Sören Kierkegaard: Die Reinheit des Herzens

Sören Kierkegaard: Die Reinheit des Herzens. Aus dem Dänischen übersetzt von Lina Geismar. Christian Kaiser Verlag München, 1924. Überschriften H.N.


Inhalt:
Die Reinheit des Herzens: Eines zu wollen
Aller Zwiespältigkeit entsagen
Alles für das Gute tun und leiden wollen
Die Ewigkeit und der Einzelne

Die Reinheit des Herzens: Eines zu wollen

[...] Vater im Himmel! Was ist doch ein Mensch ohne dich! Wie ist alles, was er weiß, wäre es auch die Menge der Mannigfaltigkeit, nur ein Bruchstück, wenn er dich nicht kennt; wie ist all sein Streben, wäre es auch weltumspannend, nur eine halbfertige Arbeit, wenn er dich nicht kennt, dich, den Einen, der Eines ist und Alles! So gib du dem Verstande Weisheit, das Eine zu fassen, dem Herzen Aufrichtigkeit, das Verstandene anzunehmen, dem Willen Reinheit, nur Eines zu wollen; gibt du in guten Tagen Beharrlichkeit, nur Eines zu wollen; in Zerstreuungen Sammlung, nur Eines zu wollen; in Leiden Geduld, nur Eines zu wollen. O du, der du beides gibst, das Anfangen und das Vollenden, gib zeitig, wenn der Tag graut, dem Jüngling den Entschluß, nur Eines zu wollen; wenn der Tag sich neigt, gib du dem Greise ein erneutes Gedenken an den ersten Entschluß, daß das Letzte wie das Erste und das Erste wie das Letzte sein möge, das Leben dessen, der nur Eines wollte. Ach, aber es ist ja nicht so; es kam ja etwas dazwischen, die Sünde hat sich trennend dazwischen gelegt, tagtäglich kommt etwas dazwischen: die Verzögerung, der Stillstand, die Unterbrechung, die Verirrung, das Verderben. So gib du in der Reue Freimütigkeit, wieder Eines zu wollen. [...] [17]

Über der Wanderung eines jeden Menschen durch das Leben wacht eine Vorsehung, die jedem zwei Führer mitgibt: der eine ruft vorwärts, der andere zurück. Doch stehen sie nicht im Widerspruch zueinander, die beiden Führer, sie lassen den Wanderer auch nicht in Ratlosigkeit stehen, unschlüssig, weil der Ruf von zwei Seiten kommt; im Gegenteil, die beiden sind ewig mit einander einverstanden, denn der eine ruft vorwärts zum Guten, der andere zurück von dem Bösen. sie sind auch nicht blinde Führer, darum sind sie eben zwei; denn um die Wanderung zu schützen, muß sowohl vorwärts wie rückwärts gesehen werden. [19] [...]

Die beiden Führer rufen den Menschen früh und spät, und doch nein, wenn die Reue einen Menschen ruft, ist es immer spät. Der Ruf, den Weg wiederzufinden, Gott im Bekenntnis der Sünden zu suchen, ergeht immer in der elften Stunde; ob du jung oder alt bist, ob du viel oder wenig verbrochen hast, ob du viel verschuldet hast oder viel unterlassen: Die Schuld macht, daß dieser Ruf in der elften Stunde kommt: die Innerlichkeit in der Bekümmerung erfaßt, was die Reue einschärft, daß es in der elften Stunde ist. Denn weltlich verstanden ist das Greisenalter die elfte Stunde, und der Augenblick des Todes der letzte in der elften Stunde; der träge Jüngling spricht von einem langen Leben, das vor ihm liegen soll, der träge Alte hofft, daß es noch lange dauert, ehe der Tod kommt – die Reue aber hat mit dem Ewigen im Menschen zu tun, und so versteht die Reue, jedesmal, wenn sie die Schuld versteht, daß es in der elften Stunde ist, – jene Stunde, die die menschliche Trägheit [20] sehr wohl vorhanden und im Kommen weiß, wenn im allgemeinen von ihr die Rede ist, aber nicht wenn es den Trägen selbst angeht; denn sogar der Greis glaubt, daß es noch Zeit hat [...]. [...]

Wenn die Reue in Bekümmernis erwacht, es sei in dem Jüngling oder in dem Greise, sie erwacht immer in der elften Stunde. Ihr steht nicht viel Zeit zur Verfügung, denn es ist ja um die elfte Stunde; sie betrügt nicht mit der falschen Vorstellung eines langen Lebens, denn es ist ja um die elfte Stunde. [...] [30]

Unwissend darüber sein, daß Eines, ja nur Eines nötig ist, das ist noch im Selbstbetruge sein. [...] Der Unwissende kann nach und nach Weisheit und Kenntnisse erwerben; aber der Selbstbetrogene, wenn er das Eine gewönne, was not ist, so gewönne er Reinheit des Herzens.

Laßt uns dann anläßlich einer Beichte über den Spruch reden:
Die Reinheit des Herzens ist Eines zu wollen,
indem wir der Betrachtung die Worte des Apostels Jakobus im 4. Kapitel seines Briefes, Vers 8, zugrunde legen:

Nahet Euch zu Gott, so nahet er sich zu Euch! Reinigt die Hände, Ihr Sünder, und machet Eure Herzen keusch, Ihr Zwiespältigen, denn nur die reinen Herzens sind, können Gott sehen und sich also ihm nahen und die Reinheit dadurch bewahren, daß er sich ihnen nahet; und wer in Wahrheit nur Eines will, der kann nur das Gute wollen [...].

Eines wollen ist: das Gute wollen

I. Soll es möglich sein, daß ein Mensch Eines wollen kann, dann muß er das Gute wollen.

[...] [31] Mit dem nur Eines zu wollen, ist es nämlich nicht so: Einer will Eines, aber was er will, ist nicht das Gute [...]. [32] Nein, so ist es nicht. Wer Eines will, was nicht das Gute ist, er will eigentlich nicht Eines: eine Täuschung, ein Schein, ein Betrug, ein Selbstbetrug ist es, daß er nur Eines will; denn in seinem Innersten ist er, muß er zwiespältig sein. Darum sagt der Apostel: „reinigt die Herzen, ihr Zwiespältigen,“ das heißt, reinigt die Herzen von der Zwiespältigkeit, d.h. laß in Wahrheit dein Herz nur Eines wollen, denn darin ist die Reinheit des Herzens. [...]

Denn es gab wohl den in der Welt, der nur Eines zu wollen schien, er brauchte es auch nicht zu versichern; selbst wenn er es verschwiegen hätte; es gab sprechende Zeugnisse genug gehen ihn, [33] wie er unmenschlich sein Gemüt verhärtete, wie nichts ihn rührte, nicht die Zärtlichkeit, nicht die Unschuld, nicht das Elend, wie seine verblendete Seele für nichts Auge hatte und sein Sinn nur für das Eine, das er wollte, Auge hatte. [...] Veränderung war das, wonach er rief, als die Lust ihm diente, Veränderung, Veränderung; und Veränderung war das, wonach er rief, als er zu den Grenzen der Lust gekommen war, als die Diener erschöpft waren. Veränderung, Veränderung! Freilich, es gibt ja auch Veränderungen im Leben, die den Menschen erfahren lassen können, ob er nur Eines will. Es gibt die Veränderung der [34] Vergänglichkeit, wenn der Wollüstling abtreten muß, wenn der Tanz und der sinnverwirrende Lärm vorbei sind, wenn alles im Ernste still wird. Es gibt die Veränderung des Todes; [...] der Tod vergißt sich nicht selbst, dem Tode entschlüpft er nicht, der hat Macht über das, was der Welt angehört, der verändert jenes Eine, das der Wollüstige allein wollte, zum Nichts. Endlich gibt es die Veränderung der Ewigkeit, sie verändert alles – so daß nur das Gute bleibt und der selige Besitz dessen wird, der nur Eines wollte. [...] [35]

Das Weltliche ist nämlich in seinem Wesen nicht Eines, da es das Unwesentliche ist; dessen sogenannte Einheit ist keine wesentliche, sondern eine Leere, die sich unter der Mannigfaltigkeit birgt. [...] [41]

Soll dagegen ein Mensch in Wahrheit nur Eines wollen, dann muß dieses Eine in der Wahrheit seines innersten Wesens Eines sein; durch ewige Trennung muß es das Ungleichartige von sich entfernen, so daß es in Wahrheit Eines und dasselbe bleiben kann und dadurch den sich selbst ähnlich bilden, der nur dieses Eine will.

In Wahrheit Eines zu wollen, kann somit nur bedeuten, das Gute wollen, da jedes andere Eine nicht eine Einheit ist, und der Wollende, der nur jenes will, darum zwiespältig werden muß; denn wie das Begehrte ist, so wird auch der Begehrende. [...] [43]

Das Gute um des Lohnes willen

II. Soll ein Mensch wirklich in Wahrheit Eines wollen, dann muß er das Gute in Wahrheit wollen.

A. Soll ein Mensch das Gute in Wahrheit wollen, dann muß er sich selbst darin verstehen, daß er jeder Zwiespältigkeit entsagen will. [...] [44]

1. Zuerst muß nun gesagt werden [...], daß, wer das Gute um des Lohnes willen will, der will nicht Eines, sondern ist zwiespältig.

Das Gute ist Eins, der Lohn ein Anderes, er kann kommen und er kann fortbleiben, bis aufs Weitere, und bis aufs Letzte. Wenn er dann das Gute um des Lohnes willen will, dann will er nicht Eines, sondern ein Doppeltes. [...] [47]

Denn daß das Gute seinen Lohn in sich selbst trägt, ja das ist ewig gewiß, nichts ist so gewiß, es ist nicht gewisser, daß ein Gott existiert, denn das ist ein und dasselbe; hier im Leben aber wird das Gute oft nur vorläufig belohnt, mit Undankbarkeit, mit Verkennen, mit Armut, mit Verachtung, mit vielen Leiden, ja bisweilen mit dem Tode. [...] [51]

Da war vielleicht Einer, der in Wahrheit das Gute in Aufrichtigkeit wollte; demütig vor Gott, durch seine Begeisterung getrieben verstand er froh, wenn die Menschen und die Welt ihm entgegenarbeiteten, er verstand froh, daß dies der Lohn sei, stark in Gott, sich nur durch sein Vertrauen stärkend, wünschte er beinahe nie anders von der Welt belohnt zu werden. Da aber wurde er müde, er griff nach dem Lohn im engeren Verstande und nach dem leichteren Verständnis des Lohnes; denn je näher das Verständnis bei dem Mißverständnis liegt, desto leichter ist es im allgemeinen. er konnte es nicht aushalten mit dem Ewigen, er konnte nicht den Widerstand der Welt und der Menschen aushalten; darum forderte er erst den Lohn in dem Verstande, daß doch eine Übereinkunft zwischen dem Guten und der Welt statthaben sollte; zuletzt forderte er den Lohn allein; auf die Weise ging es zurück mit ihm. [...]

Oder er begann nicht so hoch, aber doch damit das Gute zu wollen, ohne Kenntnis der Welt; ohne in Innerlichkeit durch die Vorstellung der Möglichkeit dessen, was einem Menschen widerfahren kann, [52] gebildet zu sein, hoffte er fromm darauf, daß dem Guten sein Lohn nicht mangeln werde, was im Verstande der Ewigkeit ewig wahr und heilige Wahrheit ist, im Verstande der Zeitlichkeit aber das Ungewisse und verfängliche Klugheit ist. [...] Somit nahm ihn das Leben in eine strenge Schule; er hielt jedoch stand, er setzte seine Ansprüche herab, er wollte nicht das Gute betrügen. Ach, es war, als wollte auch das nicht helfen; er glaubte in dem Guten einen Anspruch an das Leben zu haben; nun schien es ihm, als wäre es das Gute, das nur Ansprüche an ihn habe. Dann begann sein Mut zu kranken, er sah um sich, wie so viele andere den Lohn an sich rissen, der Versucher fing an, ihn durch Kleinmut zu ängstigen, warum er nicht wie die anderen sein wolle, warum er nach der Ungewißheit der Einbildung jagen wolle, anstatt nach dem Sicheren zu greifen. Da wurde sein Sinn verändert, es ging ihm im Leben, wie es dem besseren Schüler in der Schule gehen würde, wenn kein Lehrer da wäre: die mittelmäßigen würden die Übermacht bekommen und Macht, die besseren zu verderben, weil der gute Schüler keinen Lehrer hätte, bei dem er Zuflucht suchen könnte. Im Leben aber ist kein Lehrer sichtbar, der den guten Schüler aufmuntert, denn wir sind ja alle Schüler; soll der gute Schüler aushalten, dann muß er die Aufmunterung in sich selbst finden. Doch er fand sie nicht, sein Mut war gebrochen; vielleicht fand er auch nicht, was er nun in der Welt suchte, und somit brach er zusammen, er, der Betrogne, den die Welt um den Lohn betrog, als er das Gute wollte, und den doch die Welt am schrecklichsten betrog, da sie ihn dazu brachte, das Gute aufzugeben.

Das Gute aus Furcht vor Strafe

2. Sodann muß gesagt werden, daß wer das Gute nur aus Furcht vor der Strafe will, nicht Eines will; er ist zwiespältig.

Das Gute nur aus Furcht vor der Strafe wollen, ist eine [53] andre Seite der Lohnsucht, wesentlich darum dasselbe als das Gute um des Lohnes willen wollen, insofern als dem Bösen zu entgehen ein Gewinn derselben Art ist wie der einen Vorteil zu erreichen. Das Gute ist Eins, die Strafe etwas anderes; der Zwiespältige will also nicht Eines, wenn er das Gute nur unter der Bedingung will, dadurch der Strafe zu entgehen. Die Bedingung bezeichnet eben die Zwiespältigkeit; wäre diese nicht da, würde er auch nicht bloß die Strafe fürchten; denn die Strafe ist doch wohl nicht das, was ein Mensch fürchten soll. Er soll sich fürchten, schlecht zu handeln; hat er aber schlecht gehandelt, dann muß er, wenn er wirklich Eines will und das Gute in Wahrheit will, sogar wünschen, gestraft zu werden, daß die Strafe ihn heilen könne, geradeso wie die Arznei den Kranken. [...] [54]

Geistig verstanden gibt es eine verderbliche Krankheit, die: nicht zu fürchten, was ein Mensch fürchten soll: die Heiligkeit der Scham, Gott im Himmel, den Befehl der Pflicht, die Stimme des Gewissens, die Verantwortung der Ewigkeit. Um sich vor dieser Krankheit zu sichern oder sich von ihr zu befreien, ist es einem Menschen nützlich, daß er sich selbst straft [...], noch nützlicher, daß er gestraft wird, daß die Strafe ihn wach und nüchtern hält [...]. Dann aber gibt es geistig verstanden eine andere noch verderblichere Krankheit, nämlich zu fürchten, was ein Mensch nicht fürchten soll und nicht fürchten darf. Die erste Krankheit ist Trotz, Widersetzlichkeit und Eigensinn; die andere ist Feigheit und Sklavensinn und Heuchelei. [...] [59]

Wenn bei der Strafe an die Strafe der Ewigkeit gedacht wurde, lag die Täuschung nahe, daß es nicht Zwiespältigkeit sei, das Gute nur aus Furcht vor der Strafe zu wollen. Es ist aber doch Zwiespältigkeit, auch wenn es ein besserer Mensch ist, der unter der Qual der Furcht eine gewisse mühsame Unsträflichkeit aus Furcht vor der Strafe bewahrt: er ist doch zwiespältig. Er tut beständig, was er eigentlich nicht will, oder woran er doch keine Freude hat [...]. Auch führt er die Strafe nicht zu Gott und zu dem Guten hin; in seiner Vorstellung ist im Gegenteil das Gute Eines, die Strafe etwas anderes. [...] Wer aber das Gute in [60] Wahrheit will, der versteht, daß die Strafe nur „um der Sünden willen“ da ist; fromm versteht er, daß die Strafe, wie alles andere, das dem widerfährt, der Gott liebt, eine Handreichung ist. Der Zwiespältige scheut die Strafe, wie ein Leiden, wie ein Unglück, wie etwas Böses, und dadurch reißt er sich und sein Verständnis der Strafe und die Strafe ganz von dem Guten los. [...] [61]

Doch seltener denkt die Zwiespältigkeit vielleicht an die Strafe der Ewigkeit; öfter wird die gefürchtete Strafe im irdischen und zeitlichen Sinne verstanden. Wer das Gute nur aus Furcht vor dieser Strafe will, von dem muß mit besonderem Nachdruck gesagt werden, er fürchtet, was ein Mensch nicht fürchten soll und darf: Verlust des Geldes, Verlust des Ansehens, Verkennung, das Urteil der Welt, den Spott der Toren, das Lachen des Leichtsinns, das feige Winseln der Rücksicht, des Augenblickes aufgeblasene Kleinlichkeit, die gaukelnden Nebelbilder des Dunstes; [...] fürchtet, was ein Mensch nicht fürchten soll, das fürchtet, was Macht hat zu kränken, zu mißhandeln, zu verderben, den Leib zu töten, was aber keine Macht über die Seele hat, wenn er sie nicht durch die Furcht bekommt. [...]

Ja, es gibt eine Scheu, die zum Guten ist, wehe dem Menschen, der sie wegwirft; sie ist ein rettender Begleiter durchs Leben, wehe dem Menschen, der sich mit ihr entzweit; sie steht im Dienste der Heiligung und der wahren Freiheit, wehe dem Menschen, der an ihr sich ärgert, als wäre sie ein Zwang! [...] [62]

Jene Scheu meint es besser mit ihm als der beste Freund, sie wird ihm besser helfen als die Teilnahme aller Menschen, die leicht zu Zwiespältigkeit führt und nicht dazu, Eines zu wollen. [...] Jeder, der sich nicht mehr schämt vor sich selbst als vor anderen, wird doch, wenn er in eine schwierige Lage kommt und im Leben viel geprüft wird, auf die eine oder andere Weise schließlich Sklave der Menschen werden. Sich vor anderen mehr als vor sich selbst schämen, was ist das anders als sich mehr davor schämen, wie man scheint, als davor, wie man ist? Und umgekehrt soll ein Mensch sich ja mehr davor schämen, wie er ist, als wie er scheint; sonst kann er nicht in Wahrheit Eines wollen, da er bei der werbenden Rücksicht auf das Scheinen nur nach dem wechselnden Schein und dessen Abglanz in der Gunst der Menschen trachtet. [...] [69]

Bisweilen spricht man darüber: „daß man Strafe leidet, wenn man das Gute tut“; wie ist das doch möglich, von wem sollte diese Strafe kommen? Doch wohl nicht von Gott! Also von der Welt – wenn sie sich in ihrer Weisheit irrt, das Schlechte belohnt und das Gute straft. Und doch ist es nicht so, wie das Wort sagt, das Wort meint nicht, was [69] es sagt, es ist uneigentlich gesprochen. Das Wort Welt lärmt allerdings groß und fürchterlich; und doch muß sie demselben Gesetz gehorchen wie der unbedeutendste und armseligste Mensch. Ob aber auch die Welt all ihre Macht sammelte, eines vermag sie nicht, sie vermag nicht einen Unschuldigen zu strafen, ebensowenig wie sie einen Toten töten kann. [...] Wie wunderbar, hier ist eine Grenze, eine Grenze, die unsichtbar wie eine Linie sinnlich leicht übersehbar ist, die aber Kräfte der Ewigkeit hat, um damit zurückzuhalten. [...] Vielleicht ist sie vor den Augen der Welt ganz verborgen; denn auch, daß das Unrecht das Aussehen der Strafe annimmt – in den Augen der Welt, kann mit zu den Leiden des Unschuldigen gehören; aber trotzdem ist die Grenze da, und zwar die stärkste. Und ob auch die ganze Welt in Aufruhr raste und ob alles verworren wäre: die Grenze ist doch da, und auf ihrer einen Seite, bei dem Unschuldigen das Recht, und auf der anderen Seite, der Welt zugekehrt: die ewige Unmöglichkeit, einen Unschuldigen zu strafen. [...] [70].

In Ungeduld das Guten wollen

3. Fernerhin muß gesagt werden, wer im Eigensinn das Gute will, dessen Sieg will, daß er nicht Eines will, daß er zwiespältig ist. [...] Nicht um des Lohnes willen will er das Gute, er will, daß das Gute siegen will, aber er will, daß es durch ihn siegen soll, daß er das Werkzeug sein soll, der Auserwählte. [...] [71]

Für diesen Zwiespältigen ist also das Gute eines, dessen Sieg etwas anderes, oder doch wohl der Sieg durch ihn etwas anderes. Nun ist es zwar so, daß das Gute in der Ewigkeit immer gesiegt hat, in der Zeit aber ist es anders, in der Zeit braucht es lange Zeit, der Sieg ist langsam, seine Unsicherheit ist ein langsames Längenmaß, oft, oft verging das Leben eines treuen Knechts; und es war am Ende, als hätte er nichts für das Gute ausgerichtet. Und doch war er der treue Knecht, der das Gute in Wahrheit wollte, und er wurde auch von dem Guten, das Gehorsam lieber hat als „das Fett von Widdern“, geliebt.

„Ach, warum entstand die Zeit; falls das Gute ewig und immer gesiegt hat, warum soll es sich langsam durch die Länge der Zeit schleppen oder beinahe in der Langsamkeit der Zeit umkommen, warum soll es sich mühsam durchschlagen durch das, was die Zeit am längsten macht, nämlich Ungewißheit! Warum sollen die einzelnen, die in Wahrheit das Gute wollen, so verstreut, so getrennt sein, daß sie kaum einander anrufen, kaum einander wahrnehmen können; warum soll die Zeit mit Schwere auf ihnen lasten, warum soll die Trennung Verzögerung zwischen sie bringen, wenn es in der Ewigkeit so schnell geht; warum ist ein unsterblicher Geist in die Welt und die Zeit gesetzt, ebenso wie wenn der Fisch aus dem Wasser gezogen wird und auf das Ufer geworfen?“

Wer fragend so spricht [...], der hüte sich [72] selbst, denn er weiß kaum, aus welchem Geist heraus er spricht. Ach, die Menschen verwechseln oft genug Ungeduld mit der demütigen gehorsamen Begeisterung; der Ungeduldige selbst ist nur allzu geneigt zu dieser Verwechselung. wenn ein Mensch von früh bis spät in Bewegung ist „um des Guten willen“, geräuschvoll und lärmend, eitel Unruhe ist, sich umherwirft in der Zeit, ebenso wie der Kranke auf dem Lage, alle Rücksicht wegwirft wie der Kranke die Kleider, den Lohn der Welt verachtet, unter den Menschen Platz macht: da meinen viele, was er sich selbst einbildet, daß er begeistert ist. Und doch ist er nichts weniger als das, da er zwiespältig ist, und Zwiespältigkeit gleicht der Begeisterung nicht mehr als der Wirbelwind der Dauer des anhaltenden Windes gleicht. [...]

Zwiespältig ist er, er, der mit seiner Begeisterung ein Apostel werden zu können scheint, aber ebenso gut ein Judas werden kann, der verräterisch den Sieg des Guten beschleunigen will. Ärgernis nahm er daran, er, der das Gute in seiner Begeisterung so hoch zu lieben scheint, er nahm Ärgernis an dessen Niedrigkeit, wenn es in die Langsamkeit der Zeit eingekleidet ist. Er ist dem Guten nicht wie ein unnützer Knecht ergeben, er braust nur auf. [...] [73]

Er will sich nicht begnügen mit der seligen, über alle Maßen tröstenden Gewißheit: daß das Gute in der Ewigkeit immer gesiegt hat, mit der seligen Gewißheit, die eine Gewißheit des Besitzes ist höher als aller Verstand, der seligen Gewißheit, die der unnütze Knecht jeden Moment bei sich haben kann, auch wenn die Zeit am längsten ist und er am wenigsten auszurichten scheint [...].

Der Zwiespältige steht am Scheidewege, da zeigen sich zwei Erscheinungen: das Gute und das Gute in seinem Siegen oder sogar in seinem Siege durch ihn. Das letzte ist Vermessenheit, aber auch die zwei ersten Erscheinungen sind nicht ganz dieselben. In der Ewigkeit wohl, aber nicht in der Zeit. Und sie müssen sich scheiden, so will es das Gute; das Gute legt die Langsamkeit der Zeit als eine geringe Kleidung an und in Beziehung auf diese Umkleidung muß er die geringe Gestalt [74] des unnützen Knechtes anlegen. Mit seinem körperlichen Auge kann er das Gute nicht siegen sehen, nur mit dem Auge des Glaubens darf er nach dessen ewigem Siege trachten. Darin besteht seine Zwiespältigkeit; denn so wie es eine Zwiespältigkeit gibt, die im Wesen des Guten scheidet, was es selbst für ewig vereint hat, so ist seine Zwiespältigkeit die: zu vereinen, was das Gute in der Zeit geschieden hat. [...]

Das Guten nur graduell wollen

4. Endlich sollte die Rede, bevor sie die Zwiespältigkeit verläßt [...], an die vielfältige Zwiespältigkeit erinnern, an die Zwiespältigkeit der Schwäche, [...] daran, daß, der zwiespältig ist, der das Gute nur bis zu einem gewissen Grade will.

Im Grunde genommen ist dies der Ausdruck aller Zwiespältigkeit im Verhältnis zu dem Guten, daß sie es nur bis zu einem gewissen Grade will. [...] [76]

Denn in der bunten wogenden Volksmenge, im Lärm der Welt von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr rechnet man nicht so genau damit, ob jemand ganz das Gute will, wenn er nur Einfluß und Macht hat, in einem großen Wirtschaftsbetrieb sitzt, etwas für sich und andre ist: „was für eine ängstliche und kümmerliche Kleinlichkeit, denkt man, die es so genau nimmt“, man meint auch nicht, daß es etwas Vermessenes ist, was man so sagt; nein, im Vorbeigehen wirft man die kluge Bemerkung hin und eilt weiter, während die Bemerkung auch von Mund zu Mund weiter eilt in der bunten, wogenden Volksmenge. Und in dem geschäftigen Leben, im Handel und Wandel von Morgen bis zum Abend, nimmt man es nicht so genau damit, ob jemand ganz das Gute will. [...] In der Ewigkeit aber wird es einen ungeheuren Unterschied machen, ob man genau war oder nicht. [...] [78]

Die emsige Geschäftigkeit, in der man weiter und weiter geht, und der Lärm, in dem das Wahre beständig mehr und mehr ins Vergessen gerät, und die Menge der Verhältnisse, die der Antriebe und die der Hindernisse, machen es beständig unmöglicher, eine tiefere Kenntnis von sich selbst zu gewinnen. Es ist Wahrheit, daß ein Spiegel die Eigenschaft hat, daß man sein Bild darin sehen kann; dann muß man aber stille stehen. [...] [79] Und während es sonst niemandem entgehen kann, daß eine Krankheit immer gefährlicher wird, bösartiger wird, je mehr sie um sich greift, so ist es mit den Entschuldigungen umgekehrt, die Krankheit scheint immer milder zu werden, der Zustand immer behaglicher, je mehrere davon ergriffen werden. [...]

Also hat der Zwiespältige vielleicht doch ein Gefühl, ein lebendiges Gefühl für das Gute, wenn jemand über das Gute sprechen will und besonders nach Dichterart, dann ist er leicht bewegt, leicht dazu angeregt, in Rührung zu zerfließen.

Wenn es ihm in der Welt zuwider geht und jemand mit ihm darüber sprechen will, daß Gott die Liebe ist, daß seine Liebe höher ist als aller Verstand, selbst den Sperling in ihre Vorsehung einschließt, der nicht ohne seinen Willen zur Erde fällt – wollte jemand darüber sprechen und besonders nach Dichterart: dann ist er ergriffen, er greift nach dem Glauben wie nach einem Wunsche, und mit dem Glauben greift er nach der gewünschten Hilfe. In dem wünschenden Glauben hat er ein Gefühl für das Gute. Aber vielleicht zögert die Hilfe; statt dessen aber kommt ein Leidender zu ihm, dem er helfen kann. Dieser Leidende aber findet ihn ungeduldig, abstoßend, dieser Leidende muß sich mit der Entschuldigung begnügen: „daß er augenblicklich nicht dazu aufgelegt oder gestimmt sei, sich um Anderer Leiden zu bekümmern, da er selbst Schwierigkeiten habe“. Und doch meint er, den Glauben zu haben, den Glauben [80] daran, daß eine liebevolle Vorstehung da ist, die dem Leidenden hilft, eine Vorsehung, die auch Menschen als Werkzeuge braucht. – Nun kommt möglicherweise die gewünschte Hilfe, wieder ist seine Dankbarkeit schnell auflodernd, in einer weichlichen Vorstellung der liebevollen Vorsehung schmachtend; nun meint er den Glauben recht ergriffen zu haben, nun hat er in ihm über jeden Zweifel und jeden Einwand gesiegt; ach, jener andre Leidende ist ganz ins Vergessen geraten. Was anders ist dieser Zustand als Zwiespältigkeit! [...]

Gesetzt, es gäbe zwei Menschen: ein Zwiespältiger, der meinte, den Glauben an eine liebevolle Vorsehung erworben zu haben, weil er selbst es erlebt hatte, daß ihm geholfen wurde, obgleich er unbewegt einen Leidenden, dem er hätte helfen [81] können, abgewiesen hätte, und ein anderer Mensch, dessen Leben durch aufopfernde Liebe ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung war, so daß er vielen Leidenden half, während die Hilfe, die er selbst gewünscht hatte, ihm von Jahr zu Jahr verweigert wurde: wer von diesen beiden wäre in Wahrheit davon überzeugt, daß es eine liebevolle Vorsehung gibt, die sich der Leidenden annimmt? [...] sollte der, dessen Leben aufopfernde Liebe ist, sollte er nicht glauben, daß Gott Liebe ist? [...] [82]

Oder vielleicht hatte der Zwiespältige ein Gefühl für Recht und Unrecht; es glühte in ihm, besonders wenn jemand nach Dichterart die eifrigen Männer schildern wollte, die im Dienste der Wahrheit mit Selbstaufopferung Recht und Gerechtigkeit behaupteten; wenn ihm dann selbst irgendein Unrecht widerfuhr, dann war es ihm, als müßten Zeichen am Himmel und auf Erden geschehen, als könnte die Weltordnung ebensowenig wie er schlafen, bevor das Unrecht wieder gutgemacht war; und es war nicht Eigenliebe, die ihn dazu getrieben hatte, sondern das Gefühl für Gerechtigkeit – so meinte er. Und wenn er dann Recht bekam, wieviel Unrecht es auch gegen den und jenen gekostet hatte: dann lebte er wieder die Vollkommenheit der Welt. Das Gefühl hatte ihn wohl hingerissen, aber auch so hingerissen, daß er das Wichtigste vergessen hatte: im Dienste der Wahrheit mit Selbstaufopferung Recht und Gerechtigkeit zu behaupten. Denn wer von diesen beiden ist wohl in Wahrheit davon überzeugt, daß Gerechtigkeit in der Welt da ist: der, der Unrecht leidet, um Recht zu tun; oder der, der Unrecht tut, um sein Recht zu bekommen.

Das unmittelbare Gefühl ist wohl das erste, ist die Lebenskraft, in ihr ist das Leben, wie es gesagt ist, daß das Leben vom Herzen ausgeht: dann aber muß dieses Gefühl „behütet werden“ [...]; es muß von allem Selbstsüchtigen gereinigt werden, vor allem Selbstsüchtigen bewahrt werden, es darf nicht sich selbst überlassen werden, im Gegenteil muß ja immer das, was bewahrt werden soll, dem Schutze eines höheren, der es bewahrt, anvertraut werden, – ebenso bittet auch die liebevolle Mutter Gott, ihr Kind zu bewahren. [...] [83]

So hatte der Zwiespältige vielleicht eine Erkenntnis des Guten; im Augenblicke der Betrachtung stand es so deutlich vor ihm, so klar, daß das Gute doch in Wahrheit alle Vorteile auf seiner Seite habe, daß es in Wahrheit ein Gewinn ist, sowohl für dieses als für das kommende Leben; ja, es war ihm ums Herz, als müsse er die ganze Welt davon überzeugen können. [...] Aber die Prüfung, die seine – gewonnene Überzeugung versuchen sollte, blieb doch nicht aus. [...] [85] In der Erkenntnis, die, als Betrachtung und Überlegung, von [86] Zeit und Wirklichkeit im Abstande der Ewigkeit liegt, ist zwar eine Wahrheit; der Erkennende kann die Wahrheit darin verstehen, sich selbst aber kann er nicht verstehen. Es ist sicher, daß das Leben eines Menschen ohne diese Erkenntnis mehr oder weniger gedankenlos ist; es ist aber auch sicher, daß, weil die Ewigkeit dieser Erkenntnis in der Einbildung verfälschte ist, sich Zwiespältigkeit entwickelt, wenn sie nicht durch die Reinheit des Willens langsam und redlich erworben wird.

Vielleicht hatte der Zwiespältige einen Willen zum Guten, denn wohl hat auch der, der durch den Betrug des Gefühls oder durch jenes Erkennen aus der Ferne in die Zwiespältigkeit geriet, einen Willen, dieser aber bekam keine Macht, und der Keim der Zwiespältigkeit lag in dem innern seelischen Mißverhältnis. Also, er hat einen Willen zu dem Guten, er ist nicht ohne Vorsatz oder Vorsätze und Beschlüsse und Pläne für sich selbst, und nicht ohne teilnehmende Pläne für andre. Aber doch ist ihm etwas entgangen, er meint nämlich nicht, daß der Wille an sich das festeste von allen ist oder doch sein soll, daß er hart sein soll wie das Schwert, das Steine zerhauen konnte und das so weich war, daß es um den Leib gewickelt werden konnte; er meint nicht, daß sein Mensch sich auf seinen Willen stützen soll, daß er sich, wenn alles zerbricht, an den Willen halten soll. Er meint nicht, daß der Wille das bewegende ist, sondern, daß er bewegt werden soll; daß er in sich selbst schwankend ist und unterstützt werden soll, daß er durch Gründe, Rücksichten, den guten Rat anderer, Erfahrungen, Lebensregeln bewegt und unterstützt werden soll. [...] [87] Er hat alles umgekehrt; was im Leben das Hemmende ist – für jeden, der mit der Eile der Ewigkeit einer besseren Welt entgegensteuert, das meint er, sei das Vorwärtstreibende, und was das Vorwärtstreibende sein soll, macht er zu dem Hemmenden, oder wenigstens zu dem in sich selbst Unbeweglichen. Solch ein Mensch muß ja in der Zwiespältigkeit bleiben, auf dem Binnensee der Zwiespältigkeit emsig mit Kleinigkeiten beschäftigt, wenn er statt mit dem Willen zum Guten aus all dem Hemmenden herauszusteuern nur mit des Hemmenden Schnelligkeit segelt. [...] [89]

Alles für das Gute tun wollen

B. Soll ein Mensch das Gute in Wahrheit wollen, dann muß er alles für das Gute tun wollen, oder alles für das Gute leiden wollen. [...] [91]

Laßt uns, anstatt Einzelheiten zu vervielfältigen, dieses alles in seiner wesentlichen Einheit und Gleichheit vereinfachen, indem wir sagen, alles tun wollen ist: in der [92] Entscheidung bei dem Guten sein und bleiben zu wollen, denn die Entscheidung ist gerade das entscheidende „Alles“, wie sie auch das wesentliche Eines ist. [...] [95]

Aber ach, in jedem Menschen ist eine Macht, eine gefährliche und auch eine große Macht. Diese Macht ist die Klugheit. Die Klugheit strebt immer gegen die Entscheidung, sie kämpft für ihr Leben und ihre Ehre, siegt der Entschluß, dann ist die Klugheit wie getötet, herabgesetzt, um ein verachteter Knecht zu sein, auf dessen Rede man genau achtet, dessen Rat man aber zu befolgen verachtet.

Innerlich braucht nun der Mensch die Klugheit auf eine verderbliche Weise, um sich selbst daran zu hindern, in die Entscheidung hinauszutreten. Auf unzählige Weise kann sie so gemißbraucht werden; um aber wiederum das Gleichgültige nicht zu vervielfältigen und dadurch die Aufmerksamkeit von dem Wichtigen abzuziehen, wollen wir wieder diesen Mißbrauch mit einem bestimmten Ausdruck bezeichnen: Ausflüchte suchen. [...] [96]

Selbst wenn der Aufrichtige zu Schaden kam, vielleicht war es gerade das, was die Fügung brauchte. Hat man nicht oft gesehen, daß der Brunnen erst zugedeckt wurde, nachdem das Kind hineingefallen war, während die verständigste Rede und Ermahnung nichts bewirkt hatte: nun wohl, wenn der Aufrichtige gewillt ist, das Kind, das hineinfällt, zu sein, ist so sein Wagnis vergeblich gewesen? – Ein anderer sagt: „Ich habe nicht die Kraft dazu, so alles zu wagen.“ Wieder Ausflucht, eine Ausflucht mit Hilfe des Wortes: [97] „Alles“; denn das Gute kann ja auch rechnen und die Forderungen im Verhältnis zu den Kräften, die er hat, berechnen. Und zudem, wenn er in Aufrichtigkeit wagen will, dann bekommt er wohl auch Kräfte genug in der Entscheidung. [...]

Einer sagt so: „das bißchen, was ich tun kann, ist für nichts zu rechnen.“ [...] Das Scherflein der Witwe war alles, was sie besaß – vor Gott war es eine ebenso große Summe wie alles Gold der Welt auf einem Haufen, und wenn jemand, der das Gold der ganzen Welt besäße, alles gäbe, er gäbe nicht mehr. Ja, wenn man in bürgerlichen Verhältnissen Geldbeiträge einsammelt, dann wäre es möglich, daß der Einsammler wohlwollend und auch vornehm zu der Witwe gesagt hätte: „Nein, Mütterchen, behalte Sie nur Ihr Scherflein.“ Das Gute aber, wie sollten wir sagen, dessen Güte ist so groß, daß es keinen Unterschied kennt. [...] [102]

Wäre das Verhältnis zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit ein solches, daß sie wie der Widerhall dem Laute einander entsprächen, dann [103] würde es die zuverlässige Wiedergabe des ewigen Wollens im Menschen sein, wenn man etwas ausrichtete; man könnte daran, was ein Mensch ausrichtet, sofort sehen, wieviel Wollen des Ewigen in ihm wäre. In dem Falle aber hätte es in der Zeitlichkeit nie geschehen können [...], daß Gottes Sohn, als er sich in Menschengestalt offenbarte, gekreuzigt, von der Zeitlichkeit verstoßen wurde; denn er wollte doch wohl im Sinne der Ewigkeit das Ewige, dennoch wurde er in der Zeitlichkeit daran kenntlich, daß er verstoßen wurde und somit nur wenig ausrichtete. Wie es ihm ging, so ging es den Aposteln, nach ihrer eignen Erwartung, und so ist es so vielen gegangen von den Zeugen des Guten und Wahren, in denen gerade das ewige Wollen stark brannte. Die Zeitlichkeit kann somit nicht, wie sie wahrnehmbar ist, die Durchsichtigkeit des Ewigen sein, sie ist in ihrer gegebenen Wirklichkeit die Brechung des Ewigen. Dadurch wird die Bestimmung: etwas auszurichten, weniger einfach. Je mehr das Ewige bei dem Zeugen in Bewegung ist, um so stärker ist die Brechung; je mehr der Strebende anstatt das Ewige zu wollen mit der Zeitlichkeit verwandt ist, um so mehr richtet er im Verstande der Zeitlichkeit aus. So geht es auf viele Weise oder auf alle mögliche Weise in der Zeitlichkeit. [...] [106]

Wer aber das Gute in Wahrheit will, der braucht die Klugheit innerlich: um alle Ausflüchte zu verhindern und sich dadurch selbst in die Entscheidung hinauszuhelfen und sich selbst draußen in ihr zu halten. [...] [107]

Ob es sich so verhält, daß bei der Geburt eines jeden Menschen zwei Engel geboren werden, sein guter und sein böser Engel, weiß ich nicht; das aber glaube ich [...], daß bei der Geburt eines jeden Menschen eine ewige Bestimmung für ihn, für ihn besonders, entsteht. Treue gegen sich selbst im Verhältnis zu dieser Bestimmung ist das Höchste, was ein Mensch üben kann [...]. Dann gibt es aber einen Schuld, ein Vergehen: Untreue gegen sich selbst oder sein eigenes besseres Wesen zu verleugnen. [...] [111]

Das folgende aber betrifft alle und ist sicher: daß jeder, der das Gute in Wahrheit will, nicht in der Welt ist, um einen Schein des Guten hervorzuzuabern, so daß dieses in den Augen der Welt Gefälligkeit gewönne und er ein vielgeliebter Mann würde; er hat nicht die Aufgabe, das Gute zu einer Sache des Augenblickes zu verwandeln, zu etwas, worüber in einer lärmenden Versammlung abgestimmt werden solle, die auch das Gute so bis zu einem gewissen Grade wollen. Nein, er hat immer die Aufgabe, nicht durch Worte, auch nicht durch die Absicht, sondern dadurch, daß die Aufrichtigkeit seines eignen Lebens nach innen gekehrt ist – die Aufgabe aufs äußerste offenbar zu machen, daß seine Umgebung ihm entgegengesetzt ist, nicht dadurch, daß er mit Worten richtet, sondern dadurch, daß sein Leben durch die Tat unbedingt dem Guten dient.

Seine Aufgabe ist die eigne [112] Verpflichtung im Dienste des Guten; nicht seine Wirksamkeit, nicht sein Werk ist das Richtende, sondern etwas, was im Verhältnis zu seiner Umgebung zum Vorschein kommt. Seine Handlung ist nicht das Richtende; denn seine Handlung ist, das Gute in Wahrheit zu wollen; sein Leiden ist das Richtende, indem die Umgebung sich darin offenbart, wie sie ihn leiden läßt, indem sie gerade durch diese Leiden ihm behilflich ist, sich selbst zu prüfen, ob das Gute wirklich das ist, was er will, oder ob er selbst in einer Täuschung befangen ist. Wer das Gute in Wahrheit will, darf vor allem nicht geschäftig sein, sondern muß in stiller Geduld dem Guten alles überlassen, welchen Lohn er haben soll, was er ausrichten soll. Kein vermittelndes Worte, keinen Wink darf er sich erlauben; keine einzige Linderung darf er von der Welt verlangen; nur dem Guten soll er sich selbst und die Sache übergeben mitsamt jedem, dem möglicherweise durch ihn geholfen werden könnte. Er ist kein Richtet, im Gegenteil, er ist ganz das Entgegengesetzte, er ist der Gerichtete, er bewirkt nur, daß die Umgebung darin offenbar wird, wie sie ihn richtet. [...] [113]

Alles für das Gute leiden wollen

2. Soll ein Mensch das Gute in Wahrheit wollen, dann muß er alles für das Gute leiden wollen. [...] [119]

Es ist ja nützlich, das Leiden nicht zu früh fahren zu lassen; laßt uns nur recht dabei verweilen, davon überzeugt, daß es kein so nützliches Mittel gegen die verderbliche Seuche der Geschäftigkeit gibt als dieses, das schwere Schicksal der wesentlich Leidenden recht [120] zu bedenken; und dann recht menschlich an dem gemeinsamen Anliegen des Leidens mit ihnen teilzunehmen. Ach, die menschliche Teilnahme verhält sich oft umgekehrt zum Leiden, das auf die Dauer schwerer wird; die Teilnahme wird auf die Dauer müde; das Leiden nimmt zu, während die Teilnahme abnimmt. Bei dem ersten Augenblick eilt die menschliche Teilnahme dazu, wenn es sich aber in die Länge zieht, dann zieht sie sich zurück, bisweilen verwandelt sie sich in dem Geschäftigen, wenn die geschäftige Teilnahme vorüber ist, zu einer gewissen Bitterkeit gegen den Leidenden. [...] [127]

O, du Leidender, wo du auch bist, wo du dich auch dem Anblick der Menschen entziehst, um sie nicht, an das Elend erinnernd, zu stören: o, vergiß doch nicht, daß auch du etwas tun kannst, laß doch dein Leben nicht in einem unnützen Zählen der Tage und Jahre der unnützen Leiden vergehen, vergiß nicht, daß du etwas tun kannst. [...] O, du Leidender [...], du kannst doch noch – das Höchste – tun, du kannst alles leiden wollen und dadurch in der Entscheidung bei dem Guten sein. O, selige Gleichmäßigkeit, daß der im strengsten Sinne Leidende unbedingt das Höchste tun kann, ebensowohl als der im glücklichsten Sinne am meisten Begünstigte. [...] [133]

Der Handelnde will alles für das Gute tun, der Leidende will alles für das Gute leiden: das Gleichmäßige ist, daß die [134] beiden in der Entscheidung bei dem Guten sein und bleiben können. Nur die Richtung des Arbeitens ist verschieden, welche Verschiedenheit doch nicht so verstanden werden darf, als schösse die eine die andere aus: der Handelne wirkt nach außen, damit das Gute siege, sogar sein Leiden hat seine Bedeutung in dieser Beziehung; der Leidende tut nach innen (indem er alles leiden will) alles für das Gute, daß es in ihm siege. [...]

Doch noch eines, bevor die Rede die Leiden verläßt: kann es gesagt werden, daß man Leiden will, ist nicht das Leiden etwas, wozu man gegen seinen Willen gezwungen werden muß; wenn man davon frei sein kann, kann man es dann wollen, und wenn man darin gebunden ist, kann es dann gesagt werden, daß man es will? Wenn wir diese Frage beantworten sollen, laßt uns dann vor allem unterscheiden: Zwischen dem, was es [135] bedeutet, im Verstande der Lust zu wollen, und dem, was es ist, im edlen Verstande der Freiheit zu wollen. Für viele Menschen ist es freilich eine Unmöglichkeit, die Freiheit und das Leiden in demselben Gedanken zu vereinigen. [...] [136] Kann nicht nur der Freie sagen: „Lege mir nur Fesseln an, ich fürchte mich nicht?“ Kann auch der Gefesselte sagen: „Freiwillig übernehme ich meine Gefangenschaft“, die Gefangenschaft nämlich, in der er ist? Ja, hier haben wir denselben Fall; die Meinung der meisten Menschen ist, daß dies eine Unmöglichkeit sei, daß darum der Zustand des Leidenden seufzende Mutlosigkeit sei.

Was ist denn aber der Mut der Geduld? Ist die Geduld nicht gerade der Mut, der das Leiden, das unvermeidlich ist, freiwillig übernimmt. Das Unvermeidliche ist gerade das, was den Mut knicken will. Es gibt in dem Leidenden selbst einen verräterischen Widerstand, der mit den Schrecken des Unvermeidlichen verbunden ist und in dieser Vereinigung ihn zermalmen will; trotzdem aber findet sich die Geduld in das Leiden und findet sich gerade dadurch frei in dem unvermeidlichen Leiden. Darum vollbringt, wenn man so reden darf, die Geduld ein noch größeres Wunder als der Mut, denn der Mut geht freiwillig in das Leiden, das nicht zu vermeiden war, die Geduld aber macht sich frei in dem unvermeidlichen Leiden; durch seinen Mut läßt sich der Freie freiwillig fangen; durch seinen Mut, der die Geduld ist, macht sich der Gefangene frei [...], wenn der Geduldige seine Einwilligung gibt, indem er sich in das Leiden schicken will. [...] [137]

Unleugbar, er macht aus der Not eine Tugend, das ist gerade das Geheimnis, das ist gerade der bezeichnendste Ausdruck dessen, was er macht, er macht aus der Not eine Tugend; er macht eine Bestimmung der Freiheit (Tugend) aus dem, was als Notwendigkeit bestimmt ist. [...] Denn ist wohl der ein Gefangener, dem die Tür offen steht: die Flügeltür der Ewigkeit! Steht wohl der unter dem Zwange, der ewig frei ist! [...] [140]

Die Ewigkeit und der Einzelne

III.

[...] So bedenke nun, mein Zuhörer, den Anlaß; und während das Bewußtsein der Sünde dir das Bedürfnis nach dem einen Notwendigen einschärft, während der Ernst der heiligen Stätte deinen Willen in heiligem Entschluß bestärkt, während die Gegenwart des Allwissenden den Selbstbetrug unmöglich macht, bedenke du dein eignes Leben. [...] [144]

Die Rede fragt dich nun, oder du fragst dich selbst bei der Rede, welcher Art dein Leben ist, ob du Eines willst und was dies Eine ist. [...] [145]

Die Rede fragt dich also, ob du so lebst, daß du dir bewußt bist, ein Einzelner zu sein. [...] [146] Es mag gemächlicher und bequemer und feiger sein, sich so in der Menge zu verbergen in der Hoffnung, daß Gott den einen nicht von dem anderen unterscheiden könne; aber in der Ewigkeit muß jeder als Einzelner Rechenschaft ablegen, das heißt, die Ewigkeit wird ihm alles das vor sein Bewußtsein rücken, was er als Einzelner getan hat, er, der sich selbst in einer lärmenden Selbsttäuschung vergessen hatte. Und in der Ewigkeit wird es mit ihm als Einzelnem genau genommen, mit ihm, der in der Menge zu sein vermeinte, wo es nicht genau genommen wird. [...] Denn was ist die Rechenschaft der Ewigkeit wohl anderes, als daß die Stimme des Gewissens ewig in ihr ewiges Recht [147] eingesetzt wird, die einzige zu sein; was ist es anderes, als daß in der Ewigkeit die unendliche Stille herrscht, in der das Gewissen nur mit dem einzelnen darüber spricht, was er als Einzelner Gutes oder Böses getan hat, und darüber, daß er, als er lebte, nicht ein Einzelner sein wollte [...]. [149]

Die Ewigkeit fragt nicht danach, wie weit du deine Kinder so erzogst, wie du andere es tun sahst, sondern sie fragt dich als Einzelnen, wie du deine Kinder erzogst. [...] [150]

Und so in jedem deiner Verhältnisse. Sofern du nicht abseits irgendwo in der Welt lebst, sofern du in einer volkreichen Stadt wohnst, und du dann deine Aufmerksamkeit nach außen richtest, teilnehmend auf die Menschen und die Geschehnisse achtest, erinnerst du dich da, so oft du dich so zu einer Umwelt verhältst, daß du dich in diesem Verhältnis zu dir selbst als Einzelner mit ewiger Verantwortung verhältst? Oder drängst du dich in die Menge hinein, wo der eine sich mit dem andern entschuldigt, wo in einem Augenblick, wie es heißt, viele, und im nächsten Augenblick, jedesmal wenn von Verantwortung die Rede ist, niemand da ist. Urteilst du wie die Menge als Menge. Du bist nicht dazu verpflichtet, eine Meinung über das zu haben, was du nicht verstehst, nein, im Gegenteil, davon bist zu ewig entbunden; aber du bist ewig dazu verpflichtet, als Einzelner für deine Meinung, dein Urteil Rechenschaft abzulegen.

Und in der Ewigkeit wirst du nicht neugierig und geschäftig danach gefragt, wie von einem Zeitungsschreiber, ob viele da waren, die dieselbe – unrichtige Meinung hatten, sondern nur, ob du sie gehabt hast, ob du deine Seele dazu verzogen hast, leichtsinnig und gedankenlos mitzuurteilen, weil andere, weil viele gedankenlos urteilten; ob du vielleicht das Beste in dir verdorben hast, indem du mit der Menge darauf trotztest, daß ihr viele wäret, sodaß ihr Recht bekämet, weil ihr viele waret, d. h. weil ihr viele waret, die Unrecht hatten. In der Ewigkeit wird danach gefragt, ob du vielleicht einer guten Sache geschadet hast, weil du auch mit denen zusammen urteilen mußtest, die nicht zu urteilen verstanden, die aber die im Verstande der Zeitlichkeit bedeutsame, im Verstande der Ewigkeit nichtssagende Stärke der Menge hatten. Sieh, in der Zeitlichkeit zählt [151] man und sagt: „Einer mehr oder weniger, das macht nichts aus“ – und ebenso spricht man zu sich selbst und über sich selbst! In der Zeitlichkeit zählt man und sagt: „Einer gegen hundert, was soll daraus werden,“ damit gibt man feige nach gegenüber der Zahl – und die Zahl ist gewöhnlich die Unwahrheit, die Wahrheit begnügt sich damit, eine Einheit zu sein. [...]

Was will nun das Gewissen einschärfen durch das Bewußtsein, daß du ein Einzelner bist? Es will dich lehren, daß du, wenn du urteilst (denn in gar vielen Fällen will es dich davon abhalten zu urteilen), dein Urteil auf eigene Verantwortung fällst; daß du in Scheu wie vor einem Toten prüfst, was du verstehst und was du nicht verstehst, es will dich davor abschrecken, die gleißende Ausflucht zu der Jämmerlichkeit zu suchen, daß ihr viele seid, denn viele Toren machen keinen Weisen, und die Menge ist, desto wahrscheinlicher, daß das, was sie anpreist, Torheit ist, umso unwahrscheinlicher, daß es Wahrheit sei, und am allerwahrscheinlichsten, daß es eine ewige Wahrheit sei, denn ewig gibt es ja gerade keine Menge. Die Wahrheit ist nicht so, daß sie gleich einer leichtsinnigen Menge behagt – und im letzten Grunde tut sie es nie; die Wahrheit muß einem solchen Haufen gerade wahnsinnig vorkommen. Aber wer sich selbst als Einzelner bewußt, mit ewiger Verantwortung urteilt, er urteilt langsam über das [152] Ungewöhnliche, denn es kann sein, daß es Lüge und Betrug und Blendwerk und Eitelkeit ist, aber es kann auch das Wahre sein. [...] [153]

Aber wer bedenkt, daß er ein Einzelner ist, daß die letzte und höchste Verantwortung auf ihm allein ruht, weil selbst der vertrauteste Freund als dritter in seinem Urteil notwendigerweise das Entscheidende auslassen muß: daß es seine Person gilt, da er es ist, zu dem das Gewissen in dieser Sache du sagt, während es nur du zum Freunde sagt, sofern er seinen Rat gibt; wer das bedenkt, der [...] betrachtet es nicht eben als einen Vorzug bei dem Leben in den volkreichen Städten, daß fast jeder mit Hilfe der Schnelligkeit der Benachrichtigungsmittel sich leicht über alles mögliche ein flüchtiges und oberflächliches Urteil bilden kann, er betrachtet vielmehr diese Leichtigkeit als eine Versuchung, [154] eine Falle, und er lernt den Ernst dazu, als Einzelner die Last seiner ewigen Verantwortung zu fühlen. [...] [157]

Die Rede fragt dich nun weiter, welcher Art deine Tätigkeit im Leben ist. Die Rede fragt nicht neugierig, ob diese Tätigkeit groß oder klein ist, ob du König bist oder nur Arbeiter; sie fragt nicht geschäftig, ob du viel Geld verdienst oder dir großes Ansehen erwirbst: davon spricht und danach fragt die Menge. Aber deine Tätigkeit, sie sei nun groß oder klein, ist ja doch wohl derart, daß du sie mit der Verantwortung der Ewigkeit zusammen denken kannst, derart, daß du dich zu ihr bekennen kannst in diesem Augenblick und zu jeder Zeit. [...] [158]

Und in deiner Tätigkeit, welcher Art ist deine Gesinnung? Wie übst du deine Tätigkeit aus? Bist du mit dir selbst darüber einig, daß deine Tätigkeit dein Beruf ist, so daß du diesen nicht je nach dem Ausgang umerklärst und meinst, es sei doch nicht dein Beruf, wenn der Ausgang ungünstig ist, wenn dein Streben erfolglos bleibt. Ach, dieser Wankelmut schwächt unberechenbar. Halte deshalb daran fest; mit Gottes Hilfe und mit deiner eignen Treue wird aus dem unglücklich Angefangenen etwas Gutes. Denn ein Anfang ist überall, und der gute Anfang ist überall da, wo du mit Gott anfängst. Und kein Tag, wo du anfängst, ist ein Unglückstag, auch der unglückliche nicht, wenn du mit Gott anfängst. [...] [160]

Die guten Mittel, Eintracht und Hingabe

Und nun die Mittel, die du brauchst. Welche Mittel brauchst du, um dein Werk zu vollbringen; ist das Mittel dir ebenso wichtig, wie das Ziel, genau ebenso wichtig? Denn sonst kannst du ja unmöglich Eines wollen, denn in dem Falle würde ja das unverantwortliche, das leichtsinnige, das eigennützige, das ungleichartige Mittel störend und befleckend mit einlaufen. Im Verstande der Ewigkeit ist das Mittel Eines, das Ziel Eines, das Mittel undd as Ziel eins und dasselbe. Es ist nur ein Ziel da: das Gute in Wahrheit; und nur ein Mittel: einzig und allein das Mittel brauchen zu wollen, das in Wahrheit das gute ist – aber das Gute in Wahrheit ist ja gerade das Ziel. Zeitlich und irdisch scheidet man und meinst, das Ziel sei wichtiger als das Mittel; man meinst, das Ziel sei die Hauptsache, man fordert von dem Strebenden, daß er das Ziel erreiche, mit dem Mittel brauche er es nicht so genau zu nehmen. Doch dem ist nicht so, und solcher Weise ein Ziel zu haben, ist gottlose Ungeduld; im Verstande der Ewigkeit ist das Verhältnis zwischen Ziel und Mittel eher umgekehrt.

Wenn ein Mensch sich für sein [161] Streben hier im Leben ein Ziel setzt und er es nicht erreicht, so kann er möglicherweise im Verstande der Ewigkeit ohne alle Schuld, ja sogar zu rühmen sein; er kann ja durch den Tod oder durch Widrigkeiten, die nicht in seiner Macht stehen, daran verhindert worden sein; in diesem Fall ist er ohne alle Schuld; er kann ja sogar verhindert worden sein das Ziel zu erreichen gerade dadurch, daß er keine anderen Mittel gebrauchen wollte als die im Verstande der Ewigkeit zulässigen, also gerade dadurch, daß er der Ungeduld und Leidenschaft und den Erfindungen der Klugheit entsagte; in diesem Falle ist er vielmehr zu rühmen. Er ist also nicht ewig verantwortlich dafür, ob er das Ziel in der Zeitlichkeit erreicht, sondern dafür ist er unbedingt ewig verantwortlich, welche Mittel er gebraucht; und wenn er allein das Mittel brauchen will oder braucht, das in Wahrheit das Gute ist, dann ist er im Verstande der Ewigkeit am Ziele. [...] [162]

Die Ewigkeit ist nicht zeitlich neugierig und ungeduldig, wie der Ausgang sein werde; eben darum ist das Mittel unbedingt ebenso wichtig wie das Ziel; oder eben weil das Mittel unbedingt ebenso wichtig ist wie das Ziel. [...] Meinst du, dem Meisterwerk sei es gleichgültig, wie es zustande kam; nun ja, dem Meisterwerk mag es gleichgültig sein, aber meinst du, dem Meister könne es gleichgültig sein, ob er fromm seine Kräfte zu heiligem Dienste weihte, oder ob er es vielleicht in glänzenden Sünden, von Verzweiflung unterstützt, hervorbrachte – ein Meisterwerk? [...] [163]

Und wie ist deine Gesinnung anderen gegenüber? Lebst du mit allen in Eintracht – darin, Eines zu wollen? Oder gehörst du streitsüchtig einer Partei an? [...] Wünschst du allen das, was du dir selbst wünschst, oder willst du das Höchste für dich selbst, für dich selbst und die Deinen, oder willst du, daß das das Höchste sein soll, was du und [164] die Deinen wünschen? [...] Ach, es gibt etwas in der Welt, das Zusammenhalt heißt; das ist ein gefährlich Ding, denn aller Zusammenhalt ist Zwietracht. Es ist Zwietracht, wenn der Zusammenhalt den Bürgerlichen ausschließt und wenn er den Adeligen ausschließt, [...] wenn er den Bettler ausschließt, wenn er den Weisen ausschließt und wenn er den Einfältigen ausschließt. Denn aller Zusammenhalt ist Zwietracht gegenüber dem Allgemeinmenschlichen. Aber Eines zu wollen, das Gute in Wahrheit zu wollen, als Einzelner mit Gott zusammenhalten zu wollen, was unbedingt ein jeder kann, das ist Eintracht. [...] [165]

Hast du keinen Sondervorzug, keine Sondergabe, keine Sondervergünstigung in deinem Leben, die du für dich allein oder gemeinsam mit einigen anderen gemißbraucht hast, daß du dich damit tröstetest und Uneingeweihten nicht zu sagen wagtest, womit du dich tröstest; daß du dem Armen Almosen gibst, damit er sich trösten könne, aber verräterisch einen letzten Trost für dich selbst hast, wohl einen Trost für die Armut hast, aber dich selbst damit tröstest, daß dein Reichtum dich davor schütze, jemals arm zu werden; daß du wohl dem Einfältigen zurecht hilfst, aber verräterisch einen letzten Trost für dich selbst hast, daß deine Begabung so vorzüglich sei, daß es dir nicht geschehen könnte, daß du morgen, wenn du erwachtest, der dümmste im Volke wärest; daß du wohl dem Jüngling den Weg weisen willst, aber es nicht über dich bringst, ihn in dein Leben einzuweihen, weil du eine Heimlichkeit für dich selbst hast, weil du ein Verräter bist, der du den Jüngling mit deiner Heimlichkeit um das Höchste betrügst, und dich selbst um das Höchste – durch deine Heimlichkeit. [...] [171]

Aber was sollen wir denn tun, wenn die Fragen wie Anklagen lauten? Vor allem wohl, jeder für sich ein Einzelner werden mit seiner Verantwortung vor Gott, jeder für sich das strenge Urteil aushalten, das darin liegt, ein Einzelner zu sein. [...] [172]

Der Weg der Menge ist immer breit; da wächst die giftige Prachtblume der Entschuldigungen; da sind die einladenden Verstecke die Ausflüchte; da fächelt die kühle Luft des Vergleiches – dieser Weg führt nicht zum Leben. Nur der Einzelne kann das Gute in Wahrheit wollen, und wenn er [174] auch, nicht nur in der elften Stunde der Beichte, in der alle Fragen als Anklagen ihm gegenüberstehen, sondern auch zum täglichen Gebrauch in der Reue mühselig und beladen ist: der Weg ist doch der rechte, er hat das Verhältnis zu der Forderung gefunden, die die Reinheit des Herzens fordert, indem man Eines will. [...]