Reinhard Lakomy: Es war doch nicht das letzte Mal

Reinhard Lakomy: Es war doch nicht das letzte Mal. Neues Berlin, 2000. | Zwischenüberschriften H.N. | Wer einen der größten Künstler und wahrhaftigsten Menschen der ehemaligen DDR (und darüber hinaus) kennenlernen möchte, lese dieses Buch...


Inhalt
Auf dem Weg zum Improvisationstalent
Musik mit Louis Armstrong und todmüde in der Produktion
An der Musikhochschule | ... und bei Lenz
Fast 20 Jahre Schwedt wegen Wehrkraftzersetzung
Kunst, Feindseligkeiten und Freundschaften
Streit mit Honecker und ein Spaß mit dem FDJ-Chef
Zwischenfall im Interhotel und ein Schock für die Bonzen
Der ganz große Erfolg – und die „Wende“
Die „Wende“ II
Belogen, betrogen und absichtlich „vergessen“
Die Wut über die Arroganz der Macht
Die Hoffnung stirbt zuletzt


Auf dem Weg zum Improvisationstalent

Einmal, ich war inzwischen 15, war ein Vorspiel vor den Eltern angesetzt. In diesen Wochen war ich ganz und gar von Bach begeistert – das Phänomen der Polyphonie! Die Fuge, die ich vorspielen wollte, hatte ich aber, als der Vorspieltermin heran war, nur zur Hälfte geübt, weil es derzeit viel Stress mit Mathelehrer Knoche & Co. an der Oberschule (heute Gymnasium) gab.

Heute bin ich selber überrascht, wie cool ich früher in solchen Situationen war. Ich wurde aufgerufen, die Mut­tis reckten die Hälse, und ich legte los. Ich wusste genau die Stelle, wo der Bach für mich zu Ende war. Aber ich hatte keine Angst davor. Ab dem Punkt, wo das Noten­material ziemlich neu für mich war, improvisierte ich frei – ganz im Sinne Bachscher Intentionen, wie ich meinte.

Der Beifall von Eltern und Schülern schien mir recht zu geben – sie hatten nichts gemerkt. Aber in den Augen der Lehrkraft hatte ich Schande über den alten Johann Sebastian gebracht, und sie weigerte sich, mich weiter zu unterrichten.

Statt ihrer kam ein junger Mann, frisch von der Wei­marer Musikhochschule – Dieter Nathow. Er, als pädago­gischer Anfänger, hatte sich wohl den Härtefällen der Schule zuzuwenden. Er sah mir am Klavier zu und dia­gnostizierte konsterniert: „So wie du spielst, Reinhard, ist es anatomisch und physiologisch ausgeschlossen, Klavier zu spielen.“ Er zeigte mir erst einmal, wo die Finger beim Klavierspiel die Kraft herholen.

Ich war verblüfft! Warum hatte mir das bisher keiner gesagt? Ich musste ganz von vorn anfangen und weiß nicht, wessen Geduld größer war – Nathows oder meine.

Nathow kannte natürlich meinen Ruf als Bach‑Verge­waltiger. Eines Tages ermunterte er mich, zu improvisie­ren und sah sich meine Kompositionen an. Von nun an unterrichtete er mich in der letzten Stun­de, denn er gab mir anschließend „illegal“ (und kosten­los) Unterweisungen in Tonsatz. Oft lud er mich an­schließend sogar noch züm Essen ein: Ein Lehrer wie aus der Bauanleitung für gute Menschen.

Einmal sagte er: „Merk dir eins – wichtig ist nicht wie, sondern was du komponierst.“ An diesen Satz habe ich oft denken müssen, wenn ich in Gefahr stand, mich von elektronischen Effekten auf den Musikmaschinen fort­reißen zu lassen und die Idee einer Komposition darüber zu vergessen.

Nathow hat mich „versaut“. Alle Lehrer nach ihm hat­ten es schwer – sie wurden an ihm gemessen. Er lebt bis heute in Magdeburg, unterrichtet an der „Telemann‑Mu­sikschule“ Klavier und arbeitet als Komponist. [...]

Musik mit Louis Armstrong und todmüde in der Produktion

Inzwischen war der sechzehnjährige Lakomy kein gänz­lich Unbekannter mehr, vor allem schon deshalb, weil er bei den Bands regelmäßig rumnervte, wenigstens mal ei­ne Runde mitspielen zu dürfen.

In Magdeburg gab es noch eine Band – mehrfach zum besten Amateurorchester der DDR gekürt – das „Jürgen­Heider‑Swingtett“. Diesen Musikern bin ich in besonde­rem Maße dankbar bis heute, und ganz besonders dem Saxophonisten Hans‑Albert Möwes.

Sie spielten nicht nur feinsinnige Tanzmusik mit originellen Arrangements, sie spielten auch Jazz, gaben hin und wieder Konzerte, und logischerweise zog es mich zu denen hin wie die Biene zum Honig.

Nie haben sie mich weggeschickt, sie musizierten mit mir, hatten wohl auch einigen Spaß mit der kleinen Großfresse, und eines Tages passierte es: Louis Armstrong, der Jazzer schlechthin, gab in der Magdeburger Hermann‑Gieseler‑Halle zwei Konzerte an­lässlich einer DDR‑Tournee.

Im Foyer des Hotel „International“ sollte das „Heider‑­Swingtett“ für Armstrong zum Empfang spielen. Ich war natürlich auch da. Der Ankunftstermin war weit überschritten, der Pianist wurde immer nervöser, denn er musste zurück in seinen Betrieb. Nach einer weiteren Stunde entschied Heider mit einem stummen Kopfnicken in meine Richtung – La­komy saß auf dem Klavierhocker.

Plötzlich – wir spielten „I can't give you anything but love, baby“, gingen die Türen auf, Armstrong und seine Musiker und seine Frau Lucelle kamen herein. Luis knall­te seinen Trompeten‑Koffer aufs Klavier, nahm die Trom­pete heraus und spielte einfach mit. Ich hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick ohn­mächtig dahinsinken zu müssen, so durchzog mich eine Mischung aus Ehrfurcht, Stolz und unbändiger Freude. Das Leben hatte offensichtlich noch allerhand mit mir vor!

Alle Blicke waren auf Armstrong und mich gerichtet, denn er blies über das Klavier direkt zu mir herüber, sei­ne Musiker und seine Frau standen um uns herum und schauten zu. Bis heute kriege ich bei der Erinnerung an dieses Erlebnis eine Gänsehaut! [...]

Damit die Weltrevolution gewonnen wird, muss man zei­tig aufstehen. Deshalb begann im Sozialismus der Werk­tag in aller Herrgottsfrühe. Im Erdbau konkret und ex­akt um sechs. Aber abends machte ich ja Musik bis in die Nacht, und zwar bei den „Jazz‑Youngsters“ in Halle. Ganz aus freien Stücken – ich kann mich nicht entsinnen, dass mir das von der Hochschulleitung zur Bewährungsaufla­ge gemacht worden war. Ob ein künftiger Diplom‑Musi­ker weiter musiziert, war offensichtlich nicht so wichtig, Hauptsache, er bewährt sich.

Es kam vor, dass ich im Lager ein Getriebeteil in die Hand nahm, darüber anfallartig einschlief und erst er­wachte, wenn es mir auf den Fuß gefallen war. So schreck­lich müde war ich. Vielleicht wäre mir der Bewährungs­-Alltag leichter gefallen, wenn ich in Halle nicht an so trink­freudige Musikerkollegen geraten wäre wie meinen Freund Herbert Dreilich, später Sänger von „Karat“. [...]

Nein, es war mir physisch und psychisch unmöglich, mich ein Jahr lang zu bewähren. Vor der Arbeiterklasse schauderte mir zunehmend. Diese trägen Kleinbürger mit ihrer Abduckmentalität – sie waren oft schneller ver­schwunden als ich –, die aus dem Betrieb schleppten, was nicht niet‑ und nagelfest war, die sollten in diesem Staat die Macht haben? Dann gute Nacht, DDR! [...]

An der Musikhochschule

Ich möchte dieser Einrichtung [der Dresdner Musikhochschule] und den Dresdener Tanzsinfonikern unter Günter Hörig nicht ihre Verdien­ste absprechen. Sie hatten sich für den musikalischen Nachwuchs eine Kopie der Berkley‑School in Amerika ein­fallen lassen. Gut gemeint. Später gab es solche Tanzmu­sikklassen auch in Weimar, Leipzig und Berlin – und im Westen hat man es bald nachgemacht. Aber Dresden hat sie immerhin als erstes etabliert.

Doch den Jazz hat man, oder man hat ihn nicht! Und das ist gut so. Wenn man ihn „lernen“ könnte – was für ein elendes, seelenloses Gestümper würde uns umspülen. Was heißt „würde“! – Es nagt an unseren Hirnen, überall und zu jeder Minute! Die Computermusik träufelt aus den Lautsprechern unter der Deckenverkleidung im Super­markt, im Spaßbad, in der Bahnhofswartehalle, aus den Radiogeräten. Der Sieg des Rechners über die Musik. Die Musik ist tot, noch töter ist nur der Musiker, es lebe der Musikingenieur!

Ich hatte Günter Hörig als Lehrer. Das hat nicht gut­gehen können: Für Hörig waren Studenten eben Stu­denten, und die brauchten alle ungefähr dasselbe, vor al­lem seine Triolenlehre. Ich war aber ich, war durch eine harte Schule gegangen, in der ich mich selbst kontrolliert und gefordert hatte. Ich war wissbegierig und neugierig. Wie hatte ich darum gekämpft, auf diese Schule zu ge­langen! Nun wollte ich aber auch die kostbare Zeit nicht damit verschwenden, mich in Dingen unterweisen zu las­sen, die ich schon besser wusste.

Feinfühlig im Gespräch bin ich vielleicht nur manch­mal – es kommt auf die Gelegenheit an. Aber die Achtung vor Günter Hörig gebot es mir, taktvoll vorzugehen; ich wollte ihn nicht kränken. Mit zuckersüßem Stimmchen versuchte ich ihn davon abzubringen, mir allerhand Zeug über Jazz zu erzählen. Er möge mich doch lieber bei der Erarbeitung von Beethoven‑Sonaten und Bach‑Fugen kontrollieren. Das schien ihn zu überraschen.

Dann gaben Günther Sommer, ein Studienkollege am Bass und ich ein Konzert in der Hochschule. Das war der Trick, den wir uns ausgedacht hatten: Wir dachten, wir zeigen denen einfach, was wir draufhaben, vielleicht wird ihnen das so in die Nase steigen, dass sie uns richtig in die Mangel nehmen und uns zeigen, wo der Hammer hängt.

Im Saal brodelte es, der Funke sprang über, die Studenten swingten mit, es hielt sie kaum auf ihren Stühlen. In den ersten Reihen saßen die Magnifizenzen und lächel­ten mild. Spätestens an diesem Abend hätte Hörig spüren müssen, dass seine Improvisationslehre mir gegenüber fehl am Platze war, schon gar seine Triolen‑Theorie, denn bei Coltrane und McCoy Tiner, was so meine Richtung war, ging es nur triolig zu. Aber es änderte sich nichts. Aus heutiger Sicht tut er mir leid, dass er so einen Studenten wie mich haben musste.

Nun wurde ich nörgelig. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, meinen geliebten Beethoven gegen eine in der Klavierpädagogik um sich greifende Luschigkeit vertei­digen zu müssen. Mein Musikschullehrer in Magdeburg, Dieter Nathow, wäre sicherlich mit meinem Beethoven­-Spiel noch nicht zufrieden gewesen, sagte ich trotzig, als Hörig wieder mal rasch durchs Material gehen wollte. Den Professor mit einem Lehrer an der Magdeburger Be­zirksmusikschule zu vergleichen – das war natürlich ein dickes Ding! Hörig berief sich auf das Ausbildungsprofil. Wir sollten Tanzmusiker werden und den Beethoven mir 4ursorisch zur Kenntnis nehmen“, also gewissermaßen verinnerlichen, dass es einmal einen Komponisten dieses Namens gab. Darauf ich: „Das ist doch kein Grund, Beethoven wie ein Wildschwein durchzunehmen!“ Und das wars dann. Aber Beethoven war vorerst gerettet. [...]

... und bei Lenz

Wenn es um den Job ging, herrschte bei Lenz Disziplin wie in einer Kadettenschule. Er war ein Feldwebel, der seine Musiker für die künftigen Grabenkämpfe im musi­kalischen Geschäft ausbildete. Wer den von ihm voraus­gesetzten technischen Standard auf dem Instrument nicht gleich erreichte, hatte ein Martyrium zu durchlaufen. Und wie jeden ordentlichen Terroristen interessierte ihn eins nicht – ob man ihn liebte. Tatsächlich gab es genug Gelegenheiten, ihn zu hassen.

Das ging schon beim Organisatorischen los. Wer sich am Treff zur Abfahrt, wo Lenz’ riesiger SIM, eine russische Kreuzung aus Panzer und Stretch‑Limousine für neun Personen plus Kontrabass, warmlief, um fünfzehn Minuten verspätete, musste zum Auftrittsort mit dem Taxi fahren, und wenn es in den Harz war. Ich litt jahrelang unter dem Albtraum, die Abfahrt zu verpassen.

Einmal passierte es dann doch. Ich hatte die Abreise zur DEFA nach Babelsberg verpennt, wo wir Filmmusiken einspielen sollten. Mit dem Taxi, das ich erwischte, ge­lang es mir, den SIM samt Anhänger auf dem Adlergestell einzuholen. Ich winkte, gestikulierte, aber keiner meiner Kollegen würdigte mich auch nur eines Blickes. Da sah ich: Auf meinem Notsitz hockte schon ein Neuer, die Aus­hilfe; ich war so gut wie gefeuert. So gut es aus dem Taxi ging, warf ich flehende Gesten gegen den SIM. Doch ich war offensichtlich Luft für die Kerle. Schließlich stellte sich das Taxi vor sie, und sie mussten anhalten. Ich habe an diesem Tag mein Taxi bezahlt, die Gage für die Aus­hilfe berappt, der Aushilfe ein Taxi spendiert und natür­lich auch noch eine Runde geschmissen. Ich hätte, fi­nanziell gesehen, genauso gut zu Hause bleiben können.

Außerhalb des Jobs aber war Lenz eine sagenhafte Schlampe, Trinker und Anarchist. Man musste ihn vor sich selbst schützen. Einmal kam ich, vor lauter Angst mich zu verspäten, zu früh zu ihm – Treff war in seiner Wohnung in der Thaerstraße. Aus einer Schublade zog er gerade sein „Auftrittshemd“. Der Kragen war so dreckig, als hät­te er in dem Hemd Kohlen ausgetragen.
„Das geht nicht, Lenz“, sagte ich.
„Doch“, sagte er „das wird jetzt gewaschen.“
Er nahm ein Stück Kreide und strich damit den Hemd­kragen ein, befahl mir, mich fünf Meter entfernt zur Be­gutachtung aufzustellen. „Siehste noch was?“, fragte er.
„Nee“, antwortete ich. „Na also“, resümierte er, und die Diskussion war beendet. [...]

Wenn es mit ihm durchging, war er nicht zu bremsen. Nach einer erfolgreichen Tournee an der Ostsee waren wir einmal auf der Landstraße nach Berlin über Pasewalk unterwegs. Es war eine herrlich helle Mondnacht. Der ganze SIM‑Inhalt war ordentlich betrunken, und Lenz fuhr singend schwungvoll Schlängellinien. Dass er fast ei­ne Tonne Ausrüstung im Hänger mitzog, hat er dabei vergessen. In einer großartigen Linkskurve gab es erst ein Knacken und dann machte unser Panzerauto einen spür­bar erleichterten Sprung nach vorn. Die Hängerkupplung war abgerissen. Als wir den Einachser an der hinteren Stoßstange festzurrten, merkten wir, er war leer. Wir fuhren zurück fanden jeweils im Abstand von ein, zwei Kilo­meter eine Box, einen Verstärker, die große Trommel usw. auf der nächtlichen Landstraße stehen. Glückli­cherweise fuhr damals niemand nach Mitternacht Rich­tung Pasewalk – was sollte man auch dort?

Das war dann wieder typisch Lenz: Während wir penn­ten, hatte er morgens um sechs in Pasewalk einen Schmied aufgetrieben, der ihm die Kupplung anschweißte. Als wir, dir Band, verkatert beim Frühstück im Hotel saßen, kam er reingepoltert und schiss uns an, ob wir nicht mehr wüss­ten, dass die Abfahrt definitiv auf neun Uhr festgelegt sei.

Es war schwer mit ihm. In den reichlich anderthalb Jahren, die ich bei ihm spielte, habe ich bestimmt drei Mal gekündigt. Meistens stritten wir uns um die Gage – er war Meister im Verdrängen von Zahlungsterminen. [...]

Fast 20 Jahre Schwedt wegen Wehrkraftzersetzung

Ich gründete [während des Militärdienstes], um mich abzulenken, eine Regiments­-Combo, denn auch der stupideste Offizier braucht ab und zu etwas Firlefanz. Aber das war auch pures Gift für mich und meine militärische Disziplin. Wer einmal Zeuge wurde, wie sich Obristen besaufen, weiß, wovon ich rede. Nie in meinem Leben – und Umtrünke habe ich wahrlich selten ausgelassen – ist mir noch einmal so viel versammelte Primitivität, so ein stumpfes, faschistoides Herrenreiter‑Denken, verklemmte Geilheit, schmierige Sentimentalität und erniedrigende Kumpelhaftigkeit begegnet wie bei abgefüllten Militärs. So sahen sie aus, die stolzen Verteidiger des Sozialismus! So sehen sie bestimmt überall der Welt aus, die Spezialisten fürs Schießen und Töten, vereint in der verpupten Kasernen‑Stuben‑Atmosphäre einer so genannten Kameradschaft.

Und dann passierte es: Auf einem Regimentsball nannte ich den Stabschef leider „ein großes Arschloch“. Das war natürlich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit! Aber eine sehrbillige. Ich hätte sie nicht gesagt, wenn ich nüchtern gewesen wäre. Ein Fehler, der mir nicht nur einmal unterlaufen ist. Der Genosse Generalfeldmarschall, oder wie er sich auch immer nannte, sah mich lange aus wässrigen, blassen Augen an und schwieg. Ich fürchtete, er habe mich in seinem Suff nicht richtig verstanden und ich wiederholte höflicherweise betont langsam: „Sie sind ein großes Arschloch, Genosse.“

Kurz darauf hatten sie mir den Spind ausgeräumt. [...]

Er [mein Vernehmer] rückte ganz nah zu mir heran und sagte lächelnd: „Reinhard, was du im Spind hast, das ist Wehrkraftzersetzung. Du infil­trierst mit dem Zeug ja deine Genossen. Und das gerade jetzt, bei dieser internationalen Lage! Dafür wanderst du nach Schwedt, das gibt zwanzig Jahre.“

Ich dachte sofort: Mein Gott, da bin ich ja vierzig, bis ich wieder rauskomme. Angst stieg in mir hoch, ich kotzte ­mich selber an. Plötzlich packte mich die Wut, und ich schrie: „An den Biermann traut ihr euch nicht ran! Aber einem, der nur seine Lieder singt, dem rückt ihr auf die Pelle! Ihr seid ja so ein Schweine‑Pack!“

„Brüllen sie nur, Genosse Soldat“, sagte der V 1, „wir sind nicht nachtragend. Wir glauben an das Gute im Menschen.“ Diese Leute sagten immer „wir“. Sie sprachen quasi im Namen der Kommunistischen Internationale und der siegreichen Arbeiterklasse in aller Welt.

Tränenüberströmt sprang ich auf, stieß einen Urlaut aus, kippte den Tisch um und rannte aus dem Raum. Na schön, dachte ich, wann kommt man sonst schon so bequem mal nach Schwedt!

Aber nichts geschah. Man ließ mich plötzlich in Ruhe, schob mich auf eine „Eierschaukel“ ab – so hießen die Posten, wo man Unterhosen sortierte oder Karteikarten anlegte. [...]

Kunst, Feindseligkeiten und Freundschaften

Ich habe gelernt, dass die Kunst gerade darin besteht, es nicht allen recht machen zu wollen. Neulich habe ich ei­nen schlauen Artikel darüber gelesen, was eigentlich ein „Kult“ ist, wie er für die Mediengesellschaft alle Nase lang „kreiert“ wird: Kult ist, wenn das Publikum in Streit gerät (und der wird heute vom Fernsehen industriell herge­stellt). So gesehen, war ich „kultig“, aber nie „beliebt“ wie etwa unser aller Frank Schöbel. Für mein seelisches Gleichgewicht brauche ich auch all diese jubilierenden Beiwörter nicht. Für meine Leute bin ich Lacky und ba­sta.

Im DDR‑Kleinbürgertum gab es eine knallharte Vor­stellung davon, was als „ordentlich“ zu gelten hatte und was nicht. Da hatten die Propagandisten der Kleinbür­gerregierung, allen voran Karl‑Eduard von Schnitzler, über Generationen hinweg ganze Arbeit geleistet! Es gab Leute, die schäumten vor Abscheu, wenn ich ihnen nur vor die Linse trat. Auf der Straße, vor allem in Karl‑Marx-Stadt oder Suhl, wäre man vor einem Leprakranken nicht heftiger zurückgewichen als vor mir. „Scher dich zum Frisör!“, war das mildeste, was ich zu hören bekam, und zwar nicht etwa obwohl, sondern weil die Leute mich erkannten. Aber es waren zum Glück immer nur einzelne, die sich geifernd auf mich stürzten. [...]

Im Interhotel „Vier Tore“ in Neubrandenburg bestellte ich eines Morgens in einem gähnend leeren Frühstücksraum ein Rührei, was der Kellner mit dem Satz quittierte: „Herr Lakomy, es steht Ihnen frei, zum Frisör zu gehen, wenn sie hier bedient werden wollen.“

Aber am meisten enttäuscht war ich von meinem Nachbarsvolk in der Choriner. Ehrlich, als meine Titel auf allen Sendern gespielt wurden, man über mich in der Zeitung schrieb, hatte ich gehofft, sie würden ein wenig netter zu mir sein. Das war eine Illusion: Als sie gewahr wurden, dass jemand mit diesem Aussehen, schlimmer als die Beatles!, und dieser lockeren Lebensführung auch noch Erfolg haben konnte, brach ihre kleine sozialistische Welt zusammen, und einige gingen zu offener Feindseligkeit über.

Nur die Kinder machten da eine Ausnahme und scherten sich einen Dreck um die Ordnungsvorstellungen der Alten. Sie lümmelten oft um meinen Flügel herum, den ich mir gekauft hatte, und hinterließen Spuren von Rotz und klebrigen Schnuten. Bald kriegte ich auch mit, dass sie einen schwunghaften Tauschhandel mit Autogrammpostkarten unterhielten. Ich musste aufpassen, dass ich nicht zu viele Autogramme emittierte, damit sich mein Kurs nicht verschlechterte. In meinen besten Zeiten musste man drei Monika Herz und zwei Schöbel hinlegen, wenn man einen Lakomy haben wollte. [...]

Einmal, unmittelbar nach der „Wende“, wartete ich hinter der zugigen Freilichtbühne vom FEZ auf meinen Auftritt zu einem großen Benefizkonzert zugunsten von ich weiß nicht mehr. Lippi machte nette Überleitungen, Frank Zander kam schon das zweite Mal zum Bühneneingang herein, weil ihn beim ersten Mal keiner bemerkte, Moni kämmte dem kleinen Jungen einer merkwürdig gewandeten Kelly-Family das verfitzte Blondhaar, die Schauspielerin Steffi Spira wurde zur Bühne geleitet, ihr angerauhter Unterrock guckte vor, wir froren alle jämmerlich, das Catering war miserabel. Aber ich hatte meinen Kleinbus dabei, inklusive Kaffeemaschine. So bot ich dem gottserbärmlich bibbernden Kollegen neben mir einen Heißen an, und der sagte: „Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mir mal der Lakomy einen Kaffee macht!“ Er kannte alle meine Lieder. Der Mann hieß Rio Reiser. [...]

Streit mit Honecker und ein Spaß mit dem FDJ-Chef

Manchmal schickte unser Vaterland seine Lieblingsinterpreten auch zu großen internationalen Wettbewerben. Sie hatten dort einen Preis zu holen, der die Überlegenheit des sozialistischen Weltsystems einmal mehr beweisen würde. So reisten Monika Hauff und Klaus‑Dieter Henkler nach Paris und sangen dort das wirklich schöne Lied „Als ich dich heute wieder sah“. Das „Neue Deutschland“ vermeldete einen Sieg in der internationalen Klassenauseinandersetzung – das sympathische Duo hatte den Grand Prix gewonnen, Preisgeld 10 000 DM!

Die Sache hatte nur einen kleinen Haken: Das Festival in Paris war gar kein Interpretenfestival, sondern ein Autorenwettbewerb gewesen. Und die Autoren hießen Reinhard Lakomy und Fred Gertz. Das Maß war voll. Wutentbrannt schrieben mein Texter und ich an Erich Honnecker. Und das war wohl das erste Mal, dass zwei Leute aus unserer Szene, die nie „verreisen“ durften, in der DDR einen Devisenbatzen von immerhin je 2500 DM verdienten, ausgezahlt in Forum‑Schecks. [...]

Bei einer Fernsehaufzeichnung innerhalb des Festivals erschien auch der FDJ‑Chef, der für sein stereotypes Grinsen viel verspottete Günter Jahn. Nach meinem Bühnenauftritt, und nun bei weitem nicht mehr nüchtern, setzte ich mich neben ihn, begrüßte ihn freundlich, um ihn dann fast eine halbe Stunde lang für die Politik der SED zu beschimpfen. Aber eben sehr leise, mit heiter-verbindlichem Gesichtsausdruck. Und weil er gewohnheitsmäßig sein Grinsen nicht lassen konnte, schöpften seine Beschützer keinen Verdacht, wähnten uns im herzlichen Dialog über Gott und die Welt, und keiner kam auf die Idee, ihn aus dieser misslichen Lage zu befreien. Dafür kriegte unter seiner Ägide den FDJ‑Kunstpreis nicht ich, sondern mein Texter allein. [...]

Zwischenfall im Interhotel und ein Schock für die Bonzen

Das Interhotel, das war die DDR in nuce. Das weltmännische Imponiergehabe und der Geruch nach Wofasept, die Heizung, die sich kaum regulieren ließ, die Fenster, die schlecht schlossen, die kleinbürgerlich‑protzige Sitzgruppenarchitektur, „Sie werden platziert!“, das Schweinsmedaillon mit Kroketten und Sättigungsbeilage, die albernen Mixgetränke, das Gummikissen „für unsere kleinen Gäste“ im Restaurant, der gesetzlich festgelegte Ausschankschluss, wo plötzlich die Lichter ausgeknipst und die Stühle hochgestellt wurden [...]. Und über al­lem der schöne Schein: Wir sind die größte DDR der Welt.

Man konnte diesen Umgang nicht über Jahre ertragen, ohne Risse zu kriegen in der Seele. Auf der einen Seite die große Hoffnung, dass das Land fliegen lernt, vom Boden hochkommt zu richtigem Sozialismus, und auf der anderen Seite die ständige Konfrontation mit der Arroganz der Macht.

Es war Spätsommer 1976. Im Interhotel „Kongress“ in Karl‑Marx‑Stadt saßen wir – neun Personen – nach einem Konzert am Tisch. Das Restaurant war fast leer. Wir wa­ren aufgedreht und fröhlich hereingekommen, dann wur­den wir von Minute zu Minute stiller: Die Kellner gingen immer wieder demonstrativ an unserem Tisch vorbei. Nach dreißig Minuten ließ er sich herab, eine Bestellung aufzunehmen. Wir wollten essen, und die Auskunft hieß: Wir haben soeben Küchenschluss. Ich protestierte, und da kam die Antwort, die die ganze DDR beschreibt: „Sie dürfen nicht denken, Herr Lakomy, dass wir nur für Sie da sind!“ Für wen denn sonst, verdammt noch mal! Bin ich kein Gast? Ich rastete aus, schrie den Laffen an.

Die Leiterin des Restaurantkollektivs erschien, eine streng fri­sierte Dame in jenem Einheitskostüm, an dem sich Kaderleiterinnen, Schuldirektorinnen, Richterinnen und Dozentinnen für Wissenschaftlichen Kommunismus erkannten. Sie trug ihr Parteiabzeichen am Revers. Sie erklärte mir, der Küchenschluss sei gesetzlich geregelt, und das gelte „auch für so genannte Unterhaltungskünstler“. Ich wiederum riet ihr, das Parteiabzeichen schleunigst abzunehmen, damit sich ihre Partei nicht für sie schämen müsse. Wenige Minuten später wurde das Licht im Lokal gelöscht, und wir saßen durstig und hungrig im Dunkeln.

Die Sache hatte ein Nachspiel. Die Kommissarin des Interhotel‑Lokals hatte in einer Beschwerde an die Generaldirektion für Unterhaltungskunst glaubhaft gemacht, Herr Lakomy habe sie öffentlich aufgefordert, das Parteiabzeichen der SED abzulegen und gedroht „er würde es mir sonst herunterreißen.“ Es war ganz klar, in welche Richtung das ging: Lakomy griff in Karl‑Marx‑Stadt öffentlich die Partei an, den Sozialismus überhaupt! Treue Genossen waren vor ihm nicht mehr sicher.

Die Sache war ernst, sehr ernst. Selbstverständlich glaubte man der tapferen, an der Interhotelfront gestählten Genossin, nicht dem parteilosen Künstler, auch wenn der acht Zeugen aufbieten konnte (die man aber nicht anhörte, denn das waren ja meine Kumpels). Bei dem großangelegten Verfahren ließ man durchblicken, dass mein Vergehen durchaus auch den Strafrechtsparagraphen „öffentliche Herabwürdigung“ erfülle. Ich wäre nicht der erste gewesen, der wegen sowas in die sozialistische Produktion geschickt wurde zur Bewährung oder in den Knast. [...]

Für mich gab es nur einen Weg, mir treu zu bleiben und nicht zu Kreuze zu kriechen – ich musste ihren Herrschaftsallüren zuvorkommen. Als ich das begriffen hatte, wurde ich auf einmal ganz ruhig – man kann einem Men­schen nicht nehmen, was er nicht zu verlieren hat: Ich erklärte ungerührt, dass ich nicht die Absicht habe, in die­sem Lande weiterhin öffentlich aufzutreten.

„Wie dürfen wir denn das nun wieder verstehen, Lacky?“

„So, wie ich's sage: Schluss. Aus.“

Betretenes Schweigen, lange. [...]

Der ganz große Erfolg – und die „Wende“

Unsere erste Kinder‑LP, die „Geschichtenlieder“ (1978) wurde ein unglaublicher Erfolg. Kaum einer hatte das erwartet. Am wenigsten die drei Schauspieler, die auf der Platte sprachen. Sie wandten sich „als Kollektiv“ sogar mit der Bitte an Amiga, ihre Namen auf dem Cover nicht zu erwähnen – sie hatten Angst, die Sache würde floppen. Dieser Bitte haben wir bis heute entsprochen.

„Amiga“ war mit den Nachauflagen völlig überfordert. In den Schallplattenläden wurde unser Werk zur Bückware (meine westdeutschen Leser/innen fragen bitte ostdeutsche/n Freund/innen, was das war). Die Lieder sangen sich schnell überall herum. Es war, als hätten die Kinder nur auf so eine Musik gewartet. Eigentlich war es gar keine Kindermusik – ich komponierte einfach, was und wie es mir gefiel, experimentierte viel, baute Geräusche ein. Vor allem konnte ich in dieser Arbeit die ersten Möglichkeiten der elektronischen Musik ausprobieren – was in der nächsten Zeit eine meiner Obsessionen werden sollte.

Die „Geschichtenlieder“ waren der Auslöser unserer nun schon 22 Jahre währenden Arbeit für Kinder. Sie zogen viele andere Projekte nach. Zum Beispiel die Kinderrevuen im alten und dann im neuen Friedrichstadtpalast von 1978 bis 1991, die Moni schrieb, ich komponierte und Volkmar Neumann in Szene setzte. [...]

Nach dreizehn Jahren endete Monis und meine Arbeit für das Kinderensemble des Palastes auf eine Weise, die mir noch heute die Schamesröte ins Gesicht treibt, wenn ich daran denke – ich schäme mich nicht für mich, son­dern für andere und auch für das, was aus meinem Land geworden war. Es war im März 1991. Alles, auch das La­chen und die Begeisterung der Kinder, wurde bereits in „barer, nackter Zahlung“ gemessen, wie Marx das be­schrieben hat. „Das rechnet sich nicht“ hätte der

Wir saßen dem neuen Intendanten in seinem Büro ge­genüber. Fahrig griff er plötzlich hinter sich, holte eine Flasche Weißwein aus einem Pappkarton und reckte sie uns entgegen. „Danke für die Zusammenarbeit“, stieß er wie gehetzt hervor. Dann guckte er uns an, als sei er sich nicht sicher, ob wir begriffen hatten. Doch, doch wir hat­ten: Das war das Zeichen, dass jetzt „alles anders“ ist und beispielsweise Künstler wie wir, die in der DDR viel Erfolg gehabt hatten und vom Publikum geliebt wurden, jetzt verschwinden sollten – nicht obwohl wir Erfolg gehabt hatten, sondern weil.

Die Flasche haben wir nicht entkorkt (wer will schon das Kotzen kriegen). Ich habe sie noch. Es ist auch kein übermäßig guter Wein. Vielleicht kommt der Tag, wo ich ihn mal jemanden unter die Nase halten und gucken kann, ob er begreift, sich erinnert ...

Bei „Amiga“ hatten wir nach den „Geschichtenliedern“ so etwas wie ein Abonnement. Alle zwei Jahre erschien eine neue Geschichtenliederplatte. Aber nicht das war das Überraschende! Überraschend war die Hingabe unseres kleinen – aber zahlenmäßig großen – Publikums. Die Kinder liebten die Figuren unserer Lieder, nahmen sie auf in ihr Leben. [...]

Man kann schon sagen: eine Sensation war der Erfolg von „Der Traumzauberbaum“ 1980. Wahrscheinlich ist er bis heute das meistgespielte Kinderstück Deutschlands. Moosmutzel und Waldwuffel wurden zu dem, was man heute „Kultfiguren“ nennt. Nur, dass bei uns noch nicht so eine Industrie dahinterstand, das Merchandising, das die Figuren in jeder nur denkbaren Form und in jedem Medium vermarktet. Bei uns haben sich die Kinder ihre T‑Shirts mit dem Traumzauberbaum noch selber bemalt. [...]

Die „Wende“ II

Eines Tages betrat eine Frau einen gutbeleumundeten Musikalienladen in Ost‑Berlin und fragte, ob sie dort wohl Platten von Reinhard Lakomy hätten. Ein Vierteljahr zuvor hätte sie ob dieser Frage ein resigniertes Kopf­schütteln oder auch ein routiniertes „Hammwanich!“ geerntet. Vielleicht hätte sich der Verkäufer aber auch verstohlen umgeschaut, der Kundin verschwörerisch zu­geblinzelt, wäre hinterm Regal verschwunden und nach kurzer Zeit mit einer blickdicht verpackten Ware wieder aufgetaucht.

Aber jetzt war das anders. Jetzt brüllte der Händler nach hinten, wo seine Gattin oder eine Gehilfin zu vermuten war: „Hol mal das Zeug von dem Lakomy hoch! Ja, alles, alles raus für die neue Ware!“

Hochholen? Da also war das Versteck für die heißen Platten. Aber jetzt waren sie über alle Maßen wohlfeil: „Der Traumzauberbaum kostete 3 Mark West, immerhin so viel, wie neuerdings ein Laib Brot kostete – aber ein Bier am Tresen war schon teurer.

Der Händler stand, um die Geschichte zu konkretisieren, im Plattenladen „Fechner“ in Berlin‑Pankow. Die ­neue Ware – das war „Benjamin Blümchen“ und – „Bibi Blocksberg“, und sie passte in die neue Welt. Die Frau im Laden aber war meine Frau.

Jeder Ostdeutsche hat die Wende an der eigenen Seele erlebt. Das, was sich die Seele aus diesen Wochen und Monaten gemekrt hat, hat logischerweise wenig mit dem zu tun, was uns die westdeutschen Meinungsführer in die Geschichtsbücher schreiben und woraus sie Chroniken der Wende basteln lassen. Monis Wende fand an diesem Tag in „Fechners Plattenladen“ statt. [...]

[Wenige Monate zuvor]. Als mein Radio aber meldete, dass sich in einem Hauptstadt‑Distrikt namens Lichtenberg Rockmusiker in einer Kirche zusammengetan und allerhand mutige Resolutionen ausgerufen hätten, wurde ich hellwach: Ich sah sie alle vor mir, die Kollegen, liebe Leute zumeist, die sich im Komitee für Unterhaltungskunst um die mageren Pfründe stritten. Klar, auch sie litten an der DDR, an Bevormundung, Mauer und verhinderter Glasnost und daran, dass die DDR immer mehr Menschen verlor. Aber ihr Leidensdruck war offenbar doch immer erträglich gewesen – durch beson­deren Mut war mir jedenfalls keiner aufgefallen. Und nun standen sie auf den Barrikaden, als seien sie dahin geboren! Jetzt erst, Jahre später, können wir aus ihren Super‑Illu‑Interviews erfahren, wie sie innerlich schon immer auf der Barrikade standen. [...]

Denke ich an diese Wochen zurück, will sich das Gefühl der Erhabenheit bei mir nicht recht einstellen. Manches ist mir sogar peinlich, und nachgerade einen Koller kriege ich, wenn sich die westdeutsche Politprominenz bei diversen nationalpatriotischen Gedenkfeiern bei uns Ossis für die Revolution bedankt, uns Helden nennt und unseren Mut bewundert. Ich glaube, hinter den Kulissen ihrer Propagandaaufzüge lachen die sich ins Fäustchen: so ein schafsdummes Völkchen, das sich widerstandslos – und verraten von windigen Geestalten, wie unserem ostdeutschen „Verhandlungsführer“ Günter Krause übergibt, wo findet man das noch einmal!

Während wir uns auf dem Alex am 4. November mit feuchten Händchen und klopfenden Herzchen aneinanderkuschelten, mutige Sprüche hochhielten, schönen Sätzen und selbstgestrickten Liedern lauschten und davon träumten, wie hübsch wir es uns in einer besseren DDR machen würden, haben die Herren im Westen schon ihre Drückerkolonnen für die Zone requiriert, haben sich alle großen westlichen Geheimdienste in Ost‑Berlin bedient, und bei der NATO in Brüssel hat man schon mal spaßeshalber die Fähnchen auf der Landkarte der politischen Geografie umgesteckt.

Ach, und unser Mut! Natürlich kamen wir uns verdammt mutig vor, als wir am 4. November 1989 beim Staatsratsgebäude um die Ecke bogen und die Staatsdiener blass hinter den Fenstern der Ministerien stehen sahen. Aber wo ist denn unser Mut in den letzten zehn Jahren geblieben, wo der Mut der scheinbar auf Mut abonnierten Bürgerrechtler? Wenn ich Mut höre, dann fällt mir ein, dass sich 1993 Frauen in der Nähe meiner Heimatstadt Magdeburg sterilisieren ließen, weil der Unternehmer sie sonst nicht genommen hätte.

„Wir waren das Volk.“ – am 4. November 1999 haushoch am Haus des Lehrers am Alexanderplatz zu lesen: Kann man es besser sagen? [...]

Belogen, betrogen und absichtlich „vergessen“

Doch nicht nur die Mauer fiel, auch sonst blieb kein Stein mehr auf dem andern. Überall kam jetzt ans Licht, wohin das arrogante Bonzenwesen der angeblichen Arbeiterpartei die Gesellschaft DDR gebracht hatte. Ich er­lebte das Ausmaß der Korruption, der Willkür und des Gesetzesbruchs in einem winzigen Bereich hautnah: in der AWA. Das war die Urheberrechts‑Gesellschaft auf dem Gebiet der Musik, die Inkassogesellschaft für Komponisten und Texter. [...]

Kurz und gut, die AWA hatte in den vergangenen 10 Jahren 365 000 Mark an die Deutsche Schallplatte rücküberwiesen, und dieses Geld hätte an Moni weitergereicht werden müssen. Als Moni diese Zahl hörte, wurde sie blass. Der VEB Deutsche Schallplatte hatte sie all die Jahre wissentlich beschissen. Nun wussten wir auch, warum die Platten nicht einge­stampft worden waren, als erst Vroni Fischer in den Westen ging und dann die Lütte. René Büttner, für die Belange der Abteilung Amiga, die unsere Platten produzierte, zu­ständig, hatte schließlich Mathematik studiert.

Jetzt wollten wir’s wissen: Ist das ein Rechtsstaat, oder nennt er sich nur so? Zum Rechtsstaat gehört der Rechts­anwalt wie die Fliege aufs Marmeladenbrot. Der sagte: „Kein Problem. Das Geld könnt ihr sozusagen schon ausgeben.“

Ach, wie naiv wir waren! Es spielte sich alles so ab, wie in dem Hochhuth‑Stück „Wessis in Weimar“: Der Volks-Eigene‑Betrieb Deutsche Schallplatte wurde samt Immobilie (früher zum Reichstag gehörig) für das Wendezahlungsmittel „Appel und Ei“ an einen Bremer Autohändler vergeben, Verträge aus der DDR gelten weiter, egal wie sittenwidrig sie sind. Und auch alle unsere Platten und die Rechte an ihnen wurden nicht etwa zuerst uns angeboten, sondern an einen Westberliner Bankrotteur verscheuert, der sich das gesamte Kinderrepertoire unter den Nagel gerissen hatte. Wir waren weniger als nichts. [...]

Nein, ich habe keine Vorurteile gegenüber Wessis! Was ich habe, sind durch leidvolle Erfahrungen in meinem ureigenen Metier geprägte Urteile, und die fallen leider nicht gut aus. Zehn Jahre lang Erfahrung mit jener Art „Geschäftstätigkeit“, die den Partner immer nur als feindliches Objekt behandelt und mit jenem Zynismus, der den Musikmanagern ein herablassendes Lächeln ins Gesicht steigen lässt, sobald man nach künstlerischer Qualität, nach Originalität oder auch nur nach sauberem Handwerk fragt.

In diesem Zusammenhang sei unbedingt meine Bühnenpartnerin Carmen Hatschi erwähnt. In den letzten Jahren hat sie sich zu einer starken Entertainerin entwickelt, die mühelos große Säle voll Kinder und Erwachsene in den Griff bekommt. Sie hat etwas, was man nicht lernen kann: ein riesengroßes Herz und eine seltene Begabung, sich Kindern zu nähern. Und sie hat Witz, kann das Publikum zum Lachen bringen, und das können nicht viele. Carmen wäre eine ungeheure Bereicherung für so manche Kinder‑Fern­sehsendung.

Aber wen, außer unseren treuen Veranstaltern und un­serem treuen Publikum, interessiert das überhaupt? Das Fernsehen ignoriert uns beide stoisch, statt dessen sieht man Rolf Zukowski, Michael Schanze oder den Disney‑Club. In den Karteien der Sender existieren wir wahr­scheinlich gar nicht. [...]

Die Wut über die Arroganz der Macht

1993 bin ich auch meinem Vorsatz untreu geworden als Sänger nur noch für die Kinder da sein zu wollen. Es war die blanke Wut, die Moni und mich dazu trieb. Moni hat diese Wut in herrlich böse satirische Verse gegossen. So entstand „Die 6‑Uhr‑13‑Bahn.“ In der Deutschen Schallplatte, der ich die Produktion anbot, hob der Chef, ein gründlich gewendeter FDJ‑Funktionär, die Hände und sagte doch tatsächlich jenen schönen Satz, den ich bei der Auseinandersetzung mit Funktionären in jedem zweiten Kreiskulturhaus früher gehört hatte: „Das wollen unsere Menschen nicht.“ Ist es nicht schön, dass es immer wieder Menschen gibt, die bestimmen, was unsere Menschen wollen? [...]

Im Booklet zur „6‑Uhr‑13‑Bahn“ schrieb ich: „Als ich im Mai 1977 in Meißen mein letztes Konzert als Sänger Lakomy zelebrierte, mich von da ab mit Vehemenz der elektronischen Musik und der Musik für Kinder widme­te, war es beschlossene Sache, als Sänger nur noch den Kindern zur Verfügung zu stehen. Das wäre auch so ge­blieben, hätte sich die Welt um uns herum nicht in so ra­santer Weise drastisch verändert.

Ich habe eine sehr lange Zeit meines Lebens für die Er­kenntnis gebraucht, dass die Gesellschaftsform des So­zialismus ohne Alternative ist, wenn es uns wahrhaftig um die Zukunft unserer Kinder auf dem blauen Planeten geht. Es nützt nichts, diese Gesellschaftsform als solche an den Pranger zu stellen. Ein hoffnungsvoller Sozialis­musversuch ist, auch dank der anmaßenden lemurenhaften Rezeptbesitzer, gescheitert, wir wollten diesen ver­fahrenen Sozialismus nicht. Aber alles ist in Bewegung, so wie es jetzt ist, bleibt es auch nicht.

Meine Heimat ist der Osten Deutschlands, speziell Ber­lin, ganz speziell Berlin‑Blankenburg. Ich empfinde alle meine Jahre hier im Osten als Wurzeln meiner kreativen Kraft. Gerade jetzt spüre ich das regelrecht mit Genug­tuung. Wir brauchen keine DDR‑Nostalgie, aber wir soll­ten viele Dinge behalten aus einer Zeit, wo wir alle ein we­nig aufeinander angewiesen waren.“

Die Wut ist nicht kleiner geworden. Nur kann man eben nicht immer wütend sein. Manches, beispielsweise wie sich diese angeblich beste aller Demokratien selber entblößt, beobachte ich mit Schadenfreude. Im Vergleich zur DDR ist der Unsinn nicht weniger geworden. Er kommt immer dann hervor, wenn Machtmenschen, Ideo­logen und Technokraten das Sagen haben. [...]

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Alle Geschichten, auch die kleinen, haben einen Schluss, einen guten oder bösen: Eines Tages brauchte ich ein Mikrofonkabel, und zwar sofort. Der nächste erreichbare einschlägige Laden war „Fechner“ in Pankow. Ich trat ein, wurde vom Chef überaus freundlich begrüßt, und, noch ehe ich mein Begehr vortragen konnte, beschenkt mit dem Ausruf: „Herr Lakomy, wann sind denn endlich wieder ihre Sachen auf dem Markt! Diese ‚Benjamin-Blümchen‑Kacke’, das ist ja unerträglich!“

Ist das nun ein guter oder ein böser Schluss?