Novalis: Fragmente und Studien

Quellen: Novalis Werke, hrsg. von Gerhard Schulz, Verlag C.H. Beck 1981. | Projekt Gutenberg (Blütenstaub, Fragmente).

Anmerkung: Zählung und Schreibweise nach "Novalis Werke" von G. Schulz. Die Interpunktion von Novalis ist teilweise anders als die heutige. Kursivdruck gibt Unterstreichungen wieder.

Frühe Fragmente und Studien

[bis 1797]

24. Die Kraft das Allgemeine zu denken, ist die philosophische Kraft. Die Kraft, das Besondre zu denken die dichterische. [...]

31. Pflichten gegen die Menschen – Attention – L i e b e – Nachgiebigkeit. Was sie reden, gehe dir nichts an.

36. [...] Unsre pedantischen Grundsätze. /Was gefällt – was mißfällt uns – was zieht uns an – was stößt uns ab – Realität der menschlichen Phantasie und d[es] Willens. Freiheit der Selbstbestimmung des Schicksals etc. Mich muß sogar das mir Unangenehme an andern Menschen interessieren.

37. Tadle nichts Menschliches. Alles ist gut nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für alle. [...]

38. Man muß anfangen und aufhören können, wann man will – oder man muß sich einen Willen anschaffen. [...]

43. [...] Das Sein steht im Verhältnisse mit den Eigenschaften. Es ist also kein Ding etwas mehr für uns, als der Inbegriff der von uns erkannten Eigenschaften. Ein Ding kann mehr oder weniger sein – nur das All  i s t  a b s o l u t. Wir selbst sind nur, insoweit wir uns erkennen. [...]

45. [...] Unser Ich ist Gattung und Einzelnes – allg[emein] und bes[onders]. Die zufällige, oder einzelne Form unsers Ich hört nur für die einzelne Form auf – der Tod macht nur dem Egoismus ein Ende. Die einzelne Form bleibt nur für das Ganze, insofern sie eine Allgemeine geworden war. Wir sprechen vom Ich – als Einem, und es sind doch Zwei, die durchaus verschieden sind – aber absolute Correlata. Das Zufällige muß schwinden, das Gute muß bleiben. Das Zufällige war zufällig, das wesentliche bleibt wesentlich. [...]

51. Sollten wir nur die Materie des Geistes, und den Geist der Materie kennen lernen.

52. Vernunft und Phantasie ist Religion – Vernunft und Verstand ist Wissenschaft.

57. Inwiefern erreichen wir das Ideal nie? Insofern es sich selbst vernichten würde. Um die Wirkung eines Ideals zu tun, darf es nicht in der Sphäre der gemeinen Realität stehn. [...]

58. [...] Begriff und Anschauung sind eins, wenn man sie aufs Ich bezieht, getrennt, wenn man auf beide reflektiert, ohne sie aufs Ich zu beziehn. [...] Die freie Reflexion geht auf Nichtich – die bestimmte Reflexion aufs Ich. [...] Dort ist es als Intelligenz, hier, als reines Ich, frei. Dort trennt es seine reflektierende Tätigkeit von seinem Wesen – es geht aus sich heraus – hier vereinigt es beide – es geht in sich hinein. [...] Alle Erkenntnis soll Moralität bewirken – der moralische Trieb, der Trieb nach Freiheit die Erkenntnis veranlassen./ Frei sein ist die Tendenz des Ich – das Vermögen frei zu sein ist die produktive Imagination – Harmonie ist die Bedingung ihrer Tätigkeit – des Schwebens, zwischen Entgegengesetztem. [...] Aus diesem Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Obj[ekt] und Subjekt sind durch ihn, nicht er d[urch] sie. [...]

59. Die Moralität muß Kern unsers Daseins sein, wenn sie uns sein soll, was sie sein will. Ideal des Seins muß ihr Zweck, ihr Ursprung sein. Eine unendliche Realisierung des Seins wäre die Bestimmung des Ichs. [...] Die höchste Philosophie ist Ethik. Darum fängt alle Philosophie vom „Ich bin“ an. [...]
/Sein, Ich-sein, Frei-sein und Schweben sind Synonymen – ein Ausdruck bezieht sich auf den andern – es ist nur von Einer Tatsache die Rede – es sind nur Prädikate des einzigen Begriffs Ich – Begriff und Tatsache sind aber hier eins. Ich ist unbegreiflich, weil es schon, indem es ist, sein Begriff ist – mit seinem Sein ist sein einzigmöglicher Begriff gegeben/ [...]

60. [...] Die Zeit kann nie aufhören – Wegdenken können wir die Zeit nicht – denn die Zeit ist ja Bedingung des denkenden Wesens – die Zeit hört nur mit dem Denken auf. Denken außer der Zeit ist ein Unding.

69. [...] Jedes läßt sich zum bestimmenden Punkte erheben, wenn man von ihm nach allen Seiten ausgeht und alles auf ihn reduziert. Es läßt sich aus einer Nußschale machen, was sich aus Gott machen laßt. Jede Fixierung Eines Objekts etc. ist so richtig, aber auch so ungerecht, wie eine alleinseligmachende Religion – der Mensch nimmt sich mehr damit heraus, als ihm seine Menschheit erlaubt – ohnerachtet er damit alles machen kann, was er will. [...] Wir müssen suchen eine innre Welt zu schaffen, die eigentlicher Pendant der äußern Welt ist – die, indem sie ihr auf allen Punkten bestimmt entgegengesetzt wird, unsre Freiheit immer mehr erweitert. Denn unsre Freiheit geht notwendig von Bestimmung aus – je mehr wir uns unsrer Bestimmungen entledigen, desto freier werden wir. Alle Bestimmungen gehn aus uns heraus – wir schaffen eine Welt aus uns heraus – und werden damit immer freier, da Freiheit nur im Gegensatze einer Welt denkbar ist – je mehr wir bestimmen, aus uns heraus legen – desto freier – substantieller werden wir – wir legen gleichsam das Beiwesen immer mehr ab und nähern uns dem durchaus reinen, einfachen Wesen unsres Ich. Unsre Kraft hat um so viel Spielraum gekriegt, als sie Welt unter sich hat. Da unsre Natur aber, oder die Fülle unsers Wesens unendlich ist, so können wir nicht in der Zeit dieses Ziel erreichen – Da wir aber auch in einer Sphäre außer der Zeit sind, so müssen wir es da in jedem Augenblick erreichen, oder vielmehr, wenn wir wollen, in dieser Sphäre reine, einfache Substanz sein können. [...]

71. [...] Die unendliche Idee unsrer Freiheit involviert auch eine unendliche Reihe unsrer Erscheinungen in einer Sinnenwelt – wir werden nicht an die einzige Erscheinung in unsrem irdischen Körper auf diesem Planeten gebunden sein./ Überall sind drei Sphären. Sie sind nur in Rücksicht ihrer selbst bestimmt – ihre Wirksamkeit ist so verschieden als die Teile der Unendlichkeit. Sie sind aber immer dieselben – der Stoff und die Form ihrer Erscheinungen mag so verschieden sein, als er will. Sie sind in Rücksicht auf ihre jedesmalige Bestimmung vollkommen indifferent. Sie sind, was sie sind, sie tun, was sie tun, sie leiden, was sie leiden, lediglich ihrer selbst willen – Um realisiert zu werden, müssen sie sich einzeln anwenden lassen – i. e. im einzelnen erscheinen – aber dennoch sind sie und bleiben sie ewig unentjungfert – ewig sie selbst, ungeteilt und frei./ So ist es mit allen Ideen. Ihre Erscheinung scheint sie nur zu verwandeln./ So ist es mit der Menschheit / – Sie ist im ganzen und einzelnen – dieselbe./ Die Ideen erheben zu sich – sie lassen sich nicht herab: / Prinzip der Vervollkommnung in der Menschheit – die Menschheit wäre nicht Menschheit, wenn nicht ein tausendjähriges Reich kommen müßte. Das Prinzip ist in jeder Kleinigkeit des Alltagslebens – in allem sichtbar. Das Wahre erhält sich immer – das Gute dringt durch – der Mensch kommt wieder empor – die Kunst bildet sich – die Wissenschaft entsteht – und nur das Zufällige, das Individuale verschwindet – es ist der Kampf des Vergänglichen mit dem Bleibenden – endlich lernt Herkules die immer wachsende Hydra doch töten – endlich muß der Sieg a l'ordre du jour werden – Resultat der berechnetsten, genauesten Kunst – Die Kunst muß über die rohe Masse triumphieren – Übung macht den Meister./ Weisheitskunst und Weisheitswissenschaft./ [...]

72. Über die Menschheit. Ihre reine vollständige Ausbildung muß erst zur Kunst des Individui werden – und von da erst in die großen Völkermassen und dann in die Gattung übergehn. Inwiefern ist sie ein Individuum?

73. [...] Wenn man aber bisher noch nicht philosophiert hätte? sondern nur zu philosophieren versucht hätte? – so wäre die bisherige Gesch[ichte] d[er] Philosophie nichts weniger, als dies sondern nichts weiter, als eine Geschichte der Entdeckungsversuche des Philosophierens. [...]

74. [...] Die echte Wahrheit muß ihrer Natur nach, wegweisend sein. Es kommt also nur darauf an jemand auf den rechten Weg zu bringen, oder besser, ihm eine bestimmte Richtung auf die Wahrheit zu geben. Er gelangt dann von selbst, wenn er anders tätig ist, begierig, zur Wahrheit zu gelangen, an Ort und Stelle. [...]

77. Ich habe zu Söphchen Religion – nicht Liebe. Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete, ist Religion.

81. Alle absolute Empfindung ist religiös. [...]

83. Sollen Körper und Seele vielleicht auf gewisse Weise getrennt sein – und ist es nicht Schwäche, wenn jede Affektion des einen gleich auch Affektion des andern ist – ohne Dazwischenkunft des Willens?

Vermischte Bemerkungen (Urfassung von „Blütenstaub“)

[bis Februar 1798]

5. Der Geist führt einen ewigen Selbstbeweis.

7. Gewisse Hemmungen gleichen den Griffen eines Flötenspielers, der um verschiedene Töne hervorzubringen, bald diese, bald jene Öffnung zuhält, und willkürliche Verkettungen stummer und tönender Öffnungen zu machen scheint.

12. Brauchen wir zum Gewöhnlichen und Gemeinen vielleicht deswegen so viel Kraft und Anstrengung, weil für den eigentlichen Menschen nichts ungewöhnlicher – nichts ungemeiner ist als armselige Gewöhnlichkeit?
Das Höchste ist das Verständlichste – das Nächste, das Unentbehrlichste. Nur durch Unbekanntschaft mit uns selbst – Entwöhnung von uns selbst entsteht hier eine Unbegreiflichkeit, die selbst unbegreiflich ist.

14. Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Zeichen des Eigentums, vertilgt alle Merkmale der Formation. Allen Geschlechtern gehört die Erde – jeder hat Anspruch auf alles. Die Frühern dürfen diesem Primogeniturzufalle keinen Vorzug verdanken. Das Eigentumsrecht erlischt zu bestimmten Zeiten. [...]

17. [...] Wir träumen von Reisen durch das Weltall – ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht – nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten – die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt – sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheints uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos – aber wie ganz anders wird es uns dünken – wenn diese Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist – Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.

19. Wie kann ein Mensch Sinn für etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in sich hat? Was ich verstehn soll, muß sich in mir organisch entwickeln – und was ich zu lernen scheine, ist nur Nahrung – Inzitament des Organismus.

20. Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen – ist er in jedem Punkte der Durchdringung.

23. Das willkürlichste Vorurteil ist, daß dem Menschen das Vermögen, außer sich zu sein, mit Bewußtsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei. Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu sein. Ohne dies wäre er nicht Weltbürger – er wäre ein Tier. Freilich ist die Besonnenheit in diesem Zustande, die Sich-Selbst-Findung – sehr schwer, da er so unaufhörlich, so notwendig mit dem Wechsel unsrer übrigen Zustände verbunden ist. Je mehr wir uns aber dieses Zustands bewußt zu sein vermögen, desto lebendiger, mächtiger, genügender ist die Überzeugung, die daraus entsteht – der Glaube an echte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen – Hören – Fühlen – es ist aus allen dreien zusammengesetzt – mehr, als alles Dreies – eine Empfindung unmittelbarer Gewissheit – eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens – die Gedanken verwandeln sich in Gesetze – die Wünsche in Erfüllungen. Für den Schwachen ist das Faktum dieses Moments ein Glaubensartikel. [...] Hier ist viel Unterschied zwischen den Menschen. Einer hat mehr Offenbarungsfähigkeit, als der andre – einer mehr Sinn, der andre mehr Verstand für dieselbe. Der letztere wird immer in ihrem sanften Lichte bleiben; wenn der erste nur abwechselnde Erleuchtungen, aber hellere und mannigfaltigere hat. [...]

25. Scham ist wohl ein Gefühl der Profanation. Freundschaft, Liebe, und Pietät sollten geheimnisvoll behandelt werden. Man sollte nur in seltnen, vertrauten Momenten davon reden, sich stillschweigend darüber einverstehen – Vieles ist zu zart, um gedacht, noch mehreres um besprochen zu werden.

28. Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein. [...]

29. Nur dann zeig ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen, und mannigfach verändern kann.

32. Wir sind auf einer Mission. zur Bildung der Erde sind wir berufen. [...]

37. Jetzt regt sich nur hier und da Geist – wann wird der Geist sich im Ganzen regen? – wenn wird die Menschheit in Masse sich selbst zu besinnen anfangen?

51. Das Interessante ist, was mich nicht, um mein Selbst willen, sondern nur, als Mittel, als Glied, in Bewegung setzt. Das Klassische stört mich gar nicht – es affiziert mich nur indirekte durch mich selbst – Es ist nicht für mich da, als klassisch, wenn ich es nicht setze, als ein solches, das mich nicht affizieren würde, wenn ich mich nicht selbst zur Hervorbringung desselben für mich, bestimmte – anrührte, wenn ich nicht ein Stück von mir selbst losrisse, und diesen Keim sich auf eine eigentümliche Weise vor meinen Augen entwickeln ließe – eine Entwicklung, die oft nur einen Moment bedarf – und mit der sinnlichen Wahrnehmung des Objekts zusammenfällt – so daß ich ein Objekt vor mir sehe, in welchem das gemeine Objekt und das Ideal, wechselseitig durchdrungen, nur Ein wunderbares Individuum bilden.

58. Der Mensch erscheint am würdigsten, wenn sein erster Eindruck – der Eindruck eines absolut witzigen Einfalls ist – nämlich Geist und bestimmtes Individuum zugleich zu sein. Einen jeden vorzüglichen Menschen muß gleichsam ein Geist zu durchschweben scheinen, der die sichtbare Erscheinung idealisch parodiert. Bei manchen Menschen ist es, als ob dieser Geist der sichtbaren Erscheinung ein Gesicht schnitte.

65. Alle Zufälle unsers Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Wer viel Geist hat, macht viel aus seinem Leben – jede Bekanntschaft, jeder Vorfall wäre für den durchaus Geistigen – erstes Glied einer unendlichen Reihe – Anfang eines unendlichen Romans.

72. Je mehr sich unsere Sinne verfeinern, desto fähiger werden sie zur Unterscheidung der Individuen. Der höchste Sinn wäre die höchste Empfänglichkeit für eigentümliche Natur. [...]

76. Unser Alltagsleben besteht aus lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen. Dieser Zirkel von Gewohnheiten ist nur Mittel zu einem Hauptmittel, unserm irdischen Dasein überhaupt – das aus mannigfaltigen Arten zu existieren, gemischt ist.
Philister leben nur ein Alltagsleben. Das Hauptmittel scheint ihr einziger Zweck zu sein. Sie tun das alles, um des irdischen Lebens willen, wie es scheint, und nach ihren eignen Äußerungen scheinen muß. Poesie mischen sie nur zur Notdurft unter, weil sie nun einmal an eine gewisse Unterbrechung ihres täglichen Laufs gewöhnt sind. In der Regel erfolgt diese Unterbrechung alle 7 Tage – und könnte ein poetisches Septanfieber heißen. Sonntags ruht die Arbeit – sie leben ein bißchen besser, als gewöhnlich und dieser Sonntagsrausch endigt sich mit einem etwas tiefern Schlafe, als sonst; daher auch montags alles noch einen raschern Gang hat. Ihre Parties de plaisier müssen konventionell, gewöhnlich, modisch sein – aber auch ihr Vergnügen verarbeiten sie, wie alles, mühsam und förmlich. Den höchsten Grad seines poetischen Daseins erreicht er bei einer Reise, Hochzeit, Kindtaufe, und in der Kirche. Hier werden seine kühnsten Wünsche befriedigt und oft übertroffen.
Ihre sogenannte Religion wirkt bloß, wie ein Opiat – reizend – betäubend – Schmerzen aus Schwäche stillend. Ihre Früh- und Abendgebete sind ihnen, wie Frühstück und Abendbrot, notwendig. Sie könnens nicht mehr lassen. [...]
Grober Eigennutz ist das notwendige Resultat armseliger Beschränktheit. Die gegenwärtige Sensation ist die lebhafteste, die höchste eines Jämmerlings. Über diese kennt er nichts Höheres – kein Wunder, daß der durch die äußern Verhältnisse par force dressierte Verstand – nur der listige Sklav eines solchen stumpfen Herrn ist und nur für dessen Lüste sinnt und sorgt.

103. Je bornierter ein System ist, desto mehr wird es den Weltklugen gefallen. So hat das System der Materialisten, die Lehre des Helvetius und auch Locke den meisten Beifall unter dieser Klasse erhalten. So wird Kant jetzt noch immer mehr Anhänger, als Fichte, finden.

122. [...] Ein sehr geistvoller Staat wird von selbst poetisch sein – je mehr Geist und geistiger Verkehr im Staate ist, desto mehr wird er sich dem poetischen nähern – desto freudiger wird jeder darin aus Liebe zu dem schönen, großen Individuo, seine Ansprüche beschränken und die nötigen Aufopferungen machen wollen – desto weniger wird der Staat es bedürfen – desto ähnlicher wird der Geist des Staats, dem Geiste eines einzelnen musterhaften Menschen sein – der nur ein einziges Gesetz auf immer ausgesprochen hat – sei so gut und poetisch als möglich.

Fragmente und Studien

[1797-1798]

5. Es gibt gewisse Dichtungen in uns, die einen ganz andern Charakter als die übrigen zu haben scheinen, denn sie sind vom Gefühle der Notwendigkeit begleitet, und doch ist schlechterdings kein äußrer Grund zu ihnen vorhanden. Es dünkt dem Menschen, als sei er in einem Gespräch begriffen, und irgendein unbekanntes, geistiges Wesen veranlasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwicklung der evidentesten Gedanken. Dieses Wesen muß ein höheres Wesen sein, weil es sich mit ihm auf eine Art in Beziehung setzt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist. Es muß ein homogenes Wesen sein, weil es ihn wie ein geistiges Wesen behandelt und ihn nur zur seltensten Selbsttätigkeit auffordert. Dieses Ich höherer Art verhält sich zum Menschen wie der Mensch zur Natur oder der Weise zum Kinde. [...]
Dartun läßt sich dieses Faktum nicht. Jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Faktum höherer Art, das nur der höhere Mensch antreffen wird. Die Menschen sollen aber streben, es in sich zu veranlassen.
Die Wissenschaft, die hierdurch entsteht, ist die höhere W[issenschafts]L[ehre]. Der praktische Teil enthält die Selbsterziehung des Ich, um jener Mitteilung fähig zu werden – der theoretische Teil – die Merkmale der echten Mitteilung. [...]

11. Dichten ist zeugen. Alles Gedichtete muß ein lebendiges Individuum sein. Welche unerschöpfliche Menge von Materialien zu neuen individuellen Kombinationen liegt nicht umher! Wer einmal dieses Geheimnis erraten hat – der hat nichts mehr nötig, als den Entschluß, der unendlichen Mannigfaltigkeit, und ihrem bloßen Genusse zu entsagen und irgendwo anzufangen – aber dieser Entschluß kostet das freie Gefühl einer unendlichen Welt – und fordert die Beschränkung auf eine einzelne Erscheinung derselben –
Sollten wir vielleicht einem ähnlichen Entschlusse unser irdisches Dasein zuzuschreiben haben?

13. Poesie ist die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt.
Die Poesie [...] mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke – der Erhebung des Menschen über sich selbst.

33. Ich = N[icht] I[ch] – höchster Satz aller Wissenschaft und Kunst.

37. Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – [...].

39. [...] Magie ist = Kunst, die Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchen.

40. Wir haben zwei Systeme von Sinnen, die, so verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste miteinander verwebt sind. Ein System heißt der Körper, eins die Seele. Jenes steht in der Abhängigkeit von äußern Reizen, deren Inbegriff wir die Natur oder die äußre Welt nennen. Dieses steht ursprünglich in der Abhängigkeit eines Inbegriffes innerer Reize, den wir den Geist nennen, oder die Geisterwelt. Gewöhnlich steht dieses letztere System in einem Assoziationsnexus mit dem andern System – und wird von diesem affiziert. Dennoch sind häufige Spuren eines umgekehrten Verhältnisses anzutreffen, und man bemerkt bald, daß beide Systeme eigentlich in einem vollkommnen Wechselverhältnisse stehn sollten, in welches jedes von seiner Welt affiziert, einen Einklang, keinen Einton bildeten. Kurz beide Welten, so wie beide Systeme sollen eine freie Harmonie, keine Disharmonie oder Monotonie bilden. Der Übergang von Monotonie zur Harmonie wird freilich durch Disharmonie gehn – und nur am Ende wird eine Harmonie entstehn. In der Periode der Magie dient der Körper der Seele, oder der Geisterwelt. [...]

41. Wir werden die Welt verstehn, wenn wir uns selbst verstehn, weil wir und sie integrante Hälften sind. Gotteskinder, göttliche Keime sind wir. Einst werden wir sein, was unser Vater ist.

42. [...] Sinn ist ein Werkzeug – ein Mittel. Ein absoluter Sinn wäre Mittel und Zweck zugleich. So ist jedes Ding das Mittel selbst es kennenzulernen – es zu erfahren, oder auf dasselbe zu wirken. Um also eine Sache vollständig zu empfinden und kennenzulernen, müßte ich sie zu meinem Sinn und Gegenstand zugleich machen – ich müßte sie beleben – sie zum abs[oluten] Sinn, nach der vorherigen Bedeutung, machen. [...]
[...] Die Belebung selbst aber betreffend, so ist sie nichts anders, als eine Zueignung, eine Identifikation. Ich kann etwas nur erfahren, insofern ich es in mir aufnehme; es ist also eine Alienation meiner selbst und eine Zueignung oder Verwandlung einer andern Substanz in die meinige zugleich: das neue Produkt ist von den beiden Faktoren verschieden, es ist aus beiden gemischt. Ich vernehme nun jede Veränderung der zugeeigneten Substanz als die meinige und eine fremde zugleich; als die meinige, insofern ich sie überhaupt vernehme, als eine fremde, inwiefern ich sie so oder so bestimmt vernehme. [...]
Ich selbst weiß mich, wie ich mich will und will mich, wie ich mich weiß – weil ich meinen Willen will – weil ich abs[olut] will. In mir ist also Wissen und Willen vollkommen vereinigt.
Indem ich meinen Willen, meine Tat – besonders noch vernehmen will – merke ich, daß ich auch einen Willen haben – etwas tun kann – ohne daß ich darum weiß – ferner, daß ich etw[as] wissen kann und weiß, ohne daß ich es gewollt habe.

45. [...] Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman sein.

46. Alles ist Samenkorn.

48. Es liegt nur an der Schwäche unsrer Organe und der Selbstberührung, daß wir uns nicht in einer Feenwelt erblicken. Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist. Die höhern Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken.

52. Alle geistige Berührung gleicht der Berührung eines Zauberstabs. Alles kann zum Zauberwerkzeug werden. Wem aber die Wirkungen einer solchen Berührung so fabelhaft, wem die Wirkungen eines Zauberspruchs so wunderbar vorkommen – der erinnre sich doch nur an die erste Berührung der Hand seiner Geliebten – an ihren ersten, bedeutenden Blick, wo der Zauberstab der abgebrochne Lichtstrahl ist – an den ersten Kuß, an das erste Wort der Liebe, – und frage sich, ob der Bann und Zauber dieser Momente nicht auch fabelhaft und wundersam, unauflöslich und ewig ist?

53. Die Menschheit ist der höhere Sinn unsers Planeten, der Nerv, der dieses Glied mit der Obern Welt verknüpft, das Auge, was er gen Himmel hebt.

56. Wie der Maler mit ganz andern Augen, als der gemeine Mensch die sichtbaren Gegenstände sieht – so erfährt auch der Dichter die Begebenheiten der äußren und innern Welt auf eine sehr verschiedne Weise vom gewöhnlichen Menschen. Nirgends aber ist es auffallender, daß es nur der Geist ist, der die Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs poetisiert, und daß das Schöne, der Gegenstand der Kunst uns nicht gegeben wird oder in den Erscheinungen schon fertig liegt – als in der Musik. Alle Töne, die die Natur hervorbringt sind rauh – und geistlos – nur der musikalischen Seele dünkt oft das Rauschen des Waldes – das Pfeifen des Windes, der Gesang der Nachtigall, das Plätschern des Bachs melodisch und bedeutsam. Der Musiker nimmt das Wesen seiner Kunst aus sich – auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung kann ihn treffen. Dem Maler scheint die sichtbare Natur überall vorzuarbeiten – durchaus ein unerreichbares Muster zu sein – eigentlich ist aber die Kunst des Malers so unabhängig, so ganz a priori entstanden, als die Kunst des Musikers. Der Maler bedient sich nur einer unendlich schwereren Zeichensprache, als der Musiker – der Maler malt eigentlich mit dem Auge – seine Kunst ist die Kunst regelmäßig, und schön zu sehn. Sehn ist hier ganz aktiv – durchaus bildende Tätigkeit. Sein Bild ist nur seine Chiffer – sein Ausdruck – sein Werkzeug der Reproduktion. Man vergleiche mit dieser künstlichen Chiffer – die Note. Die mannigfaltige Bewegung der Finger, der Füße und des Mundes dürfte der Musiker noch eher dem Bilde des Malers entgegenstellen. Der Musiker hört eigentlich auch aktive – er hört heraus. Freilich ist dieser umgekehrte Gebrauch der Sinne den meisten ein Geheimnis, aber jeder Künstler wird es sich mehr oder minder deutlich bewußt sein. Fast jeder Mensch ist in geringem Grad schon Künstler – er sieht in der Tat heraus und nicht herein. Er fühlt heraus und nicht herein. Der Hauptunterschied ist der: der Künstler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen belebt – die Reizbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist mithin im Stande Ideen nach Belieben – ohne äußre Sollizitation – durch sie herauszuströmen – sie, als Werkzeuge, zu beliebigen Modifikationen der wirklichen Welt zu gebrauchen – dahingegen sie beim Nichtkünstler nur durch Hinzutritt einer äußern Sollizitation ansprechen [...]

57. Das Ideal der Sittlichkeit hat keinen gefährlichern Nebenbuhler, als das Ideal der höchsten Stärke – des kräftigsten Lebens – was man auch das Ideal der ästhetischen Größe, im Grunde sehr richtig, der Meinung nach aber sehr falsch, benannt hat – es ist das Maximum des Barbaren – und hat leider in diesen Zeiten der verwildernden Kultur gerade unter den größesten Schwächlingen, sehr viele Anhänger erhalten. Der Mensch wird durch dieses Ideal zum Tiergeiste – eine Vermischung, deren brutaler Witz eben eine brutale Anziehungskraft für Schwächlinge hat.

59. Auf dieselbe Art, wie wir unser Denkorgan in beliebige Bewegung setzen – seine Bewegung beliebig modifizieren – dieselbe und ihre Produkte beobachten – und mannigfaltig ausdrücken – auf dieselbe Art, wie wir die Bewegungen des Denkorgans zur Sprache bringen – wie wir sie in Gebärden äußern – in Handlungen ausprägen, wie wir uns überhaupt willkürlich bewegen und aufhalten – unsre Bewegungen vereinigen und vereinzeln – auf eben dieselbe Art müssen wir auch die innern Organe unsers Körpers bewegen, hemmen, vereinigen und vereinzeln, l e r n e n. Unser ganzer Körper ist schlechterdings fähig vom Geist in beliebige Bewegung gesetzt zu werden. Die Wirkungen der Furcht, des Schreckens – der Traurigkeit, des Zorns – des Neides – der Scham, der Freude, der Phantasie etc. sind Indikationen genug – [...]. Es wird vielleicht nur von ihm [dem Menschen] dann abhängen einen Stoff zu beseelen – er wird seine Sinne zwingen ihm die Gestalt zu produzieren, die er verlangt – und im eigentlichsten Sinne in Seiner Welt leben können. Dann wird er vermögend sein sich von seinem Körper zu trennen – wenn er es für gut findet – er wird sehn, hören – und fühlen – was, wie und in welcher Verbindung er will.

60. [...] Alles scheint auf uns hereinzuströmen, weil wir nicht herausströmen. Wir sind negativ, weil wir wollen – je positiver wir werden, desto negativer wird die Welt um uns her – bis am Ende keine Negation mehr sein wird, sondern wir alles in Allem sind.
Gott will Götter.
Ist nicht unser Körper selbst nichts, als eine gemeinschaftliche Zentralwirkung unsrer Sinne – haben wir Herrschaft über die Sinne – vermögen wir sie beliebig in Tätigkeit zu versetzen – sie gemeinschaftlich zu zentrieren, so hängts ja nur von uns ab – uns einen Körper zu geben, welchen wir wollen. [...]

61. Der Maler hat so einigermaßen schon das Auge – der Musiker das Ohr – der Poet die Einbildungskraft – das Sprachorgan, und die Empfindung – oder vielmehr schon mehrere Organe zugleich – deren Wirkungen er vereinigt auf das Sprachorgan oder auf die Hand hinleitet –  (der Philosoph das absolute Organ) – in seiner Gewalt – und wirkt durch sie beliebig, stellt durch sie beliebig Geisterwelt dar – Genie ist nichts, als Geist in diesem tätigen Gebrauch der Organe – Bisher haben wir nur einzelnes Genie gehabt – der Geist soll aber total G e n i e werden.

69. Die Welt ist auf jeden Fall Resultat einer Wechselwirkung zwischen mir und der Gottheit. Alles was ist und entsteht – entsteht aus einer Geisterberührung.

71. Alles, was wir erfahren ist eine Mitteilung. So ist die Welt in der Tat eine Mitteilung – Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beim Buchstaben stehngeblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren. [...]

Teplitzer Fragmente

[Juli/August 1798]

72. Die Forderung die gegenwärtige Welt für die beste, und die abs[olut] meine anzunehmen ist ganz der gleich, meine mir angetraute Frau für die beste und einzige zu halten und ganz für sie, und in ihr zu leben. Es gibt noch sehr viel ähnliche Forderungen und Ansprüche – deren Anerkennung derjenige zur Pflicht macht – der einen für immer entschiednen Respekt für alles, was geschehen ist, hat – der historisch religiös ist – der absolute Gläubige und Mystiker der Geschichte überhaupt – der echte Liebhaber des Schicksals. [...]

81. Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hülflosen Zustande, um zu lieben – und andern verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung andrer fähig – und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur andre helfen. So ist Christus, von diesem Gesichtspunkt aus, allerdings der Schlüssel der Welt.

84. Das gewöhnliche Leben ist ein Priesterdienst – fast, wie der vestalische. Wir sind mit nichts, als mit der Erhaltung einer heiligen und geheimnisvollen Flamme beschäftigt – einer doppelten, wie es scheint. Es hängt von uns ab wie wir sie pflegen und warten. Sollte die Art ihrer Pflege vielleicht der Maßstab unserer Treue, Liebe, und Sorgfalt für das Höchste – der Charakter unsers Wesens sein? [...]

85. Unser ganzes Leben ist Gottesdienst – –

89. Das schöne Geheimnis der Jungfrau, was sie eben so unaussprechlich anziehend macht, ist das Vorgefühl der Mutterschaft – die Ahndung einer künftigen Welt, die in ihr schlummert, und sich aus ihr entwickeln soll. Sie ist das treffendste Ebenbild der Zukunft.

90. [...] Die Lippen sind für die Geselligkeit soviel, wie sehr verdienen sie den Kuß. Jede sanfte weiche Erhöhung ist ein symbolischer Wunsch der Berührung. So ladet uns alles in der Natur figürlich und bescheiden zu seinem Genuß ein – und so dürfte die ganze Natur wohl weiblich, Jungfrau und Mutter zugleich sein.

92. Je mehr Gegenstand – desto größer die Liebe zu ihm – einem absoluten Gegenstand kommt abs[olute] Liebe entgegen. Zu dir kehr ich zurück, edler Kepler, dessen hoher Sinn ein vergeistigtes, sittliches Weltall sich erschuf, statt daß in unsern Zeiten es für Weisheit gehalten wird – alles zu ertöten, das Hohe zu erniedrigen, statt das Niedre zu erheben – und selber den Geist des Menschen unter die Gesetze des Mechanismus zu beugen.

93. Was ist also die Sonne? Ein durch sich erregbarer – mithin immer selbsttätiger, ewigleuchtender Körper – und ein Planet –? ein relativ erregbarer, für fremde Anregung gestimmter Körper.

99. [...] Auch dürfte man im gewissen Sinn mit Recht behaupten, daß Goethe der erste Physiker seiner Zeit sei – und in der Tat Epoke in der Geschichte der Physik mache. [...] Wie der Physiker Goethe sich zu den übrigen Physikern verhält, so der Dichter zu den übrigen Dichtern. An Umfang, Mannigfaltigkeit und Tiefsinn wird er hier und da übertroffen, aber an Bildungskunst, wer dürfte sich ihm gleichstellen? Bei ihm ist alles Tat – wie bei andern alles Tendenz nur ist. Er macht wirklich etwas, während andre nur etwas möglich – oder notwendig machen. [...]
Goethe wird und muß übertroffen werden – aber nur wie die Alten übertreffen werden können, an Gehalt und Kraft, an Mannigfaltigkeit und Tiefsinn – als Künstler eigentlich nicht – oder doch nur um sehr wenig, denn seine Richtigkeit und Strenge ist vielleicht schon musterhafter, als es scheint.

103. [...] Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil[osophie]. Je poetischer, je wahrer. [...]

„Allgemeiner Brouillon“

[Herbst 1798 - 1799]

5. [...] Die Welt ist die Sphäre der unvollkommnen Vereinigungen des Geistes und der Natur. Ihre vollkommne Indifferenzierung bildet das sittliche Wesen par excellence – Gott. Das Wesen Gottes besteht in der unaufhörlichen Moralisierung. Wie der reine Himmel die Welt belebt – wie der reine Geist die Welt begeistert – bevölkert – so versittlicht Gott die Welt – vereinigt Leben oder Himmel und Geist. [...]
[...] Ein Mensch, der Geist wird – ist zugleich ein Geist, der Körper wird. Diese höhere Art von Tod, wenn ich mich so ausdrücken darf hat mit dem gemeinen Tode nichts zu schaffen – es wird etwas sein, was wir Verklärung nennen können. [...]
[...] Wer hier nicht zur Vollendung gelangt, gelangt vielleicht drüben – oder muß eine abermalige irdische Laufbahn beginnen.
Sollte es nicht auch drüben einen Tod geben – dessen Resultat irdische Geburt wäre. [...]

14. Wenn ein Geist stirbt – wird er Mensch. Wenn d[er] Mensch stirbt, wird er Geist. [...]

18. [...] Die Frage nach der Weltsubstanz etc. ist eine antinomische Frage – eine Frage, worauf zwei entgegengesetzte Antworten möglich sind – i. e. eine Frage nach 0 – eine sich selbst aufhebende, aber eben darum eine echtphil[osophische] Frage – eine Frage des echtwissenschaftlichen Kopfs – denn er vernimmt eo ipso die Substanz quaestionis oder konstruiert sie vielmehr. Eine solche Frage kann sich der Frager selbst beantworten – und lediglich nur selbst. Eine solche Frage ist also Erinnerungsanlaß an die Selbstmacht – an das Prinzip, was die Welt geschaffen hat. Durch eine solche Frage nötigt sich der Frager zur abs[oluten] Selbstgliedrung – zum echtsynthetischen (simultanen), phil[osophischen] oder genialischen produktiven Denken. So erweckt der Mensch sein Genie. Die dummen Fragen der Kinder erscheinen jetzt in einem ganz andern Lichte. Man kann sagen – die Welt ist aus einer dummen Frage entstanden.

20. Eine ganz eigne Liebe und Kindlichkeit gehört, nebst dem deutlichsten Verstände und dem ruhigsten Sinn, zum Studium der Natur. [...]

Naturwissenschaftliche Studien

[1798-1799]

1. [...] Es ist nicht genug das Einzelne, Bes[ondere] zu universalisieren – sondern man muß auch das Universum zu individualisieren streben. [...]

2. [...] Alle Wissenschaften sollen Mathematik werden. Die bisherige Mathematik ist nur die erste und leichteste Äußerung oder Offenbarung des wahrhaft wissenschaftlichen Geistes.
[...]
Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte – das Unum des Universums.

7. Gott und Natur muß man hiernach trennen – Gott hat gar nichts mit der Natur zu schaffen – er ist das Ziel der Natur – dasjenige, mit dem sie einst harmonieren soll. [...]

8. Wir müssen Magier zu werden versuchen, um recht moralisch sein zu können. Je moralischer, desto harmonischer mit G o t t – desto göttlicher – desto verbündeter mit Gott. Nur durch den moralischen Sinn wird uns Gott vernehmlich – der moralische Sinn ist der Sinn für Dasein, ohne äußre Affektion – der Sinn für Bund – der Sinn für das Höchste – der Sinn für Harmonie – der Sinn für frei gewähltes, und erfundenes und dennoch gemeinschaftliches Leben – und Sein – der Sinn fürs Ding an sich – der echte Divinationssinn. [...]

15. Ein Kind ist eine sichtbargewordne Liebe.
Wir selbst sind ein sichtbar gewordner Keim der Liebe zwischen Natur und Geist oder Kunst.
Gott ist die Liebe. Die Liebe ist das höchste Reale – der Urgrund.
[...]
Die Mathematik bezieht sich nur auf Recht – rechtliche Natur und Kunst – nicht magische Natur und Kunst. Magisch werden beide nur durch Moralisierung. Liebe ist der Grund der Möglichkeit der Magie. Die Liebe wirkt magisch. [...]

18. Wie wenig Menschen haben Genie zum Experimentieren. Der echte Experimentator muß ein dunkles Gefühl der Natur in sich haben, das ihn, je vollkommner seine Anlagen sind, um so sicherer auf seinem Gange leitet und mit desto größerer Genauigkeit das versteckte entscheidende Phänomen finden und bestimmen läßt. Die Natur inspiriert gleichsam den echten Liebhaber und offenbart sich um so vollkommner durch ihn – je harmonischer seine Konstitution mit ihr ist. [...]

31. In einem echten Märchen muß alles wunderbar – geheimnisvoll und unzusammenhängend sein – alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein. [...]
Das echte Märchen muß zugleich prophetische Darstellung – idealische Darstell[ung] – abs[olut] notwendige Darst[ellung] sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft. [...]

32. Ewige Jungfrau ist nichts, als ewiges, weibliches Kind. [...]

33. Unser Leben ist kein Traum – aber es soll und wird vielleicht einer werden.

48. Der Mensch hat den Staat zum Polster der Trägheit zu machen gesucht – und doch soll der Staat gerade das Gegenteil sein – er ist eine Armatur der gespannten Tätigkeit – sein Zweck ist, den Menschen abs[olut] mächtig – und nicht abs[olut] schwach – nicht zum trägsten – sondern zum tätigsten Wesen zu machen. [...]

49. Wenn ihr die Gedanken nicht mittelbar (und zufällig) vernehmbar machen könnt, so macht doch umgekehrt die äußern Dinge unmittelbar (und unwillkürlich) vernehmbar – welches eben so viel ist, als wenn ihr die Gedanken nicht zu äußern Dingen machen könnt, so macht die äußern Dinge zu Gedanken. Könnt ihr einen Gedanken nicht zur selbständigen, sich von euch absondernden – und nun auch fremd – d[as] h[eißt] äußerlich vorkommenden Seele machen, so verfahrt umgekehrt mit den äußerlichen Dingen – und verwandelt sie in Gedanken.
Beide Operationen sind idealistisch. Wer sie beide vollkommen in seiner Gewalt hat ist der magische Idealist. Sollte nicht die Vollkommenheit jeder von beiden Operationen von der andern abhängig sein?

50. Die Geisterwelt ist uns in der Tat schon aufgeschlossen – sie ist immer offenbar – würden wir plötzlich so elastisch, als es nötig wäre, so sähen wir uns mitten unter ihr. [...]

57. [...] Metaphysik und Astronomie sind Eine Wissenschaft. Die Sonne ist in der Astr[onomie] was Gott in der Metaphysik ist. Freiheit und Unsterblichkeit sind wie Licht und Wärme.
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit werden einst die Basen der geistigen Physik ebenso werden – wie Sonne, Licht und Wärme die der irdischen Physik.

60. [...] Je mehr Abgaben, je mehr Staatsbedürfnisse, desto vollkommener der Staat. Keine Abgabe soll sein, die nicht ein Gewinn für die einzelnen ist. Wieviel mehr müßte ein Mensch außerm Staate anwenden, um sich Sicherheit, Recht, gute Wege etc. zu verschaffen. Nur wer nicht im Staate lebt, in dem Sinne, wie man in seiner Geliebten lebt, wird sich über Abgaben beschweren. Abgaben ist der höchste Vorteil. Die Abgaben kann man, als Besoldung des Staats d[as] i[st] eines sehr mächtigen, sehr gerechten, sehr klugen und sehr amüsanten Menschen, betrachten. – Das Bedürfnis eines Staats ist das dringendste Bedürfnis eines Menschen. Um Mensch zu werden und zu bleiben, bedarf er eines Staats. Der Staat hat natürlich Rechte und Pflichten, wie der einzelne Mensch. Ein Mensch, ohne Staat ist ein Wilder. Alle Kultur entspringt aus den Verhältnissen eines Menschen mit dem Staate. Je gebildeter, desto mehr Glied eines gebildeten Staats. [...]

62. [...] – je geistvoller und lebendiger die Glieder sind – desto lebendiger, persönlicher ist der Staat. Aus jedem echten Staatsbürger leuchtet der Genius des Staats hervor – so wie in einer religiösen Gemeinschaft ein persönlicher Gott gleichsam in tausend Gestalten sich offenbart. Der Staat und Gott, so wie jedes geistige Wesen erscheint nicht einzeln, sondern in tausend mannigfaltigen Gestalten – nur pantheistisch erscheint Gott ganz – und nur im Pantheismus ist Gott ganz überall, in jedem einzelnen. So ist für das große Ich, das gew[öhnliche] Ich und das gew[öhnliche] Du nur Supplemente. Jedes Du ist ein Supplement zum großen Ich. Wir sind gar nicht Ich – wir können und sollen aber Ich werden. Wir sind Keime zum Ich werden. Wir sollen alles in ein Du – in ein zweites Ich verwandeln – nur dadurch erheben wir uns selbst zum großen Ich – das eins und alles zugleich ist.

65. [...] Die Welt ist der Makroanthropos. Es ist ein Weltgeist, wie es eine Weltseele gibt. Die Seele soll Geist – der Körper Welt werden. Die Welt ist noch nicht fertig – so wenig wie der Weltgeist – Aus Einem Gott soll ein Allgott werden. Aus Einer Welt – ein Weltall. [...] Bildung des Geistes ist Mitbildung des Weltgeistes – und also Religion. Der Geist wird aber durch die Seele gebildet – denn die Seele ist nichts, als gebundener, gehemmter, konsonierter Geist. [...]

88. Wenn ein Mensch plötzlich wahrhaft glaubte – er sei moralisch so wird er es auch sein.
Supposition des Ideals – des Gesuchten – ist die Methode es zu finden.
Fichtens Forderung des Zugleich-Denkens, Handelns und Beobachtens ist das Ideal des Philosophierens – und indem ich dies zu leisten suche – fange ich das Ideal an zu realisieren. [...]

103. Sucht nach Originalität ist gelehrter, grober Egoism. Wer nicht jeden fremden Gedanken, wie einen seinigen, und einen eigentümlichen, wie einen fremden Gedanken behandelt – ist kein echter Gelehrter. [...]

106. Alles Vollendete spricht sich nicht allein – es spricht eine ganze (mit)verwandte Welt aus. Daher schwebt um das Vollendete jeder Art der Schleier der ewigen Jungfrau – den die leiseste Berührung in magischen Dunst auflöst, der zum Wolkenwagen des Sehers wird. [...]

110. [...] Mit der richtigen Bildung unsres Willens geht auch die Bildung unsers Könnens und Wissens fort. In dem Augenblick, wo wir vollk[ommen] moralisch sind, werden wir Wunder tun können, i. e. wo wir keine Wunder tun wollen, höchstens moralische. (vid. Christus.) Der Wunder höchstes ist eine tugendhafte Handlung – ein Aktus der freien Determination. [...]

118. Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb, überall zu Hause zu sein.

Fragmente und Studien

[1799-1800]

21. Ein Roman muß durch und durch Poesie sein. Die Poesie ist nämlich, wie die Philosophie, eine harmonische Stimmung unsers Gemüts, wo sich alles verschönert, wo jedes Ding seine gehörige Ansicht – alles seine passende Begleitung und Umgebung findet. Es scheint in einem echt poetischen Buche, alles so natürlich – und doch so wunderbar – man glaubt es könne nichts anders sein, und als habe man nur bisher in der Welt geschlummert – und gehe einem nun erst der rechte Sinn für die Welt auf. [...]

30. Der Tod ist das romantisierende Prinzip unsers Lebens. Der Tod ist –, das Leben +. Durch den Tod wird das Leben verstärkt.

43. [...] Farbe ist gleichsam ein Neutralzustand der Stoffe und des Lichts – ein Bestreben Licht zu werden des Stoffs – und ein entgegengesetztes Bestreben des Lichts.
Sollte alle Qualität ein gebrochner Zustand – in der obigen Bedeutung sein? [...]

71. Jede unrechte Handlung, jede unwürdige Empfindung ist eine Untreue gegen die Geliebte – ein Ehebruch.

75. Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger, als diese hohe Gestalt.

79. Das Naive ist nicht polarisch. Das Sentimentale ist es.

80. Religiosität der Physiognomik. Heilige, unerschöpfliche Hieroglyphe jeder Menschengestalt. Schwierigkeit, Menschen wahrhaft zu sehn. [...]

82. Es gibt keine Religion, die nicht Christentum wäre.

84. In gottesdienstlichen Versammlungen sollte jeder aufstehn und aus dem Schatze seiner Erfahrungen göttliche Geschichten den andern mitteilen. Diese religiöse Aufmerksamkeit auf die Sonnenblicke der andern Welt ist ein Haupterfordernis des religiösen Menschen. Wie man alles zum Gegenstande eines Epigramms oder eines Einfalls machen kann, so kann man auch alles in einem Spruch, in ein religiöses Epigramm, in Gottes Wort, verwandeln.
Das Lamentable unsrer Kirchenmusik ist bloß der Religion der Buße – dem Alten Testament angemessen, in dem wir eigentlich noch sind. Das Neue Test[ament] ist uns noch ein Buch mit 7 Siegeln. [...]

85. Kultur des Enthusiasmus. Die Hörsäle sind vielleicht dem Theater entgegengesetzt, insofern dasselbe zur Erregung des Enthusiasmus – zur Bildung und Sammlung des Herzens und Gemüts bestimmt wird.

98. In der Physik hat man zeither die Phänomene stets aus dem Zusammenhange gerissen und sie nicht in ihre geselligen Verhältnisse verfolgt. Jedes Phänomen ist ein Glied einer unermeßlichen Kette – die alle Phänomene als Glieder begreift.
Die Naturlehre muß nicht mehr kapitelweise – fachweise behandelt werden. Sie muß (ein Kontinuum) eine Geschichte – ein organisches Gewächs – ein Baum werden – oder ein Tier – oder ein Mensch.

102. Ich bin überzeugt, daß man durch kalten, technischen Verstand, und ruhigen, moralischen Sinn eher zu wahren Offenbarungen gelangt, als durch Phantasie, die uns bloß ins Gespensterreich, diesen Antipoden des wahren Himmels, zu leiten scheint.

Naturwissenschaftliche, medizinische und mathematische Aufzeichnungen

[Juli 1799 – Januar 1800]

110. Sollten die Weltkörper Versteinerungen sein? Vielleicht von Engeln.

111. [...] Zur Wissenschaft ist der Mensch nicht allein bestimmt – der Mensch muß Mensch sein – zur Menschheit ist er bestimmt – Universaltendenz ist dem eigentlichen Gelehrten unentbehrlich. Aber nie muß der Mensch, wie ein Phantast, etwas Unbestimmtes – ein Kind der Phantasie – ein Ideal suchen – Er gehe nur von bestimmter Aufgabe zu bestimmter Aufgabe fort. [...]
Der echt idealistische Weg des Physikers ist nicht aus dem Einfachen, Zersplitterten das Zusammengesetzte, Verbundene, sondern umgekehrt zu erklären. Aus einem Naturstand wird nie ein Staat – aber wohl aus einem Staat ein Naturstand entstehen. Durch Ausartung ist die Natur entstanden. Aus der Sensibilität erklärt [sich] die Schwere – nicht aus Schwere – Elektrizität etc. die Sensibilität. Aus Gedanken erklärt [sich] die Entstehung der Schwere. Der Geisterwelt gehört das erste Kapitel in der Physik. Die Natur kann nicht stillstehend, sie kann nur fortgehend – zur Moralität – erklärt werden.
Einst soll keine Natur mehr sein – in eine Geisterwelt soll sie allmählich übergehn. Sollten die unabänderlichen Gesetze der Natur nicht Täuschung – nicht höchst unnatürlich sein? [...]

121 [...] Man muß die ganze Erde, wie Ein Gut betrachten – und von ihr Ökon[omie] lernen.
Die Staaten müssen endlich gewahr werden, daß die Erreichung aller ihrer Zwecke bloß durch Gesamtmaßregeln möglich sind. [...]

123. [...] Der Begriff der Mathematik ist der Begriff der Wissenschaft überhaupt.
Alle Wissenschaften sollen daher Mathematik werden. [...]
Ihre Verhältnisse sind Weltverhältnisse. Die reine Mathematik ist die Anschauung des Verstandes, als Universum. [...]
In der Musik erscheint sie förmlich, als Offenbarung – als schaffender Idealism. [...]
Der echte Mathematiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik.
Das Leben der Götter ist Mathematik. Alle göttliche Gesandten müssen Mathematiker sein.
Reine Mathematik ist Religion.
Zur Mathematik gelangt man nur durch eine Theophanie. [...]
Im Morgenlande ist die echte Mathematik zu Hause. In Europa ist sie zur bloßen Technik ausgeartet.
Wer ein mathematisches Buch nicht mit Andacht ergreift und es, wie Gottes Wort, liest, der versteht es nicht.

Studien und Pläne

[Januar – April 1800]

128. [...] Poesie = Gemütserregungskunst.

145. Es sind nicht die bunten Farben, die lustigen Töne und die warme Luft, die uns im Frühling so begeistern. Es ist der stille, weissagende Geist unendlicher Hoffnungen, ein Vorgefühl vieler froher Tage, des gedeihlichen Daseins so mannigfaltiger Naturen, die Ahndung höherer ewiger Blüten und Früchte, und die dunkle Sympathie mit der gesellig sich entfaltenden Welt.

150. Die Gabe der Unterscheidung, das reine, trennende Urteil muß, um nicht tödlich zu verwunden und überall Haß zu erregen, mit großer Behutsamkeit auf Menschen angewandt werden.
Man haßt es, teils aus Schmerz über den Verlust eines befriedigenden Irrtums, teils aus Gefühl eines erlittnen Unrechts, weil auch das schärfste Urteil eben durch die Trennung des Unteilbaren, durch die Absonderung von der Umgebung, der Geschichte, dem Boden, der Natur der Sache zu nahe tritt, und über die Ansicht der einzelnen Erscheinung an sich ihren Wert, als Glied eines großen Ganzen, vergißt.
Gerade durch diese Mischung von widriger Wahrheit und beleidigendem Irrtum wird es so verwundend.
Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt. Sie besteht gerade aus entgegengesetzten Bestandteilen – aus erhebender Wahrheit und angenehmer Täuschung.

Fragmente und Studien

[Juni – Oktober 1800]

157. Durch unaufhörliches freies Nachdenken muß man sich begeistern. Hat man gar keine Zeit zum Überschauen, zum freien Meditieren, zum ruhigen Durchlaufen und Betrachten in verschiednen Stimmungen, so schläft selbst die fruchtbarste Phantasie ein, und die innre Mannigfaltigkeit hört auf. [...]

166. [...] Die Sinne [sind] an den Tieren, was Blätter und Blüten an den Pflanzen sind. Die Bluten sind Allegorien des Bewußtseins oder des Kopfs. Eine höhere Fortpflanzung ist der Zweck dieser höheren Blüte – eine höhere Erhaltung – Bei den Menschen ist es das Organ der Unsterblichkeit – einer progressiven Fortpflanzung der Personalität. [...]

167. [...] Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze[,] Tier und Element werden, und vielleicht gibt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung in der Natur.

168. [...] Alles Gute in der Welt ist unmittelbare Wirksamkeit Gottes. In jedem Menschen kann mir Gott erscheinen. Am Christentum hat man Ewigkeiten zu studieren – es wird einem immer höher und mannigfacher und herrlicher.

172. Sittliches Gefühl ist Gefühl des absolut schöpferischen Vermögens, der produktiven Freiheit, der unendlichen Personalität, des Mikrokosmus, der eigentümlichen Divinität in uns.

173. In der Tugend verschwindet die lokale und temporelle Personalität. Der Tugendhafte ist als solcher kein historisches Individuum – es ist Gott selbst.

182. Die Moral ist recht verstanden das eigentliche Lebenselement des Menschen. Sie ist innig eins mit der Gottesfurcht. Unser reiner sittlicher Wille ist Gottes Wille. Indem wir seinen Willen erfüllen, erheitern und erweitern wir unser eignes Dasein und es ist, als hätten wir nur unsrer selbst willen, aus innerer Natur so gehandelt.

199. [...] Der Heilige Geist ist mehr als die Bibel. Er soll unser Lehrer des Christentums sein – nicht toter, irdischer, zweideutiger Buchstabe.

201. Worin eigentlich das Wesen der Poesie bestehe, läßt sich schlechthin nicht bestimmen. Es ist unendlich zusammengesetzt und doch einfach. Schön, romantisch, harmonisch sind nur Teilausdrücke des Poetischen.