der heranströmenden römischen Weltherrschaft, die mit ihrem Blute erkämpft haben die Unabhängigkeit der Berge, Ebenen und Ströme, welche unter euch den Fremden zur Beute geworden sind. Sie rufen euch zu: vertretet uns, überliefert unser Andenken eben so ehrenvoll und unbescholten der Nachwelt, wie es auf euch gekommen ist, und wie ihr euch dessen und der Abstammung von uns, gerühmt habt. [...] Auch sollt ihr nun, nachdem einmal die Sachen also stehen, sie nicht besiegen mit leiblichen Waffen; nur euer Geist soll sich ihnen gegenüber erheben und aufrecht stehen. Euch ist das größere Geschick zuteil worden, überhaupt das Reich des Geistes und der Vernunft zu begründen, und die rohe körperliche Gewalt insgesamt, als beherrschendes der Welt, zu vernichten. Werdet ihr dies tun, dann seid ihr würdig der Abkunft von uns.
Auch mischen in diese Stimmen sich die Geister eurer spätern Vorfahren, die da fielen im heiligen Kampfe für Religions- und Glaubensfreiheit. Rettet auch unsere Ehre, rufen sie euch zu. Uns war nicht ganz klar, wofür wir stritten; außer dem rechtmäßigen Entschlusse, in Sachen des Gewissens durch äußere Gewalt uns nicht gebieten zu lassen, trieb uns noch ein höherer Geist, der uns niemals sich ganz enthüllte. Euch ist er enthüllt, dieser Geist, falls ihr eine Sehkraft habt für die Geisterwelt, und blickt euch an mit hohen klaren Augen. Das bunte und verworrene Gemisch der sinnlichen und geistigen Antriebe durch einander soll überhaupt der Weltherrschaft entsetzt werden, und der Geist allein, rein und ausgezogen von allen sinnlichen Antrieben, soll an das Ruder der menschlichen Angelegenheiten treten. Damit diesem Geiste die Freiheit werde, sich zu entwickeln und zu einem selbstständigen Dasein emporzuwachsen, dafür floß unser Blut. An euch ist's, diesem Opfer seine Bedeutung und seine Rechtfertigung zu geben, indem ihr diesen Geist einsetzt in die ihm bestimmte Weltherrschaft. [...]
Es beschwören euch eure noch ungeborne Nachkommen. Ihr rühmt euch eurer Vorfahren, rufen sie euch zu, und schließt mit Stolz euch an an eine edle Reihe. Sorget, daß bei euch die Kette nicht abreiße; machet, daß auch wir uns eurer rühmen können, und durch euch, als untadeliges Mittelglied hindurch, uns anschließen an dieselbe glorreiche Reihe. Veranlasset nicht, daß wir uns der Abkunft von euch schämen müssen, als einer niedern, barbarischen, sklavischen, daß wir unsere Abstammung verbergen oder einen fremden Namen und eine fremde Abkunft erlügen müssen, um nicht sogleich, ohne weitere Prüfung, weggeworfen und zertreten zu werden. [...]
Es beschwöret euch selbst das Ausland, inwiefern dasselbe nur noch im mindesten sich selbst versteht, und noch ein Auge hat für seinen wahren Vorteil. Ja, es gibt noch unter allen Völkern Gemüter, die noch immer nicht glauben können, daß die großen Verheißungen eines Reichs des Rechts, der Vernunft und der Wahrheit an das Menschengeschlecht, eitel und ein leeres Trugbild seien, und die daher annehmen, daß die gegenwärtige eiserne Zeit nur ein Durchgang sei zu einem bessern Zustande. Diese, und in ihnen die gesamte neuere Menschheit, rechnet auf euch. Ein großer Teil derselben stammt ab von uns, die übrigen haben von uns Religion und jedwede Bildung erhalten. Jene beschwören uns bei dem gemeinsamen vaterländischen Boden, auch ihrer Wiege, den sie uns frei hinterlassen haben; diese bei der Bildung, die sie von uns, als Unterpfand eines höhern Glücks bekommen haben, – uns selbst auch für sie, und um ihrer willen zu erhalten, so wie wir immer gewesen sind, aus dem Zusammenhange des neu entsprossenen Geschlechts nicht dieses ihm so wichtige Glied herausreißen zu lassen, damit, wenn sie einst unsers Rates, unsers Beispiels, unsrer Mitwirkung gegen das wahre Ziel des Erdenlebens hin bedürfen, sie uns nicht schmerzlich vermissen.
Alle Zeitalter, alle Weise und Gute, die jemals auf dieser Erde geatmet haben, alle ihre Gedanken und Ahnungen eines Höhern, mischen sich in diese Stimmen und umringen euch und heben flehende Hände zu euch auf; selbst, wenn man so sagen darf, die Vorsehung und der göttliche Weltplan bei Erschaffung eines Menschengeschlechts, der ja nur da ist, um von Menschen gedacht, und durch Menschen in die Wirklichkeit eingeführt zu werden, beschwöret euch, seine Ehre und sein Dasein zu retten. Ob jene, die da glaubten es müsse immer besser werden mit der Menschheit, und die Gedanken einer Ordnung und einer Würde derselben seien keine leeren Träume, sondern die Weissagung und das Unterpfand der einstigen Wirklichkeit, recht behalten sollen, oder diejenigen, die in ihrem Tier- und Pflanzenleben hinschlummern und jedes Ausfluges in höhere Welten spotten: – darüber ein letztes Endurteil zu begründen, ist euch anheimgefallen. [...]