Blaise Pascal: Pensées

aus: Blaise Pascal: Gedanken. Nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rüttenauer. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, o.J. [1948 oder früher] | Hervorhebungen H.N.

Pascal (1623-1662) war einer der größten Mathematiker und Wissenschaftler seiner Zeit - und wurde einer der größten Christen seiner Zeit...

  I. Die Apologie der christlichen Religion
       1. Die Aufforderung zu suchen  •  2. Die Ordnung. Die Grenzen der Vernunft  •  3. Die Verneiner

 II. Die Wette
       1. Die Dialektik der Wette.  •  2. Das Ungewisse – der Automatismus – die Gewohnheit

III. Die Natur des Menschen
       1. Grösse – Elend  •  2. Die Zerstreuung  •  3. Die Auslegung  •  4. Die menschlichen Gesellschaftsformen

 IV. Der Mensch im Weltall
       2. Die trügerischen Mächte  •  3. Der Pyrrhonismus

  V. Die heiligen Bücher und das jüdische Volk
       1. Das jüdische Volk als Verwalter der Wahrheit  •  2. Die Bilder  •  3. Dass Gott sich hat verbergen wollen

 VI. Jesus Christus
       1. Beweise für Jesus Christus – Dauer – Zeugnisse – Prophezeiungen – Wunder  •  2. Jesus Christus, die Einheit des Menschengeschlechts  •  3. Jesus Christus

VII. Reflexionen und Maximen
       3. Miscellanea

 


I. Die Apologie der christlichen Religion

Abteilung 1: Die Aufforderung zu suchen


1.
Sie sollten doch wenigstens lernen, welcher Art die Religion ist, die sie bekämpfen, bevor sie dagegen ankämpfen. Wenn diese Religion sich rühmte, eine klare Sicht von Gott zu haben, sie als eine offene und unverhüllte zu besitzen, so bestünde der Kampf gegen sie in der Feststellung, daß man in der Welt nichts sehe, woraus diese Sicht mit solcher Evidenz entsteht. Da sie aber im Gegenteil sagt, daß die Menschen in der Finsternis sind und in der Ferne von Gott, daß er sich ihrer Erkenntnis verborgen hat, und sogar der Name, den er sich in der Schrift gibt, Deus absconditus heißt; und da sie endlich in gleicher Weise bemüht ist, diese beiden Wahrheiten aufzustellen: einmal, daß Gott in der Kirche sichtbare Zeichen aufgestellt hat, um sich denen zu offenbaren, die ihn aufrichtig suchen, dann aber, daß er diese nichtsdestoweniger so verborgen hat, daß er nur von denen bemerkt wird, die ihn mit ihrem ganzen Herzen suchen – was für einen Vorteil können sie dann davon haben, wenn sie in der Nachlässigkeit, mit der sie vorgeben, die Wahrheit zu suchen, schreien, daß nichts ihnen diese Wahrheit zeige – zumal doch diese Dunkelheit, in der sie leben und die sie der Kirche vorhalten, nur dazu dient, eine der Wahrheiten, an denen die Kirche festhält, zu stützen, ohne die [2] andere zu berühren, und so ihre Lehre bekräftigt, anstatt sie zu stürzen?
Um sie zu bekämpfen, müssten sie behaupten, ohne jedes befriedigende Ergebnis alle Anstrengungen gemacht zu haben, um sie überall zu suchen – sogar in dem, was die Kirche selbst zur Belehrung vorschlägt. Wenn sie so sprächen, würden sie in Wahrheit einen ihrer Ansprüche bekämpfen. Aber ich hoffe, hier zu zeigen, daß es keinen vernünftigen Menschen gibt, der so sprechen könnte, und ich wage sogar zu sagen, daß noch nie jemand das getan hat. Man weiß zur Genüge, wie die vorgehen, die solchen Geistes sind: sie glauben große Anstrengungen zu ihrer Belehrung gemacht zu haben, wenn sie einige Stunden auf die Lektüre irgendeines Buches der Schrift verwendet und wenn sie irgendeinen Kirchenmann über die Wahrheiten des Glaubens befragt haben: hinterher rühmen sie sich dann, erfolglos in den Büchern und unter den Menschen gesucht zu haben. Aber wahrlich, ich werde ihnen sagen – was ich schon oft gesagt habe –, daß diese Nachlässigkeit nicht zu ertragen ist. Es geht hier nicht um den oberflächlichen Vorteil irgendeiner fremden Person, mit dem wir derart umspringen dürften; es geht um uns selbst, und um unser Alles.
Die Unsterblichkeit der Seele ist von so gewaltiger Bedeutung für uns, berührt uns so tief, daß man jedes Gefühl verloren haben muß, wenn es einem gleichgültig sein kann, zu wissen, was es damit auf sich hat. Alle unsere Handlungen und Gedanken müssen so verschiedene Wege einschlagen, je nachdem, ob es ewige Güter zu erhoffen gibt oder nicht, daß es unmöglich ist, mit Verstand und Urteil einen Schritt zu tun, ohne ihn nach jenem Punkt einzurichten, der unser letztes Ziel sein muß.
[3] So ist es unser erstes Anliegen und unsere erste Pflicht, uns klar zu werden über den Gegenstand, von dem unser ganzes Verhalten abhängt. Und darum mache ich bei denen, die davon nicht überzeugt sind, einen sehr großen Unterschied: zwischen solchen, die sich mit allen ihren Kräften um Unterweisung bemühen, und solchen, die dahinleben, ohne sich darum zu kümmern und ohne daran zu denken.
Ich kann nur Mitgefühl haben mit denen, die in diesem Zweifel aufrichtig seufzen, die ihn als das schlimmste Unglück betrachten, die keine Mühe scheuen, davon frei zu werden, und diese Untersuchung zu ihrer hauptsächlichen und ernstesten Beschäftigung machen.
Aber die, welche ihr Leben verbringen, ohne an jenes letzte Ziel des Lebens zu denken, und die aus dem gleichen Grund, aus dem sie in sich selbst keine sie davon überzeugende Einsicht finden, es versäumen, sie anderswo zu suchen und gründlich zu prüfen, ob jene Überzeugung zu denen gehört, die das Volk in leichtgläubiger Einfalt annimmt, oder zu denen, die wohl an sich dunkel sind, aber nichtsdestoweniger eine sehr feste und unerschütterliche Grundlage haben – an diese lege ich einen ganz anderen Maßstab.
Diese Nachlässigkeit in einer Angelegenheit, bei der es sich um sie selbst handelt, um ihre Ewigkeit, um ihr Alles, erzürnt mich viel mehr, als daß sie mich rührt. Sie erstaunt und erschreckt mich, sie ist für mich eine Ungeheuerlichkeit. Ich sage das nicht aus dem frommen Eifer geistlicher Erbauung. Ich behaupte im Gegenteil, daß man grundsätzlcih, als menschliches Anliegen und als Anliegen der Selbstliebe, dieses Gefühl haben muß: man braucht dazu nur das zu sehen, was die am wenigsten aufgeklärten Menschen sehen.
[4] Man braucht keine besonders erhobene Seele zu haben, um zu begreifen, daß es hier keine wahrhafte und ausdauernde Befriedigung gibt, daß alle unsere Freuden nur Eitelkeit sind, daß unsere Leiden ohne Ende sind, und daß uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jahren und unfehlbar vor die schreckliche Notwendigkeit stellt, in Ewigkeit ausgelöscht oder unglücklich zu sein.
Es gibt nichts Wirklicheres als das, und nichts Schrecklicheres. Wir mögen uns so tapfer stellen, wie wir wollen: so ist das Ende, welches das schönste Leben der Welt beschließt. Man denke darüber nach und sage, dann, ob es nicht unzweifelhaft ist, daß es in diesem Leben kein Gut gibt, als in der Hoffnung auf ein anderes Leben, daß man nur in dem Maße glücklich ist, als man sich diesem nähert, und daß, wie es keine Leiden mehr geben wird für die, welche eine völlige Gewißheit von der Ewigkeit hatten, es auch kein Glück gibt für die, welche keinerlei Einsicht in sie haben.
Es ist also sicher sehr schlimm, in diesem Zweifel zu sein; aber es ist zum mindesten eine unerläßliche Pflicht zu suchen, wenn man in diesem Zweifel ist; und so ist der, welcher zweifelt und nicht sucht, zugleich sehr unglücklich und sehr ungerecht; und wenn er damit ruhig und zufrieden ist, wenn er sich dazu bekennt und sich schließlich etwas darauf einbildet und gerade diesen Zustand zur Ursache seiner Freude und seiner Eitelkeit macht – dann habe ich keine Begriffe mehr, um ein so absonderliches Geschöpf zu bezeichnen.
Wie entstehen solche Empfindungen? Welchen Grund zur Freude findet man darin, daß man nichts anderes mehr erwartet als Elend ohne Rettung? Welch ein Grund zur Eitel-[5]keit, sich inmitten undurchdringlicher Finsternis zu sehen – und wie kann es geschehen, daß diese Überlegung in einem vernünftigen Menschen vor sich geht?
„Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, noch was die Welt ist, noch was ich selber bin; ich bin in einer furchtbaren Unwissenheit über alle Dinge; ich weiß nicht, was mein Leben ist, was meine Sinne sind, was meine Seele ist, ja selbst jener Teil von mir, der das denkt, was ich sage, der über alles und über sich selbst nachdenkt und sich nicht besser erkennt als das Übrige.
Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich an einem Winkel dieser unermeßlichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich gerade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Punkt der ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: der Ewigkeit, die mir voraufgegangen ist, und jener, die mir folgt. [...]
Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß nur, daß ich beim Verlassen dieser Welt für immer entweder in das Nichts oder in die Hände eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welche von diesen beiden Bedingungen für ewig mein Los sein muß. Das ist mein Zustand: voll der Schwachheit und Ungewißheit. Und aus alledem schließe ich, daß ich alle Tage meines Lebens verbringen darf, ohne einen Gedan-[6]ken daran, mein zukünftiges Schicksal zu erforschen. Vielleicht könnte ich einige Aufklärung in meinen Zweifeln finden; aber ich will mir keine Mühe machen, will nicht einen Schritt tun, sie zu suchen, und später will ich, indem ich die mit Verachtung behandle, die sich mit dieser Sorge abmühen, ohne Voraussicht und ohne Furcht ein so großes Ereignis auf mich nehmen und mich in aller Bequemlichkeit dem Tode entgegenführen lassen – in der Ungewissheit über die Ewigkeit meines künftigen Zustandes.“
Wer wünschte, einen Menschen zum Freunde zu haben, der also redet? Wer wird ihn unter anderen auswählen, um ihm seine Angelegenheiten mitzuteilen? Wer würde zu ihm seine Zuflucht nehmen in seiner Betrübnis? Und endlich: wozu im Leben könnte man ihn gebrauchen?
Es ist wahrlich eine Ehre für die Religion, so unvernünftige Menschen zu Feinden zu haben; und ihr Widerstand ist so ungefährlich für sie, daß er im Gegenteil nur dazu dient, ihre Wahrheiten zu bekräftigen. Denn der christliche Glaube stellt beinahe nur diese beiden Wahrheiten auf: Die Verderbnis der natur und die Erlösung durch Jesus Christus. [...]
Nichts ist für den Menschen so wichtig wie sein Zustand, nichts ist für ihn so furchtbar wie die Ewigkeit; und so ist es nicht natürlich, wenn es Menschen gibt, denen der Verlust ihres Seins und die Gefahr einer Ewigkeit von Leiden gleichgültig sind. Sie sind ganz anders in allen anderen Dingen; sie fürchten die allerleichtesten, sie sehen sie voraus, sie ahnen sie; und derselbe Mensch, der so viele Tage [7] und Nächte hinbringt in Wut und Verzweiflung über den Verlust eines Amtes, über irgendeine eingebildete Beleidigung seiner Ehre, – er ist der gleiche, der ohne Unruhe und Erregung weiß, daß er durch den Tod alles verlieren wird. Es ist etwas Ungeheuerliches, in den gleichen Herzen und zu gleicher Zeit jene Empfänglichkeit für die geringsten und diese seltsame Unempfänglichkeit für die größten Dinge zu sehen. Darin liegt ein unfassbarer Bann und eine übernatürliche Betäubung; das Zeichen einer allmächtigen Gewalt, die sie verursacht. [...]
[9] Wenn sie sich im Grunde ihres Herzens darüber ärgern, daß sie nicht mehr Einsicht haben, so sollen sie es nicht verhehlen: ein solches Geständnis wird nicht beschämend sein. Es gibt nur eine Schande: keine zu fühlen. Durch nichts verrät sich die äußerste Geistesschwäche mehr, als wenn man nicht erkennt, wie groß das Elend des Menschen ohne Gott ist; nichts ist bezeichnender für eine böse Veranlagung des Herzens, als wenn man die Wahrheit der ewigen Verheißungen nicht wünscht; nichts ist so feige, als gegen Gott den Tapferen zu spielen. Sie mögen also diese Lästerungen denen überlassen, die böse genug veranlagt sind, um ihrer wirklich fähig zu sein; sie sollen wenigstens anständige Menschen sein, wenn sie schon keine Christen sein können, und sie sollen endlich anerkennen, daß es nur zwei Arten von Menschen gibt, die man vernünftig nennen kann; jene, die Gott von ganzem Herzen dienen, weil sie ihn erkennen, oder jene, die ihn von ganzem Herzen suchen, weil sie ihn nicht erkennen.
Die aber dahinleben, ohne ihn zu erkennen und ohne ihn [10] zu suchen, die erachten sich selber der Sorge um sich selbst so wenig würdig, daß sie auch der Sorge der anderen nicht würdig sind; und man muß die ganze Liebe der Religion haben, die sie verachten, um nicht sie selbst so sehr zu verachten, daß man sie ihrer Narrheit überläßt. [...]

3.
[...] Denn es ist nicht zu bezweifeln, daß die Zeit dieses Lebens nur einen Augenblick währt, daß der Zustand des Todes ewig ist, von welcher Natur er auch sein mag, und daß darum alle unsere Handlungen und Gedanken sich in ihren wegen dem Zustande dieser Ewigkeit so sehr anpassen müssen, daß es unmöglich ist, mit Verstand und Urteil auch nur einen Schritt zu tun, ohne ihn nach der Wahrheit jenes Punktes auszurichten, der unser letztes Ziel sein muß. [...]

Abteilung 2: Die Ordnung. Die Grenzen der Vernunft


30.
[24] Die Menschen haben Verachtung für die Religion; sie hassen sie und haben Angst, sie sei wahr. Um sie davon zu heilen, muß man zunächst zeigen, daß die Religion der Vernunft nicht widerspricht, daß sie ehrwürdig ist, und ihr Achtung verschaffen; dann muß man sie liebenswert machen, in den Guten die Sehnsucht wecken, daß sie wahr sei; und endlich zeigen, daß sie wahr ist.
Ehrwürdig, denn sie hat den Menschen gut erkannt; liebenswert, denn sie verspricht das wahre Gut. [...]

32.
Die Ordnung. – Gegen den Einwand, daß die Schrift keine Ordnung habe.
Das Herz hat seine Ordnung; der Geist hat die seine und sie besteht aus Prinzip und Beweis. Das Herz hat eine [25] andere. Man beweist nicht, daß man geliebt werden muß, indem man der Reihe nach die Ursachen der Liebe darlegt: das wäre lächerlich.
Jesus Christus, der heilige Paulus haben die Ordnung der Liebe, nicht die des Geistes; denn sie wollten anfeuern, nicht belehren. [...] [26] [...]

36.
Wenn alles sich in gleicher Weise bewegt, bewegt sich scheinbar nichts, wie in einem Schiff. Wenn alle der Maßlosigkeit entgegentreiben, scheint keiner dahinzutreiben. Wer stehenbleibt, macht wie ein fester Punkt die ungestüme Bewegung der anderen wahrnehmbar. [...] [27] [...]

41.
Beweise für die Religion. – Moral. Lehre. Wunder. Bilder.

42.
Beweis. – 1. Die christliche Religion, durch ihre Gründung wie durch sich selbst, so stark und so milde begründet und der Natur so sehr entgegengesetzt. – 2. Die Heiligkeit, die Größe und Demut einer christlichen Seele. – 3. Die Wun-[28]der der Heiligen Schrift. – 4. Jesus Christus im besonderen. – 5. Die Apostel im besonderen. – 6. Moses und die Propheten. – 7. Das jüdische Volk. – 8. Die Prophezeiungen. 9. Die Fortdauer: keine Religion hat die Fortdauer. – 10. Die Lehre, die über alles Rechenschaft gibt. – 11. Die Heiligkeit dieses Gesetzes. – 12. Durch die Führung der Welt.
Wenn man danach betrachtet, was das Leben ist und was diese Religion ist, ist es unbestreitbar, daß man sich nicht mehr weigern darf, der Neigung, ihr zu folgen, nachzugeben, wenn sie uns in das Herz kommt; und es ist sicher, daß es keinen Grund gibt, sich über die lustig zu machen, die ihr folgen. [...] [29]

45.
Die, welche glauben, ohne die Testamente gelesen zu haben, tun es, weil sie eine innere ganz heilige Veranlagung dazu haben und weil das, was sie von unserer Religion hören, damit übereinstimmt. Sie fühlen, daß ein Gott sie erschaffen hat. Sie wollen nur Gott dienen; sie wollen nur sich selbst hassen. Sie fühlen, daß sie nicht aus sich selbst die Kraft dazu haben; daß sie unfähig sind, zu Gott zu gehen; und daß, wenn Gott nicht zu ihnen kommt, sie keine Verbindung mit ihm haben können. Und sie hören in unserer Religion sagen, daß man nur Gott zu lieben und nur sich selbst zu hassen braucht: daß aber Gott, da alle verdorben und Gottes nicht fähig sind, sich zu einem Menschen gemacht hat, um sich mit uns zu vereinigen. Mehr ist nicht nötig, um Menschen zu überzeugen, die jene Veranlagung im Herzen haben und die diese Erkenntnis ihrer Pflicht und ihrer Unfähigkeit haben.

46.
Wundert euch nicht, wenn ihr einfache Menschen glauben seht, ohne nachzudenken. Gott gibt ihnen die Liebe zu ihm und den Haß ihrer selbst. Er macht ihr Herz geneigt zu glauben. Man wird niemals mit einer Gläubigkeit glauben, die nützlich ist und wirklicher Glaube, wenn nicht Gott das Herz geneigt macht; und man wird dann glauben, sobald er es geneigt gemacht hat. Das hat David wohl gewusst: inclina cor meum, Deus, in . . . [Mache mein Herz geneigt, o Gott, Ps. 118, 36]. [...] [30] [...]

49.
Die Führung Gottes, der alle Dinge in Milde ordnet, besteht darin, daß er die Religion in den Geist durch Gründe, in das Herz durch die Gnade pflanzt. [...] [31] [...]

51.
[...] Daß ihr etwas habt sagen hören (die Autorität), soll keineswegs die Richtschnur eures Glaubens sein; im Gegenteil: ihr dürft nichts glauben, ohne euch in die Lage zu versetzen, als hättet ihr es nie gehört.
Eure Übereinstimmung mit euch selbst und die beharrliche Stimme eurer Vernunft, nicht die der anderen, soll euch glauben machen. Das Glauben ist so wichtig! [...] [32] [...]

52.
Unterwerfung. – Man muß zu zweifeln verstehen, wo es notwendig ist, bejahen, wo es nötig ist, indem man sich unterwirft, wo es nötig ist. Wer nicht so handelt, versteht nicht die Macht der Vernunft. Es gibt aber Menschen, die sich gegen diese drei Prinzipien verfehlen, indem sie entweder alles als beweiskräftig hinstellen, weil sie sich in der Kunst des Beweises nicht auskennen, oder indem sie an allem zweifeln, weil sie nicht wissen, daß man sich unterwerfen muß, oder indem sie sich in allem unterwerfen, weil sie nicht wissen, wann man urteilen muss. [...]

54.
Die wahre Natur des Menschen, sein wahres Heil, die wahre Tugend und die wahre Religion sind Gegenstände, deren Erkenntnis voneinander nicht zu trennen ist.

55.
Der letzte Schritt der Vernunft ist die Erkenntnis, daß es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die sie übersteigen. Sie ist nur schwach, wenn sie nicht bis zu dieser Erkenntnis vordringt. [...] [33] [...]

58.
Unterwerfung und Gebrauch der Vernunft: darin besteht das wahre Christentum.

59.
Wenn man alles der Vernunft unterwirft, wird unsere Religion nichts Geheimnisvolles und Übernatürliches mehr haben. Wenn man gegen die Prinzipien der Vernunft verstößt, wird unsere Religion absurd und lächerlich sein. [...] [34]

61.
Der Glaube sagt wohl das, was die Sinne nicht sagen, aber nicht das Gegenteil von dem, was sie sagen. Er ist über ihnen und nicht gegen sie.

62.
Wie weit ist es von der Erkenntnis Gottes bis dahin, daß man ihn liebt!

Abteilung 3: Die Verneiner


[...] [35] [...]

68.
Wie hasse ich diese Albernheiten: nicht an die Eucharistie zu glauben usw.! Wenn das Evangelium wahr ist, wenn Jesus Christus Gott ist, was gibt es dann hier für eine Schwierigkeit! [...] [36] [...]

74.
Es wird zu den Beschämungen der Verdammten gehören, zu sehen, daß sie durch ihre eigene Vernunft verdammt sind, durch die sie sich angemaßt haben, die christliche Religion zu verdammen.

75.
Atheisten. – Welchen Grund haben sie zu sagen, daß man nicht wiederauferstehen kann? Was ist schwerer: geboren zu werden oder wiederauferstehen? Daß sei, was niemals gewesen ist, oder daß das, was gewesen ist, abermals sei? Ist es schwerer, zum Sein zu gelangen oder dahin zurückzugelangen? Die Gewohnheit macht uns das eine leicht, das [37] Fehlen der Gewohnheit macht uns das andere unmöglich: eine pöbelhafte Art zu urteilen!
Warum kann eine Jungfrau nicht gebären? Legt ein Huhn nicht Eier ohne Hahn? Wer unterscheidet sie äußerlich von den andern? [...] [39]

II. Die Wette

Abteilung 1: Die Dialektik der Wette.


83.
Unendlichkeit – nichts.
Unsere Seele ist in den Körper geworfen, wo sie Zahl, Zeit und Ausdehnung findet; sie denkt darüber nach und nennt das Natur, Notwendigkeit und kann an nichts anderes glauben. [...] [40] [...]
Laßt uns jetzt gemäß der natürlichen Einsicht sprechen: Wenn es einen Gott gibt, so ist er von unendlicher Unbegreiflichkeit, denn da er weder Teile noch Grenzen hat, hat er keine Ähnlichkeit mit uns. Wir sind also unfähig, zu erkennen, was er ist, noch ob er ist. Wenn das so ist, wer wird es dann wagen, diese Frage zu entscheiden? [...]
Wer wird also die Christen tadeln, wenn sie keine Rechenschaft über ihren Glauben ablegen können, da sie sich zu einer Religion bekennen, über die sie keine Rechenschaft ablegen können? [...] [41] [...]
Prüfen wir diesen Punkt und sagen wir: Gott ist, oder er ist nicht. Aber welcher Seite werden wir uns zuneigen? Die Vernunft kann hier nichts entscheiden: es ist ein unendliches Chaos da, das uns trennt. Wir spielen am äußersten Ende dieses unendlichen Chaos ein Spiel, bei dem die Vorder- oder Rückseite [einer in die Luft geworfenen Münze] nach oben zu liegen kommt. Was werden Sie wetten? Durch den Verstand können Sie sich weder für das eine noch für das andere entscheiden. Mit dem Verstand können Sie keines von beiden ausschließen.
Beschuldigen Sie also nicht die des Irrtums, die ihre Wahl getroffen haben. Denn Sie verstehen nichts davon. [...]
Sie haben zweierlei zu verlieren: das Wahre und das Gute, und zweierlei einzusetzen: Ihre Vernunft und Ihren Willen, Ihre Erkenntnis und Ihre Seligkeit; und Ihre Natur muß sich vor zweierlei hüten: vor Irrtum und Unheil. Ihrem Verstande wird es ebenso wenig schaden, wenn Sie das eine, wie wenn [42] Sie das andere wählen, da man unbedingt wählen muß. Nun wäre ein Punkt erledigt. Aber unsere Seligkeit? Wägen wir den Gewinn und den Verlust, und das Kreuz [die vordere Seite der Münze] soll bedeuten, daß Gott ist. Schätzen wir diese beiden Möglichkeiten ab: wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles; wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Wetten Sie also ohne zu zögern, daß er ist. [...] [47] [...]

89.
Das Herz hat seine Vernunft [oder: Gründe, H.N.], die der Verstand nicht kennt. [La coeur a sa raison, que la raison ne connait pas]. [...] [48]
Ich sage, daß das Herz von Natur das allumfassende Wesen und auch sich selbst von Natur liebt, je nachdem es sich einem von beiden hingibt; und es verhärtet sich nach seiner Wahl gegen das eine oder das andere. Ihr habt das eine zurückgewiesen und das andere bewahrt. Liebt ihr aus Vernunft euch selbst?

90.
Es ist das Herz, das Gott fühlt, und nicht der Verstand. Das ist der Glaube: Gott dem Herzen fühlbar, nicht dem Verstand. [...] [49] [...]

Abteilung 2: Das Ungewisse – der Automatismus – die Gewohnheit


95.
Entscheidungen. – Man muß in der Welt verschieden leben, entsprechend der Verschiedenheit folgender Voraussetzungen:
1. wenn man immer in ihr sein könnte,
2. wenn es sicher ist, daß man nicht lange in ihr sein wird, und unsicher, ob man auch nur eine Stunde in ihr sein wird.

96.
Wenn man nur für das Sichere etwas tun müsste, so brauchte man für die Religion nichts zu tun: denn sie ist nicht sicher. Aber wie viel tut man für das Unsichere: Seereisen, Schlachten! Ich sage also, daß man überhaupt nichts tun sollte, denn nichts ist sicher; und daß es mehr Sicherheit in der Religion gibt als darin, ob wir den morgigen Tag sehen: Denn es ist nicht sicher, daß wir das Morgen sehen, aber es ist sicher möglich, daß wir es nicht sehen. Von der Religion kann man nicht das gleiche sagen. Es ist nicht sicher, daß sie ist; aber wer wird zu sagen wagen, es sei sicher möglich, daß sie nicht ist? Nun handelt man aber mit Vernunft, wenn man für morgen, für das Ungewisse arbeitet; denn man muß für das Ungewisse nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung arbeiten, die bewiesen ist. [50] [...]

98.
Einwand: Die auf ihr Heil hoffen, sind glücklich darin, aber sie haben als Gegengewicht die Furcht vor der Hölle.
Erwiderung: Wer hat mehr Grund, die Hölle zu fürchten: der welcher in der Unwissenheit lebt, ob es eine Hölle gibt, und dem die Verdammnis sicher ist, wenn es eine gibt; oder der, welcher in der sicheren Überzeugung lebt, daß es eine Hölle gibt, und in der Hoffnung, gerettet zu werden, wenn es eine gibt? [51] [...]

100.
„Ich hätte die Vergnügungen bald aufgegeben“, sagen sie, „wenn ich den Glauben hätte.“ – Und ich sage euch: Ihr hättet bald den Glauben bekommen, wenn ihr die Vergnügungen aufgegeben hättet. Es liegt also an euch, den Anfang zu machen. [...] [52] [...]

101.
Man darf sich nicht verkennen. Wir sind ebensosehr Automaten [Gewohnheit, H.N.] wie Geist; und daher kommt es, daß das Werkzeug durch das die Überzeugung zustande kommt, nicht allein der Beweis ist. Wie wenig bewiesene Dinge gibt es! Die Beweise überzeugen nur den Geist. Die Gewohnheit erst macht unsere Beweise zu den stärksten und am meisten geglaubten; sie setzt den Automaten in Bewegung, der den Geist mit sich fortreißt, ohne daß er es merkt. Wer hat bewiesen, daß es morgen Tag sein wird, und daß wir sterben werden? Und was wird fester geglaubt? Die Gewohnheit also überzeugt uns; [...] [53] [...] Wenn man nur durch die Macht des Beweises glaubt, während der Automat geneigt ist, das Gegenteil zu glauben, so genügt das nicht. Man muß also unsere beiden Teile zum Glauben bringen: den Geist durch die Gründe, die einmal im Leben eingesehen zu haben genügt; und den Automaten durch die Gewohnheit und dadurch, daß man ihm nicht erlaubt, sich dem Gegenteil zuzuneigen. Inclina cor meum, Deus [Neige mein Herz, o Gott. Psalm 119,36]
Die Vernunft handelt mit Langsamkeit und unter Berücksichtigung so vieler Prinzipien, die immer gegenwärtig sein müssen, daß sie alle Augenblicke einschläft oder abschweift, weil sie nicht alle ihre Prinzipien gegenwärtig hat. Das Gefühl handelt nicht so: es handelt in einem Augenblick und ist immer bereit zu handeln. Wir müssen also unseren Glauben in das Gefühl aufnehmen, sonst wird er immer flackernd bleiben. [...] [58]

III. Die Natur des Menschen

Abteilung 1: Grösse – Elend


[...]
120.
Die Größe des Menschen. – Die Größe des Menschen ist so sichtbar, daß sie sich sogar aus seinem Elend ableiten läßt, denn was für die Tiere Natur ist, das nennen wir im Menschen elend; da also heute seine Natur der der Tiere gleich ist, erkennen wir daraus, daß er von einer besseren Natur gefallen ist, die ihm einst zu eigen war. Denn wer hält sich für unglücklich, wenn er nicht König ist, es sei denn ein entthronter König? [...] [60] [...]

127.
Das denkende Schilfrohr. – Nicht im Raume darf ich meine Würde suchen, sondern in der Ordnung meiner Gedanken. Ich wäre nicht größer, wenn ich Länder besäße. Durch die Ausdehnung umgreift mich das Weltall, und verschlingt mich wie einen Punkt; durch den Gedanken umgreife ich es. [...] [62] [...]

134.
Wenn wir an Gott denken wollen – gibt es da nichts, das uns ablenkt und uns versucht, an etwas anderes zu denken? All das ist böse und mit uns geboren.

135.
Wir behaupten uns nicht aus eigener Kraft in der Tugend, sondern durch das Gegengewicht zweier entgegengesetzter Laster, so wie wir uns zwischen zwei entgegengesetzten [63] Winden aufrecht erhalten: Nehmt eines der beiden laster weg, und wir fallen in das andere. [...] [66]

147.
Die Eitelkeist ist so tief im Herzen des Menschen verankert, daß ein Soldat, ein Troßbube, ein Koch, ein Lastträger sich rühmt und seine Bewunderer haben will; und die Philosophen selbst wollen welche haben; und die, welche dagegen schreiben, wollen den Ruhm haben, gut geschrieben zu haben; und die es lesen, wollen den Ruhm haben, es gelesen zu haben; und ich, der ich dieses schreibe, habe vielleicht auch dieses Verlagen; und jene, die es lesen werden... [...]

149.
Wir sind so anmaßend, daß wir von der ganzen Welt gekannt sein wollen, sogar von denen, die kommen werden, wenn wir nicht mehr sind. Und wir sind so eitel, daß die Achtung von fünf oder sechs Personen, die uns umgeben, uns ergötzt und uns befriedigt. [...] [72] [...]

Abteilung 2: Die Zerstreuung


[...]
176.
Da die Menschen kein Heilmittel gegen den Tod, das Elend, die Unwissenheit finden konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, darauf verfallen, nicht daran zu denken. [...] [77]

181.
Gründe, warum man die Jagd mehr liebt als die Beute. – Daher kommt es, daß das Spiel und die Unterhaltung der Frauen, der Krieg und die großen Ämter so gesucht sind. Nicht deshalb, weil eine glückliche Wirkung daraus käme, noch darum, weil man sich einbildete, die wahre Seligkeit bestünde darin, das Geld zu haben, das man im Spiel gewinnen kann, oder in dem Hasen, dem man nachjagt – man würde das alles gar nicht haben wollen, wenn es einem angeboten würde: es ist nicht jener weichliche und geruhsame Genuß, der uns ja nur an unsere unglückliche Lage denken läßt, den man sucht, noch die Gefahr des Krieges, noch die Mühe der Ämter, sondern der Wirrwarr, der uns davon abhält, daran zu denken, und uns zerstreut.
Daher kommt es, daß die Menschen so sehr den Lärm und die Bewegung lieben. Daher kommt es, daß das Gefängnis eine so schreckliche Strafe ist. Daher kommt es, daß die Freunde an der Einsamkeit etwas so Unbegreifliches ist. Und es ist endlich für den Stand der Könige die Hauptursache ihres Glückes, daß man ohne Unterlaß versucht, sie zu zerstreuen und ihnen alle möglichen Vergnügungen zu verschaffen.
Der König ist umgeben von Leuten, die nur daran denken, den König zu zerstreuen und ihn daran zu hindern, an sich zu denken. Denn er ist unglücklich, wie sehr er auch König ist, wenn er daran denkt. [...] [78] [...]
Sie bilden sich ein, wenn sie dieses oder jenes Amt erlangt hätten, dann würden sie in Freude ausruhen, und spüren nicht die unersättliche Natur ihrer Gier. Sie glauben aufrichtig, die Ruhe zu suchen, und suchen in Wirklichkeit nur die Unrast.
Sie haben einen geheimen Instinkt, der aus dem Verdruß über ihr unaufhörliches Elend kommt und sie dazu treibt, draußen Zerstreuung und Betätigung zu suchen; und sie haben einen anderen geheimen Instinkt, der von der Größe unserer ersten Natur übrig ist, der sie erkennen läßt, daß das Glück in Wirklichkeit nur in der Ruhe ist und nicht im Tumult; und aus diesen beiden entgegengesetzten Instinkten bildet sich in ihnen ein verworrener Trieb, der sich ihrem Auge in der Tiefe ihrer Seele verbirgt; der treibt sie dazu, durch die Unrast zur Ruhe zu streben, und sich stets einzubilden, daß die Befriedigung, die sie nicht haben, ihnen zuteil werden wird, wenn sie einige Schwierigkeiten, die sie vor sich haben, überwinden und sie sich so das Tor zur Ruhe öffnen können.
So verströmt das ganze Leben. Man sucht die Ruhe, indem [79] man einige Hindernisse bekämpft; und wenn man sie überwunden hat, wird die Ruhe unerträglich durch die Langeweile, die sie erzeugt. [...]
Darum ist der Mensch so unglücklich, daß er sich auf Grund seiner besonderen Naturveranlagung selbst ohne jeden Anlaß zur Langeweile langweilen würde; und er ist so eitel, daß er zwar tausend wesentliche Gründe zur Langeweile hat, daß aber das Geringfügigste, ein Billardspiel oder ein Ball, den er wirft, genügt, um ihn zu zerstreuen.
Aber, werden Sie sagen, was für ein Ziel hat er bei alledem? Dieses, daß er sich morgen bei seinen Freunden rühme, besser gespielt zu haben als ein anderer. So schwitzen andere in ihrem Studierzimmer, um den Gelehrten zu zeigen, daß sie eine mathematische Frage gelöst haben, die man bis dahin nicht hat lösen können; und viele andere setzen sich den größten Gefahren aus, um sich hinterher eines Ortes zu rühmen, den sie eingenommen haben, und überdies auf dumme Art, wie mir scheint; und wieder andere endlich bringen sich um, alle diese Dinge zu beobachten; aber nicht, um dadurch besser zu werden, sondern nur um zu zeigen, daß sie sie kennen – und diese sind die Dümmsten der ganzen Gesellschaft, weil sie es mit Bewusstsein sind, während man von den anderen annehmen kann, daß sie es nicht mehr wären, wenn sie dieses Bewusstsein hätten.
Ein solcher Mensch verbringt sein Leben ohne Langeweile, indem er alle Tage ein wenig spielt. Gebt ihm jeden Morgen [80] das Geld, das er täglich gewinnen kann, unter der Bedingung, nicht zu spielen: ihr macht ihn unglücklich. Man wird vielleicht sagen, der Grund dafür sei, daß er die Unterhaltung des Spieles sucht und nicht den Gewinn. Veranlaßt ihn also, um nichts zu spielen: er wird dabei nicht warm werden und sich langweilen. [...]
Wie sehr auch der Mensch von Trauer erfüllt ist, wenn man ihn dazu bringen kann, sich auf eine Zerstreuung einzulassen, so ist er glücklich während dieser Zeit; und wie glücklich der Mensch auch sei: wenn er keine Zerstreuung hat, wenn nicht irgendeine Leidenschaft ihn beschäftigt oder irgendein Vergnügen, das die Langeweile verhindert auszubrechen, wird er bald kummervoll und unglücklich sein. [...] [82] [...]

186.
Wir halten uns niemals an die gegenwärtige Zeit. Wir nehmen die Zukunft voraus, da sie zu langsam kommt, gleichsam um ihren Lauf zu beschleunigen; und wir rufen die Vergangenheit zurück, um sie aufzuhalten, weil sie zu stürmisch entschwindet: so unklug sind wir, daß wir in den Zeiten umherirren, die nicht unser sind, und nicht an die einzige denken, die uns gehört; und so eitel, daß wir an die denken, die nichts mehr bedeuten, und ohne Überlegung, der einzigen, die da ist. entfliehen. [...] [83] [...]
Die Gegenwart ist nie unser Ziel: die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; die Zukunft allein ist unser Ziel. So leben wir nie, sondern wir hoffen zu leben, und während wir uns immer in Bereitschaft halten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, daß wir es nie sind.

187.
Wir rennen unbekümmert in den Abgrund, nachdem wir irgend etwas vor uns hingestellt haben, daß uns hindern soll, ihn zu sehen. [...] [84] [...]

192.
Langeweile. – Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unablässig wird aus der Tiefe seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Niedergeschlagenheit, die Trauer, der Kummer, der Verdruß, die Verzweiflung. [...] [85] [...]

Abteilung 3: Die Auslegung


[...] [88] [...]

202.
[...] Regungen der Niedrigkeit sind notwendig, aber nicht einer Niedrigkeit, die aus der Natur, sondern die aus der Buße kommt; nicht um darin zu verharren, sondern um zur Größe zu gelangen. Regungen der Größe sind notwendig, aber nicht [einer Größe] aus Verdienst, sondern aus Gnade, und nachdem man die Niedrigkeit durchschritten hat. [...] [89]

205.
Die Stoiker sagen: Haltet Einkehr bei euch selbst, dort werdet ihr eure Ruhe finden. Und das ist nicht wahr.
Die Anderen sagen: Wendet euch nach außen, suchet das Glück, indem ihr euch zerstreut. Und das ist nicht wahr. Es kommen die Krankheiten.
Das Glück ist weder außer uns, noch in uns; es ist in Gott, und sowohl außer uns als auch in uns. [...] [91] [...]

212.
Es ist gefährlich, den Menschen zu sehr merken zu lassen, wie sehr er den Tieren gleicht, ohne ihm seine Größe zu zeigen. Es ist auch gefährlich, ihn zu sehr seine Größe fühlen zu lassen, ohne ihm seine Niedrigkeit zu zeigen. Es ist noch gefährlicher, ihn über beides in Unkenntnis zu lassen. Aber es ist sehr vorteilhaft, ihm beides vor Augen zu stellen.
Er soll weder glauben, er sei [nur] den Tieren oder [nur] den Engeln ähnlich, noch soll er über beides in Unkenntnis sein, sondern er soll beides wissen. [...] [93] [...]

221.
Der Mensch ist Gottes nicht würdig; aber er ist nicht unfähig, Gottes würdig gemacht zu werden.
Es ist Gottes unwürdig, sich mit dem elenden Menschen zu verbinden; es ist Gottes nicht unwürdig, ihn aus dem Elend herauszuziehen. [...] [99] [...]

226.
[...] Gott hat die Menschen erlösen und das Heil denen offenbaren wollen, die Ihn suchten. Aber die Menschen machen sich dessen so unwürdig, daß es gerecht ist, wenn Gott einigen auf Grund ihrer Verhärtung das verweigert, was Er aus einer Barmherzigkeit, die Er ihnen nicht schuldig ist, den [100] andern gewährt. Wenn Er die Halsstarrigkeit der Verhärteten hätte überwinden wollen, hätte Er es gekonnt, indem Er sich ihnen so klar enthüllte, daß sie an der Wahrheit Seines Seins nicht hätten zweifeln können – so wie Er am Jüngsten Tage erscheinen wird: in einem solchen Glanz der Blitze, in einem solchen Aufruhr der Natur, daß die Toten auferstehen und die Blindesten Ihn sehen werden.
Nicht in dieser Weise hat Er in der Lieblichkeit Seiner Ankunft erscheinen wollen; denn da so viele Menschen sich Seiner Milde unwürdig machten, hat Er sie in der Entbehrung des Gutes, das sie nicht begehren, lassen wollen. [...] und indem Er also unverhüllt denen erscheinen will, die Ihn aus ihrem ganzen Herzen suchen, und verborgen denen, die Ihn aus ihrem ganzen Herzen fliehen, begrenzt Er Seine Erkennbarkeit in der Weise, daß Er Zeichen Seiner selbst gegeben hat: sichtbar denen, die Ihn suchen, und nicht denen, die Ihn nicht suchen. [...] [101] [...]

227.
[...] Welche Religion also wird uns lehren, den Stolz und die Begehrlichkeit zu heilen? Welche Religion wird uns also unser Heil lehren, unsere [102] Pflichten, die Schwächen, die uns von ihnen abwenden, die Ursache dieser Schwächen, die Mittel, diese Schwächen zu heilen, und das Mittel, diese Mittel zu erlangen?
Alle andern Religionen haben es nicht vermocht. Laßt uns sehen, was die Weisheit Gottes tut:
Erwartet, spricht sie, von den Menschen weder Wahrheit noch Trost. Ich bin es, die euch geformt hat, und die allein euch lehren kann, wer ihr seid. Aber ihr seid nicht mehr in dem Zustand, in dem ich euch geformt habe. Ich habe den Menschen heilig, unschuldig, vollkommen geschaffen; ich habe ihn erfüllt mit Einsicht und Intelligenz; ich habe ihm meine Herrlichkeit und meine Wunder mitgeteilt. Das Auge des Menschen sah damals die Majestät Gottes.
Er war damals nicht in der Finsternis, die ihn verblendet, noch in der Sterblichkeit und in den Leiden, die ihn quälen. Aber er hat soviel Herrlichkeit nicht ertragen können, ohne in die Anmaßung zu fallen. Er hat sich zum Mittelpunkt seiner selbst machen wollen, und unabhängig von meiner Hilfe. Er hat sich meiner Herrschaft entzogen; und als er sich in dem Verlangen, seine Seligkeit in sich selbst zu finden, mir gleichstellte, habe ich ihn sich selbst überlassen; und indem ich die Geschöpfe, die ihm untertan waren, aufsässig machte, habe ich sie zu seinen Feinden gemacht, so daß der Mensch heute den Tieren ähnlich geworden ist, und von mir so weit entfernt ist, daß ihm kaum eine verworrene Erkenntnis seines Schöpfers verleibt: so sehr sind alle seine Erkenntnisse ausgelöscht oder verwirrt worden. Die Sinne, unabhängig von der Vernunft und oft fern der Vernunft, haben ihn zur Jagd nach den Vergnügungen verführt. Alle Geschöpfe quälen oder versuchen ihn und herrschen über ihn, indem sie ihn entweder durch ihre Kraft unterwerfen oder durch ihren Reiz bezaubern, [103] was eine noch schrecklichere und gewaltsamere Beherrschung ist.
Das ist der Zustand, in dem die Menschen heute sind. Es bleibt ihnen eine ohnmächtige Ahnung von Glück ihrer ersten Natur, und sie sind untergetaucht in die Armseligkeit ihrer Verblendung und ihrer Begehrlichkeit, die ihre zweite Natur geworden ist.
[...] Betrachtet jetzt alle Regungen der Größe und der Herrlichkeit, welche die Erfahrung von soviel Erbärmlichkeit nicht hat ersticken können, und sehet, ob die Ursache dafür nicht in einer anderen Natur liegen muß. [...] [105] [...]

230.
Das Christentum ist seltsam: Es schreibt dem Menschen vor, zu erkennen, daß er gemein, ja sogar verabscheuungswürdig ist, und es schreibt ihm vor, Gott ähnlich sein zu wollen. Ohne ein solches Gegengewicht würde diese Erhöhung ihn fürchterlich eitel, oder jene Demütigung ihn entsetzlich niedergeschlagen machen.

231.
Wenn der Mensch Gott erkennt, ohne sein Elend zu erkennen, verfällt er dem Stolz. Erkennt er sein Elend, ohne Gott zu erkennen, verfällt er der Verzweiflung. Durch die Erkenntnis Jesu Christi stehen wir in der Mitte, denn darin finden wir sowohl Gott wie auch unser Elend.

232.
Jesus Christus ist ein Gott, dem man sich nähert, ohne stolz zu werden, und vor dem man sich erniedrigt, ohne zu verzweifeln. [...] [107]

Abteilung 4: Die menschlichen Gesellschaftsformen


[...] [114] [...]

263.
[...] Die Wissenschaften haben zwei Extreme, die sich berühren. Das erste ist die reine, natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen bei ihrer Geburt befinden. Das andere Extrem ist [jene Unwissenheit], zu der die großen Seelen gelangen, wenn sie entdecken, daß sie nichts wissen, nachdem sie alles durchlaufen haben, was die Menschen wissen können, und sich dann in der gleichen Unwissenheit befinden, von der sie ausgegangen waren; (aber das ist eine wissende Unwissenheit, die sich selber kennt). Die, welche zwischen diesen beiden Extremen stehen, welche die natürliche Unwissenheit verlasen haben und nicht zu der anderen zu gelangen ver-[115]mochten, haben einen gewissen Firnis von jener selbstgefälligen Wissenschaft und spielen die Erfahrenen. Sie verwirren die Welt und urteilen über alles verkehrt. [...] [134]

IV. Der Mensch im Weltall


[...] [139]

Abteilung 2: Die trügerischen Mächte


309.
Der Mensch ist nur ein Wesen voll natürlichen und ohne die Gnade unaustilgbaren Irrtums. Nichts zeigt ihm die Wahrheit. Alles täuscht ihn; den beiden Wahrheitsprinzipien, der Vernunft und den Sinne, fehlt nicht nur die Aufrichtigkeit; sondern sie täuschen einander gegenseitig. Die Sinne täuschen die Vernunft durch falschen Schein; und den gleichen Betrug, den sie der Vernunft antun, müssen sie sich ihrerseits von ihr gefallen lassen. Das ist die Rache der Vernunft. Die Leidenschaften der Seele verwirren ihre Organe und vermitteln ihnen falsche Eindrücke. Sie lügen und betrügen sich mit Lust. [...] [154]

316.
[...] Und was unsere Ohnmacht, die Dinge zu erkennen, vollendet, ist dieses, daß sie in sich selbst einfach sind, und daß wir aus zwei entgegengesetzten Naturen von verschiedener Wesensart zusammengesetzt seien: Aus Seele und Leib. Denn es ist unmöglich, daß der Teil in uns, der denkt, anders ist als geistig; und wenn man behauptete, daß wir schlechtweg körperlich seien, wäre es uns noch viel unmöglicher, die Dinge zu erkennen; denn nichts ist so unfassbar wie die Behauptung, daß die Materie sich selbst erkenne; es ist uns nicht mögilch, zu erkennen, auf welche Weise sie sich erkennen würde.
Wenn wir schlechthin stofflich sind, können wir also über-[154]haupt nichts erkennen, und wenn wir aus Geist und Stoff zusammengesetzt sind, können wir die einfachen Dinge, die geistigen oder die körperlichen, nicht vollkommen erkennen.

317.
Daher kommt es, daß fast alle Philosophen die Ideen der Dinge verwechseln und den stofflichen Dingen geistige, und den geistigen stoffliche Eigenschaften zuschreiben. Denn sie behaupten kühn, daß die Körper nach unten streben, daß sie ihrem Mittelpunkt zustreben, daß sie ihre Zerstörung fliehen, daß sie das Leere fürchten, daß die Natur Neigungen, Sympathien und Antipathien hat; aber all das kommt nur dem Geiste zu. Und wenn sie vom Geiste sprechen, betrachten sie ihn, als wäre er im Raume, und schreiben ihm die Bewegung von Ort zu Ort zu; all das kommt aber nur den Körpern zu.
Anstatt die Ideen dieser Dinge rein aufzufassen, färben wir sie mit unsern Eigenschaften und prägen [die Natur] unseres zusammengesetzten Seins auf alle einfachen Dinge, die wir betrachten.
Wenn man sieht, wie wir alle Dinge aus Geist und Stoff zusammensetzen, sollte man da nicht glauben, daß eine derartige Mischung sehr verständlich für uns sei? Aber sie ist gerade das, was wir am allerwenigsten begreifen. Der Mensch ist sich selbst der wunderbarste Gegenstand der Natur; denn er kann nicht begreifen, was der Körper und noch viel weniger, was der Geist ist, und am allerwenigsten, wie ein Körper mit einem Geist verbunden sein kann. Das ist der Höhepunkt seiner Schwierigkeit, und gerade darin liegt sein eigentliches Wesen: Modus quo corporibus ad-[156]haerent spiritus comprehendi ab hominibus non potest, et hoch tamen homo est. [Die Weise, wie der Geist mit dem Leib verbunden ist, kann vom Menschen nicht begriffen werden, und gerade das ist der Mensch. | Augustin, De Civ. Die XXI, 10].[...]

Abteilung 3: Der Pyrrhonismus


[...] [164] [...]

334.
Wir erkennen die Wahrheit nicht mit der Vernunft allein, sondern auch mit dem Herzen; auf die zweite Art erkennen wir die ersten Prinzipien, und es ist eitel, wenn das Urteil, das [an dieser Erkenntnis] keinen Teil hat, sie zu widerlegen versucht. [...]
Das Herz fühlt, daß es drei Dimensionen im Raume gibt und daß die Zahlen unendlich sind; und die Vernunft beweist dann, daß es keine zwei Quadratzahlen gibt, deren eine das Doppelte der anderen beträgt. Die Prinzipien werden gefühlt, die Lehrsätze erschlossen; und Beides mit Sicherheit, wenn auch auf verschiedenen Wegen.
Es ist ebenso sinnlos und lächerlich, daß die Vernunft vom Herzen Beweise für seine ersten Prinzipien verlangt, wenn [165] sie ihre Zustimmung dazu geben will, wie es lächerlich wäre, wenn das Herz von der Vernunft verlangte, alle von ihr bewiesenen Gesetze durch ein Gefühl zu begründen, damit es sie annehme.
Diese Ohnmacht darf also nur dazu dienen, die Vernunft zu demütigen, die über alles urteilen möchte, nicht aber unsere Sicherheit zu erschüttern, also ob nur die Vernunft uns belehren könnte. Möge es im Gegenteil Gott gefallen, daß wir ihrer nie bedürfen, und daß wir alle Dinge durch Instinkt und Gefühl erkennen! Aber die Natur hat uns diesen Vorteil verweigert; sie hat uns im Gegenteil nur sehr wenige Erkenntnisse dieser Art gegeben; alle andern können nur durch das Denken erworben werden.
Darum sind die, denen Gott die Religion durch die Empfindung des Herzens geschenkt hat, sehr glücklich und durchaus rechtmäßig überzeugt. Aber denen, die sie nicht haben, können wir sie nur durch das Denken vermitteln, in der Hoffnung, daß Gott sie ihnen durch die Empfindung des Herzens schenke, ohne welche der Glaube nur menschlich ist und nicht zum Heile taugt. [...] [173] [...]

341.
[...] Nur darum lästern [die Gottesleugner] die christliche Religion, weil sie sie schlecht kennen. Sie bilden sich ein, sie bestehe einfachhin in der Anbetung eines Gottes, der als groß, mächtig und ewig angesehen wird – was recht eigentlich Deismus ist, der von der christlichen Religion beinah soweit entfernt ist wie der Atheismus, der ihr ganz und gar entgegengesetzt ist. [...]
[...] denn ihr eigentliches Wesen liegt im Geheimnis des Erlösers beschlossen, der zwei Naturen, eine menschliche und eine göttliche, in sich vereinte, und dadurch die Menschen aus der Verderbnis der Sünde befreit hat, um sie in seiner göttlichen Person mit Gott zu versöhnen.
Darum lehrt sie die Menschen gleichzeitig diese beiden Wahrheiten: Daß es einen Gott gibt, dessen die Menschen fähig sind, und daß es in der Natur eine Verderbnis gibt, die sie seiner unwürdig macht. Es ist für den Menschen gleich wichtig, diese beiden Wahrheiten zu erkennen; es ist für den Menschen gleich gefährlich, Gott zu erkennen, ohne sein Elend zu erkennen, und sein Elend zu erkennen, [174] ohne den Erlöser zu erkennen, der ihn davon heilen kann. Eine dieser Erkenntnisse allein schafft entweder den Hochmut der Philosophen, die Gott, aber nicht ihr Elend erkannt haben, oder die Verzweiflung der Atheisten, die ihr Elend, aber nicht den Erlöser erkennen.
Da also die Erkenntnis dieser beiden Wahrheiten für den Menschen gleich notwendig ist, zeugt es von der gleichen Barmherzigkeit Gottes, daß er sie uns offenbart hat. Die christliche Religion tut das, und darin besteht ihr Wesen.
Man prüfe daraufhin die Ordnung der Welt und sehe, ob nicht alle Dinge darauf abzielen, die beiden Hauptpunkte dieser Religion zu begründen: Jesus Christus ist das Ziel von allem und der Mittelpunkt, dem alles zustrebt. Wer ihn kennt, kennt den Grund aller Dinge.
Die, welche irren, irren nur, weil sie einen der beiden Punkte nicht sehen. Man kann also sehr gut Gott erkennen ohne sein Elend, und sein Elend ohne Gott; aber man kann nicht Jesus Christus erkennen, ohne zugleich Gott und sein Elend zu erkennen. [...] [175] [...]
Wenn es zum Wesen der Welt gehörte, den Menschen über Gott zu belehren, würde seine Göttlichkeit unwiderleglich aus ihr hervorleuchten; da sie aber nur durch Jesus Christus und für Jesus Christus besteht, und um die Menschen über ihre Verderbnis und über ihre Erlösung zu belehren, ist sie ganz erfüllt von Beweisen für diese beiden Wahrheiten. Was in ihr sichtbar wird, beweist weder die völlige Ab-[176]wesenheit, noch die offenbare Gegenwart einer Göttlichkeit, sondern die Gegenwart eines Gottes, der sich verbirgt. Alles trägt dieses Kennzeichen. [...]

342.
Darum ist es wahr, daß alles den Menschen über seinen Zustand belehrt, aber man muß es recht verstehen: Denn es ist nicht wahr, daß alles Gott offenbart, und es ist nicht wahr, daß alles Gott verbirgt. Aber es ist zugleich wahr, daß er sich denen verbirgt, die ihn versuchen, und sich denen offenbart, die ihn suchen, weil alle Menschen insgesamt Gottes unwürdig und Gottes fähig sind; unwürdig durch ihre Verderbnis, fähig durch ihre erste Natur. [...] [183]

V. Die heiligen Bücher und das jüdische Volk

Abteilung 1: Das jüdische Volk als Verwalter der Wahrheit


354.
Wenn ich die Verblendung und das Elend des Menschen sehe, wenn ich das ganze stumme Weltall betrachte und den Menschen: Ohne Licht, sich selbst überlassen und verirrt in diesen Winkel des Weltalls, ohne zu wissen, wer ihn dahin gestellt hat, wozu er dahin geraten ist, was auch ihm werden wird, wenn er stirbt, unfähig jeder Erkenntnis – kommt das Entsetzen über mich, wie über einen Menschen, den man schlafend auf eine verlassene und furchtbare Insel getragen, und der erwacht, ohne zu erkennen, wo er ist, und ohne Möglichkeit, sie wieder zu verlassen. Und dann wundere ich mich, daß man nicht der Verzweiflung über einen so erbärmlichen Zustand verfällt. [...] [184] Ich sehe verschiedene einander widersprechende Religionen, die folglich alle falsch sind, ausgenommen eine. Jede will, daß man auf Grund ihrer eigenen Autorität an sie glaube, und bedroht die Ungläubigen. Ich glaube also daraufhin nicht an sie. Jeder kann das sagen, jeder kann sich einen Propheten nennen. Aber christliche Religion, wo ich [erfüllte] Prophezeiungen finde, und das kann nicht jeder zuwege bringen.

355.
[...] [185] Wenn ich aber die unbeständige und groteske Mannigfaltigkeit der Sitten und des Glaubens zu den verschiedenen Zeiten so betrachte, finde ich in einem Winkel der Welt ein bestimmtes Volk, getrennt von allen andern Völkern der Erde, das älteste von allen, dessen Geschichtsbücher den ältesten, die wir haben, um mehrere Jahrhunderte vorausgehen. Ich finde also dieses große und zahlreiche Volk, das von einem einzigen Menschen abstammt, das einen einzigen Gott anbetet, und das sich nach einem Gesetz richtet, von dem sie sagen, sie hätten es aus seiner Hand erhalten. Sie bestehen darauf, daß auf der Welt ihnen allein Gott seine Geheimnisse geoffenbart hat; daß alle Menschen verdorben und in der Ungnade Gottes sind; daß sie alle ihren Sinnen und ihrem eigenen Geist überlassen sind; und daß sich daraus die seltsamen Verirrungen und die ewigen Veränderungen der Religionen und der Gewohnheiten unter ihnen erklären, während sie selbst unerschütterlich in ihrer Haltung ausharren; daß aber Gott die anderen Völker nicht ewig in dieser Finsternis lassen wird; daß ein Befreier für alle kommen wird; daß sie auf der Welt sind, Ihn den Menschen zu verkünden; daß sie eigens dafür geschaffen sind, die Vorläufer und Herolde dieses großen Ereignisses zu sein, und alle Völker aufzurufen, sich mit ihnen in der Erwartung des Befreiers zu vereinen.
Die Begegnung mit diesem Volk setzt mich in Erstaunen und scheint mir der Aufmerksamkeit würdig. Ich betrachte dieses Gesetz, daß sie sich rühmen von Gott erhalten zu haben, und ich finde es wunderbar. Es ist das erste aller Gesetze, dergestalt, daß bereits fast tausend Jahre vergangen waren, seit sie es empfangen und ohne Unterbrechung befolgt hatten, bevor auch nur das Wort „Gesetze“ bei den Menschen im Gebrauch war. [...] [189]

360.
Zur Zeit des Messias spaltete sich das Volk: Die Geistigen nahmen den Messias auf; die Fleischlichen sind geblieben, um [wider ihren Willen] Zeugnis abzulegen für ihn. [190]

361.
Wenn alle Juden durch Jesus Christus bekehrt worden wären, hätten wir nur noch verdächtige Zeugen. Und wären sie ausgerottet worden, hätten wir überhaupt keine. [...] [193] [...]

373.
Die fleischlichen Juden verstanden weder die Größe, noch die Erniedrigung des Messias, der in ihren Prophezeiungen vorausgesagt war. Sie haben ihn in seiner vorausgesagten Größe verkannt; zum Beispiel, als er sagte, daß der Messias, obgleich der Sohn Davids, dessen Herr sein werde [Mt 22,45], und daß er vor Abraham sei, und ihn gesehen habe [Joh 8,56]; sie haben ihn nicht für so groß gehalten, daß er ewig sein könne [Joh 23,34], und ebenso haben sie ihn in seiner Erniedrigung und in seinem Tode verkannt. Der Messias, sagten sie, bleibt ewig, und dieser sagt, er werde sterben. Sie glaubten also weder an seine Sterblichkeit noch an seine Ewigkeit: sie suchten in ihm nur eine falsche Größe. [...] [194] [...]

375.
Als Nebukadnezar das Volk in die Gefangenschaft führte, aus Furcht, man würde es nicht glauben, daß das Zepter von Juda genommen sei, wurde ihm vorausgesagt, daß sie nur kurze Zeit im Exil sein und wieder in ihre Rechte eingesetzt würden.
Sie wurden stets von den Propheten getröstet und ihre Könige blieben. Aber die zweite Vernichtung ist ohne Verheißung einer Wiedereinsetzung, ohne Propheten, ohne Könige, ohne Trost, ohne Hoffnung, weil ihnen das Zepter für immer genommen ist. [...] [199]

Abteilung 2: Die Bilder


[...] [201] [...]

389.
Bilder. – Die Juden waren alt geworden in diesen irdischen Gedanken: daß Gott ihren Vater Abraham liebe, sein Fleisch und was aus diesem hervorging; daß er sie darum vermehrt und von allen anderen Völkern geschieden habe, und nicht dulde, daß sie sich mit diesen vermischten; daß er sie, als sie in Ägypten schmachteten, mit all den gewaltigen Zeichen, die zu ihren Gunsten geschahen, befreit habe; daß er sie in der Wüste mit dem Manna ernährt und sie in ein sehr fruchtbares Land geführt habe; daß er ihnen Könige gegeben und einen schön gebauten Tempel, um Tiere darin zu opfern; daß sie gereinigt würden, indem sie das Blut dieser Tiere vergossen, und daß er ihnen schließlich den Messias senden müsse, um sie zu Herren der ganzen Welt zu machen. Und er hat die Zeit seiner Ankunft vorausgesagt.
Als die Welt in diesen fleischlichen Irrtümern alt geworden war, ist Jesus zu dem vorausgesagten Zeitpunkt gekommen, aber nicht in dem erwarteten Glanze. Und so haben sie nicht gedacht, daß er dieser Messias sein könne. Nach seinem Tode ist der heilige Paulus gekommen, um die Menschen darüber zu belehren, daß alle jene Begebenheiten nur Bilder waren [Gal 4,24]; daß das Reich Gottes nicht im Fleische, sondern im Geiste besteht; daß die Feinde der Menschen nicht die Babylonier, sondern die Leidenschaften waren; daß Gott nicht an Tempeln, die Menschen-[202]hände geschaffen, sich freue, sondern an einem reinen und demütigen Herzen; daß die Beschneidung des Leibes unnütz sei, daß aber die des Himmels notwendig sei; daß Moses ihnen nicht das Brot vom Himmel gegeben habe, usw.
Da aber Gott solche Dinge einem Volke, das ihrer unwürdig war, nicht offenbaren wollte, und da er sie trotzdem voraussagen wollte, damit sie Glauben fänden, hat er die Zeit ihrer Erfüllung klar vorausgesagt; zuweilen hat er sie auch klar ausgedrückt, zum größten Teil aber in Bildern, damit die, welche das Abbild liebten, sich damit begnügten, und die, welche das Urbild liebten, im Abbilde das Urbild sähen.
Alles, was nicht die Liebe zum Ziel hat, ist nur ein Bild. Der einzige Gegenstand der Schrift ist die Liebe.
Alles, was sich nicht auf das einzige Ziel bezieht, ist dessen Bild; denn da es nur ein Ziel gibt, ist jedes Wort, das nicht ausdrücklich dieses Ziel bezeichnet, ein bildliches Wort.
Darum gibt Gott dieser einen Vorschrift der Liebe eine so mannigfaltige Gestalt, um unsere Neugierde, welche die Verschiedenheit sucht, durch eine Mannigfaltigkeit zu befriedigen, die uns stets zu dem führt, das allein uns nottut. Denn nur eines tut not, und wir lieben die Mannigfaltigkeit; und Gott willfährt dem einen wie dem anderen durch diese Mannigfaltigkeit, die zu dem einzig Notwendigen führt. [...] [205] [...]

393.
Bilder. – Wenn man einmal dieses Geheimnis entdeckt hat, ist es unmöglich, es nicht zu sehen. Man lese das Alte Testament unter diesem Gesichtspunkte, und sehe, ob die Opfer wahr waren, ob die Vaterschaft Abrahams der wahre Grund für die Freundschaft Gottes war, ob das Land der Verheißung der wahre Ort der Ruhe war – nein; also waren es Bilder. Man betrachte desgleichen alle die angeordneten Zeremonien, alle die Gebote, die nicht um der Liebe willen da sind, und man wird sehen, daß sie deren Bilder sind. [...] [215] [...]

413.
Prophezeiungen. – Transfixerunt [Sie haben ihn durchbohrt]. Zach. 12,10.
Es werde ein Befreier kommen, der dem Teufel den Kopf zertrete, der sein Volk von seinen Sünden befreien müsse: ex omnibus iniquitatibus [Ps 130,8]. Ein neuer Bund müsse gegründet werden, der ewig dauern werde; es werde ein anderes Priestertum kkommen nach der Ordnung des Melchisedek [Ps 110,4]; dieses Priestertum werde ewig sein; Christus müsse in der Glorie sein, machtvoll und gewaltig, und trotzdem so armselig, daß er nicht anerkannt werde; man werde ihn nicht für das halten, was er ist; man werde ihn zurückweisen und töten; sein Volk, das ihn leugne, werde nicht mehr sein Volk sein; [...].

414.
Bilder. – Um zu zeigen, daß das Alte Testament nur bildlichen Sinn hat, und daß die Propheten mit den zeitlichen Gütern andere Güter meinten, muß man sagen: erstens: es wäre Gottes unwürdig, nur zeitliche Güter zu verheißen; zweitens: ihre Reden drücken sehr klar die Verheißung der zeitlichen Güter aus, und trotzdem sagen sie, daß ihre Re-[216]den dunkel sind, und daß man ihren Sinn nicht verstehen werde; daraus erhellt, daß dieser geheime Sinn nicht der war, den sie offen ausdrückten, und daß sie folglich von anderen Opfern, von einem anderen Befreier usw. sprechen wollten.
Sie sagen, daß man [diesen Sinn] erst am Ende der Zeiten verstehen werde. Jer. 30, ult.
Der dritte Beweis liegt darin, daß ihre Reden einander widersprechen und sich aufheben, so daß ein offenbarer und grober Widerspruch vorliegt, wenn man meint, sie hätten unter den Worten „Gesetzt“ und „Opfer“ nichts anderes verstanden, als [das Gesetz und das Opfer] des Moses. Also verstanden sie etwas anderes darunter, wenn sie sich zuweilen in ein und demselben Kapitel widersprechen. [...]

417.
Das Evangelium beschreibt den Zustand der kranken Seele durch das Bild des kranken Leibes; weil aber die Krankheit des Leibes nicht ausreicht, um die der Seele gut zu beschreiben, waren noch andere Bilder nötig. So gibt es den Tauben, den Stummen, den Blinden, den Gelähmten, den toten [217] Lazarus, den Besessenen. All das zusammen ist in der kranken Seele. [...] [222]

Abteilung 3: Dass Gott sich hat verbergen wollen


432.
Warum es die Bilder gibt. – Damit der Messias Glauben fände, war es nötig, daß Prophezeiungen voraufgingen und daß sie von unverdächtigen Menschen mit Sorgfalt und Treue und einem außerordentlichen Eifer weitergetragen und der ganzen Erde offenbart würden.
Um all das zu erreichen, hat Gott dieses fleischliche Volk erwählt und ihm die Prophezeiungen in Verwahrung gegeben, welche den Messias voraussagen als [politischen] Befreier und als Spender der fleischlichen Güter, die dieses Volk liebte. Und darum hat es einen außerordentlichen Eifer für seine Propheten gehabt, und jene Bücher, die ihren Messias voraussagen, vor die Augen der ganzen Welt hingestellt, indem sie allen Nationen beteuerten, daß er kommen müsse in der Weise, die in den Büchern, die sie für alle Welt offen hielten, vorausgesagt war. Und so ist dieses Volk getäuscht durch die schimpfliche und armselige Ankunft des Messias, dessen grausamster Feind geworden. So sind also die Juden das Volk auf der Welt, das am wenigsten im Verdacht steht, uns zu begünstigen: das strengste und eifrigste von allen in der Sorge für sein Gesetz und seine Propheten, die es unverändert weiter überlieferte; und es sind die, welche Jesus Christus, der ihnen ein Ärgernis war, zurückgestoßen und gekreuzigt haben, zugleich die, welche die Bücher überliefern, die über ihn Zeugnis geben und sagen, daß er zurückgestoßen und ein Ärgernis sein wird; indem sie ihn zurückwiesen, haben sie gezeigt, daß er es ist und so ist er durch die gerechten Juden, die ihn angenommen, und durch die ungerechten, [223] die ihn zurückgestoßen haben, in gleicher Weise bewiesen worden, da das eine wie das andere vorausgesagt war. [...] [438] [...]

438.
[...] Darum sagt der heilige Johannes [Joh 12,39]: Sie glauben nicht, obgleich er so viele Wunder vollbrachte, damit das Wort des Jesajas sich erfülle: Er hat sie blind gemacht [Jes 6,9] usw.

439.
[...] Wie mußte der Messias sein, da durch ihn das Zepter ewig bei Juda bleiben mußte, und doch bei seiner Ankunft das Zepter von Juda genommen werden sollte? [Gen 49,10]. [...] [230] [...]

445.
Daß Gott sich hat verbergen wollen. – Wenn es nur eine Religion gäbe, wäre Gott in ihr ganz offenbar. Desgleichen wenn es nur in unserer Religion Märtyrer gäbe.
Da Gott so verborgen ist, kann keine Religion, die nicht sagt, daß Gott verborgen ist, wahr sein; und keine Religion, die nicht den Grund für diese Verborgenheit angibt, ist fähig, uns zu unterweisen. Die unsere tut alles das: Vere tu es Deus absconditus [Du bist ein wahrhaft verborgener Gott, Jes 45,15]. [...] [231] [...]

448.
Größe. – Die Religion ist etwas so Großes, daß es gerecht ist, daß die, welche sich nicht die Mühe machen wollen, sie zu suchen, ihrer beraubt werden. Worüber beklagt man sich also, wenn sie so ist, daß man sie finden kann, wenn man sie sucht? [232]

449.
Nicht nach dem, was bei Mohammed dunkel ist und was man um eines geheimnisvollen Sinnes willen gelten lassen könnte, will ich ihn beurteilt wissen, sondern nach dem, was klar ist, nach seinem Paradies und dem übrigen. Darin ist er lächerlich. Und darum ist es nicht recht, seine Dunkelheiten für Geheimnisse zu halten, da ja seine Klarheiten lächerlich sind.
Mit der Schrift verhält es sich nicht ebenso. Ich gebe zu, daß es Dunkelheiten darin gibt, die ebenso sonderbar sind wie die Mohammes; aber es gibt darin wunderbare Klarheiten und eindeutig erfüllte Prophezeiungen. Beides läßt sich also nicht vergleichen. Dinge, die sich nur durch ihre Dunkelheit, nicht aber durch ihre Klarheit gleichen, um derentwillen man die Dunkelheit achtet, darf man nicht miteinander verwechseln und einander gleichsetzen. [...] [233] [...]

451.
Die Natur hat Vollkommenheiten, um zu zeigen, daß sie das Abbild Gottes ist, und Mängel, um zu zeigen, daß sie nur das Abbild ist. [...] [235] [...]

459.
Wenn man nicht erkennt, wie sehr man erfüllt ist von Hochmut, Ehrgeiz, Begehrlichkeit, Schwäche, Armseligkeit und Ungerechtigkeit, ist man sehr blind. Und wenn man es er-[236]kennt und nicht davon befreit zu werden begehrt – was soll man von einem solchen Menschen sagen...?
Kann man also etwas anderes als Achtung für eine Religion haben, welche die Fehler des Menschen so gut erkennt, und etwas anderes als Sehnsucht nach der Wahrheit einer Religion, die so begehrenswerte Mittel dafür verspricht?

460.
Wenn Jesus nur gekommen wäre, um zu heiligen, würden die ganze Schrift und alle Ereignisse darauf abzielen, und es wäre sehr leicht, die Ungläubigen zu überzeugen. Wenn Jesus Christus nur gekommen wäre, um zu verblenden, wäre sein ganzes Verhalten unerklärlich, und wir hätten kein Mittel, die Ungläubigen zu überzeugen. Da er aber gekommen ist in sanctificationem et in scandalum, wie Jesaias sagt [zur Heiligung und zum Ärgernis, Jes 8,14], können wir die Ungläubigen nicht überzeugen und sie können uns nicht überzeugen; [...]. [...] [237] [...]

465.
Was sagen die Prophezeiungen von Jesus Christus? Daß er als Gott offenbar wird? Nein; sondern daß er ein wahrhaft verborgener Gott ist; daß man ihn verkennen wird; daß man nicht glauben wird, daß er es sei; daß er ein Stein des Anstoßes sein wird, an den Viele stoßen werden, usw. Man werfe uns also nicht mehr den Mangel an Klarheit vor, da wir uns selbst dazu bekennen.
Aber, sagt man, es gibt Dunkelheiten. – Doch ohne sie hätte man an Jesus Christus kein Ärgernis genommen, und das Ärgernis gehört zu den ausdrücklichen Absichten der Propheten: Eccaceca... [Verblende! Jes 6,10]. [238]

466.
Statt euch darüber zu beklagen, daß Gott sich verborgen hat, werdet ihr ihm dafür danken, daß er sich so sehr geoffenbart hat; und ihr werdet ihm noch viel mehr dafür danken, daß er sich nicht dem Hochmut der Weisen geoffenbart hat, die unwürdig sind, einen so heiligen Gott zu erkennen.
Zwei Arten von Menschen erkennen: Die, welche ein demütiges Herz haben und die Niedrigkeit lieben, wo immer auf der Stufenleiter des Geistes sie stehen: hoch oder tief; oder die, welche Geist genug haben, um die Wahrheit zu sehen, wie groß auch ihr Widerwille dagegen sei. [...] [245]

VI. Jesus Christus

Abteilung 1: Beweise für Jesus Christus – Dauer – Zeugnisse – Prophezeiungen – Wunder


481.
Dauer. – Diese Religion, die in dem Glauben besteht, daß der Mensch aus einem Zustand der Herrlichkeit und der Verbundenheit mit Gott in einen Zustand der Betrübnis, der Buße und der Entfernung von Gott gefallen ist, daß wir aber nach diesem Leben, durch einen Messias, der kommen mußte, wieder eingesetzt werden – diese Religion ist immer auf Erden gewesen. Alle Dinge sind vergangen, und sie, für die alle Dinge sind, ist geblieben. Im ersten Zeitalter der Welt haben sich die Menschen zu Ausschweifungen jeglicher Art hinreißen lassen, aber es gab Heilige, wie Enoch, Lamech und andere, die vom Anbeginn der Welt an in Geduld auf den verheißenen Christus harrten. Noah hat die Bosheit der Menschen auf ihrer höchsten Stufe gesehen, und er hat es verdient, in seiner Person durch die Hoffnung auf den Messias, dessen Bild er war, die Welt zu retten. Abraham war von Götzendienern umgeben, als Gott ihm das Geheimnis des Messias offenbarte, den er aus der Ferne gegrüßt hat. Zur Zeit Isaaks und Jakobs war der Götzendienst über die ganze Erde verbreitet, aber diese Heiligen lebten im Glauben; und als Jakob stirbt und seine Kinder segnet, ruft er in einer Entrückung, die ihn seine Rede unterbrechen läßt: ich erwarte, o mein Gott, den Heiland, den du verheißen hast: Salutare tuum expectabo Do-[246]mine [1 Mos 49,18]. Die Ägypter waren durch Götzendienst und Magie vergiftet; selbst das Volk Gottes wurde durch ihr Beispiel verführt; aber Moses und andere glaubten an den, den sie nicht sahen, und beteten ihn an, indem sie die ewigen Gaben bedachten, die er ihnen bereitete. [...]

483.
Dauer. – Man bedenke, daß die Erwartung oder Anbetung des Messias seit dem Anbeginn der Welt ohne Unterbrechung besteht, daß sich Menschen fanden, die gesagt haben, Gott habe ihnen offenbart, es werde ein Erlöser geboren werden, der sein Volk retten werde; daß dann Abraham gekommen ist, um zu sagen, es sei ihm offenbart worden, er werde durch einen seiner Söhne aus ihm geboren werden; daß Jakob erklärt hat, er werde von Juda, einem seiner zwölf Kinder, abstammen; daß dann Moses und die Propheten gekommen sind, die Zeit und die Weise seiner Ankunft zu verkünden; daß sie gesagt haben, ihr Gesetz habe nur in der Erwartung des messianischen Gesetzes seinen Sinn; es werde ohne Unterbrechung bis zum Messias währen, jenes neue Gesetz aber werde ewig dauern; und so werde ihr Gesetz, oder das des Messias, dessen Verheißung es war, immerdar auf Erden sein; daß es in der Tat ununterbrochen gedauert hat; daß schließlich Jesus Christus unter allen vorausgesagten Umständen erschienen ist.
Das ist wunderbar. [248] [...]

488.
Prophezeiungen. – Der größte aller Beweise für Jesus Christus sind die Prophezeiungen. Und dafür hat Gott auch am besten gesorgt; denn das Ereignis, das sie erfüllt hat, ist ein [249] Wunder, welches von der Geburt der Kirche bis zum Ende der Zeiten Bestand hat. Auch hat Gott 1600 Jahre lang Propheten erweckt; und nachher hat er 400 Jahre lang alle diese Prophezeiungen zusammen mit den Juden, die sie weiter überlieferten, über alle Orte der Welt zerstreut. Dergestalt war die Vorbereitung auf die Geburt Jesu Christi; denn da sein Evangelium auf der ganzen Welt geglaubt werden sollte, mußte es nicht nur Prophezeiungen geben, um den Glauben an dieses Evangelium zu bewirken, sondern diese Prophezeiungen mussten auf der ganzen Welt verbreitet sein, damit es von der ganzen Welt angenommen würde. [...]

490.
Prophezeiungen. – Wenn ein einziger Mensch ein Buch abgefasst hätte, mit Weissagungen über Jesus Christus, die Zeit und die Weise [seiner Ankunft] betreffend, und wenn Jesus Christus in Übereinstimmung mit diesen Prophezeiungen erschien wäre, so wäre das von unendlicher Überzeugungskraft.
Aber hier ist viel mehr. Eine ganze Reihe von Menschen tritt auf, die 4000 Jahre lang beständig und ohne Abweichung, einer nach dem andern, dieses gleiche Ereignis vor-[250]aussagen. Ein ganzes Volk verkündet es, das seit 4000 Jahren besteht, damit es in seiner Gesamtheit Zeugnis ablege über die Zusagen, die es im Hinblick auf jenes Ereignis erhalten hat, und von denen sie nicht abspenstig gemacht werden können, wie sehr man sie auch bedrohe und verfolge: das ist in einem ganz anderen Maße beachtlich. [...] [252]

501.
Nachdem viele vorher gekommen waren, ist schließlich Jesus Christus erschienen, um zu sagen: Ich bin gekommen und die Fülle der Zeit ist da. Wovon die Propheten gesagt haben, daß es in der Folge der Zeiten geschehen muß, davon sage ich euch, daß meine Apostel es tun werden. Die Juden werden verstoßen werden, Jerusalem wird bald zerstört werden; und die Heiden werden in die Erkenntnis Gottes eingehen. Die Apostel werden es vollbringen, nachdem ihr den Erben des Weinberges getötet habt. [...] [253] [...]

503.
Daß Jesus klein sein werde in seinem Anfang, dann aber wachse. Der kleine Stein Daniels [Dan 2,34]. [...] [254] [...]

506.
[...] Die Lämmer [des Alten Bundes] nehmen die Sünden der Welt nicht hinweg, aber ich bin das Lamm, das die Sünden hinwegnimmt [Joh 1,29].
Moses hat euch das Brot vom Himmel nicht gegeben. Moses hat euch nicht aus der Gefangenschaft befreit und euch nicht wahrhaftig frei gemacht [Joh 6,26,32]. [...] [255] [...]

510.
Erfüllte Prophezeiungen. – 1. Kön. 13,2. – 2. Kön. 23,16. – Jos. 6,26. – 1. Kön. 16,34. – 5. Mos. 33 (23).
Maleachi 1,11: Das Opfer der Juden wird verworfen und das Opfer der Heiden wird an allen Orten dargebracht werden, sogar außerhalb Jerusalems. [...] [256] [...]

513.
Sie sind offensichtlich ein Volk, das ausdrücklich zum Zeugnis für den Messias geschaffen ist. [Jes. 43,9; 44,8.) Es besitzt die Bücher und liebt sie und versteht sie nicht; und das alles ist vorausgesagt: daß die Urteile Gottes ihnen anvertraut sind, aber wie ein versiegeltes Buch [Jes 29,11]. [...] [257] [...]

516.
[...] Die Juden werden überall hin zerstreut werden: Jes. 27,6. – Ein neues Gesetz: Jer. 31,32.
Der zweite herrliche Tempel. Jesus Christus wird verkauft: Haggai 2, 7. 10. – Maleachi; Grotius.

517.
Während der Dauer des Messias. – Aenigmatis, Hesek. 17.
Sein Vorläufer: Maleachi 3.
Er wird als Kind geboren werden: Jes. 9.
Er wird aus der Stadt Bethlehem geboren werden: Mich. 5.
Er wird vor allem in Jerusalem erscheinen und er wird geboren werden aus dem Stamme Judas und Davids.
Er muß die Weisen und Gelehrten verblenden: Jes. 6, 8, 29 usw., und das Evangelium den Geringen verkünden: Jes. 29, die Augen der Blinden öffnen, den Kranken die [258] Gesundheit wiedergeben, und die zum Licht führen, die in der Finsternis schmachten: Jes. 56.
Er muß den vollkommenen Weg lehren und der Lehrer der Heiden sein: Jes. 55; 47, 1-7.
Die Prophezeiungen müssen für die Gottlosen unverständlich sein: Dan. 12; Hosea, überdrehter Linkstyp. 10, aber verständlich denen, die recht unterwiesen sind.
Die Prophezeiungen, die ihn als arm darstellen, stellen ihn auch als Herrn der Völker dar: Jes. 52, 14 usw.; 53. Sach. 9,9. [...]
Er muß das Opfer sein für die Sünden der Welt: Jes. 39; 53 usw. Er muß der kostbare Grundstein sein: Jes. 28,16.
Er muß der Stein des Anstoßes und des Ärgernisses sein: Jes. 8. Jerusalem muß gegen diesen Stein stoßen.
Die Bauleute müssen diesen Stein verwerfen: Ps. 118, 22. Gott muß diesen Stein zum Eckstein machen.
Und dieser Stein muß zu einem unermesslichen Berge anwachsen und die ganze Erde erfüllen: Dan. 2.
Er muß darum zurückgestoßen, verkannt und verraten werden: Ps. 109, verkauft: Sach. 11, 12; bespien, gegeißelt, verhöhnt, auf tausenderlei Arten betrübt, mit Galle getränkt: Ps. 69,22: durchbohrt: Sach. 12: er muß an Händen und Füßen durchbohrt, getöetet werden, und das Los wird über seine Kleider geworfen.
Befreiung der Heiden durch Jesus Christus: Jes. 52, 15; 55, 5; 60 usw. Ps. 82, 8.
Hosea 1,9: Ihr werdet mein Volk nicht mehr sein und ich werde Euer Gott nicht mehr sein, nachdem Ihr durch die [259] Zerstreuung vervielfacht seid. An den Stätten, da man mein Volk nicht nennt, da werde ich es mein Volk nennen.

518.
Indem die Juden ihn töteten, um ihn nicht als Messias anzunehmen, haben sie ihm das letzte Kennzeichen des Messias gegeben.
Und indem sie fortfuhren, ihn zu verkennen, haben sie sich zu unbescholtenen Zeugen gemacht: sowohl indem sie ihn töteten, als indem sie dabei verharrten, ihn zu verleugnen, haben sie die Prophezeiungen vollendet. (Jes. 60; Ps. 71).
Daß er auferstehen wird: Ps. 16, am dritten Tage: Hosea 6,3.
Daß er zum Himmel aufsteigen wird, um zur Rechten des Vaters zu sitzen: Ps. 110.
Daß die Könige sich bewaffnen werden wider ihn: Ps. 2.
Daß er zur Rechten des Vaters sitzend über seine Feinde siegen wird.
Daß die Könige der Erde und aller Völker ihn anbeten werden.
Daß die Juden als Volk bestehen werden: Jer.
Daß sie umherirren werden, ohne Könige usw.: Hosea 3, ohne Propheten, ihr Heil erwartend, ohne es zu finden: Jes.
Berufung der Heiden durch Jesus Christus: Jes. 52, 15; 55; 60 usw. Ps. 82, 8.
Berufung der Heiden: Joel 2, 28; Hosea 2, 24; 6. Mos. 32, 21; Mal. 1, 2. [...] [261] [...]

521.
Hosea 3. – Jes. 42, 48, 54, 60, 61 und letzter Vers: ich habe es [262] seit langem vorausgesagt, damit sie wissen, daß ich es bin. [...]

525.
Es gehört Kühnheit dazu, ein und dasselbe Ereignis auf so viele Weisen vorauszusagen; die vier Reiche – der Götzendiener oder der Heiden –, das Ende des Reiches Juda und die 66 Wochen mußten gleichzeitig eintreffen, und das Ganze, bevor der zweite Tempel zerstört war.

526.
Voraussagen. – Daß im vierten Reich, vor der Zerstörung des zweiten Tempels, bevor die Herrschaft von den Juden genommen war, in der 70. Woche Daniels, während [263] der zweite Tempel noch stand, die Heiden belehrt und zur Erkenntnis des von den Juden angebotenen Gottes würden geführt werden; daß die, welche ihn lieben, von ihren Feinden würden befreit werden, erfüllt von seiner Furcht und seiner Liebe:
Und es ist geschehen, daß im vierten Reich, vor der Zerstörung des zweiten Tempels usw. die Heiden in Menge Gott anbeten und ein engelgleiches Leben führen.
Die Mädchen weihen sich Gott mit ihrer Jungfräulichkeit und ihrem Leben; die Männer entsagen allen Freuden. Wozu Plato einige wenige auserwählte und so gelehrte Menschen nicht überreden konnte – dazu überredet eine geheime Kraft durch die Macht weniger Worte hundert Millionen unwissende Menschen.
Die Reichen lassen ihre Habe im Stich, die Kinder verlassen das gepflegte Haus ihrer Eltern, um sich in die Kasteiung der Wüste zu begeben usw. (Man sehe bei Philo, dem Juden.) Was ist das alles? Es ist das, was solange vorher vorausgesagt war. Seit zweitausend Jahren hatte kein Heide den Gott der Juden angebetet; und zu dem vorausgesagten Zeitpunkt betet die Menge der Heiden diesen einzigartigen Gott an. Der Tempel wird zerstört, sogar die Könige unterwerfen sich dem Kreuz. Was ist das alles? Das ist der Geist Gottes, der über die Erde ausgebreitet wird. [...]

527.
Voraussagen. – Es ist vorausgesagt, daß er zur Zeit des Messias kommen werde, einen neuen Bund zu gründen, der [264] die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten auslöschen werde: Jerem. 23, 5; Jes. 43, 16; der sein Gesetz aufrichten werde, nicht im Äußeren, sondern in den Herzen; daß er seine Furcht, die bisher nur im Äußeren gewesen war, mitten in das Herz pflanzen werde. Wer sieht nicht in alledem das christliche Gesetz?

528.
Prophezeiungen. – Daß die Juden Jesus Christus verwerfen würden, und daß Gott sie selbst verwerfen werde, mit der Begründung, daß die auserwählte Rebe nur saueren Wein spende [Jes 50,2]. Daß das auserwählte Volk treulos, undankbar und ungläubig sein werde: populum non credentem et contradicentem [ein ungläubiges und widersetzliches Volk, Jes 45,2 nach Röm 10,21]. Daß Gott sie mit Verblendung schlagen werde und daß sie am hellen Mittag umherstraucheln würden wie die Blinden [5 Mos 28,28], und daß ein Vorläufer vor ihm kommen werde [Mal 4,5]. [...] [269] [...]

545.
Die beiden ältesten Bücher der Welt sind Moses und Hiob; der eine Jude, der andere Heide, und alle beide betrachten [270] Jesus Christus als ihren gemeinsamen Mittelpunkt und als ihr Ziel: Moses, indem er die Verheißungen Gottes und seine eigenen Prophezeiungen auf Abraham, Jakob usw. bezieht; und Job: quis mihi de tut ... scio enim quod redemptor meus vivit... [denn ich weiß, dass mein Erlöser lebt, Hiob 19, 23-25]. [...] [277] [...]

564.
„Wenn ich ein Wunder gesehen hätte“, sagt man, „würde ich mich bekehren.“ Wie kann man so sicher sein, daß man das tun würde, da man es doch gar nicht weiß? Man bildet sich ein, diese Bekehrung bestünde in einer Anbetung, die man Gott zuteil werden läßt wie ein Geschäft und wie eine Unterhaltung, so wie man sich diese vorstellt. Die wahre Bekehrung besteht darin, daß man sich zunichte macht vor diesem ewigen Wesen, das man so oft beleidigt hat, und das euch in jedem Augenblick rechtmäßig vernichten kann; und in der Erkenntnis, daß man ohne es nichts vermag und daß man selbst nichts verdient hat, als seine Ungnade. Sie besteht in der Erkenntnis, daß es zwischen Gott und uns einen unüberwindlichen Gegensatz gibt, und daß es ohne Mittler keine Verbindung mit ihm geben kann. [278].

Abteilung 2: Jesus Christus, die Einheit des Menschengeschlechts


[...] [280]

567.
Ich liebe die Armut, weil er sie geliebt hat. Ich liebe die Güter, weil sie mir das Mittel geben, den Unglücklichen damit zu helfen. Ich bewahre allen menschen gegenüber die Treue und gebe denen das Böse nicht zurück, die es mir antun; aber ich wünsche ihnen einen Zustand, der dem meinen gleich ist, in dem man weder Böses noch Gutes von den Menschen empfängt. Ich versuche, allen Menschen gegenüber gerecht, wahrhaftig, aufrichtig und treu zu sein; ich habe eine Zärtlichkeit des Herzens für die, denen Gott mich enger verbunden hat; und ob ich allein bin oder dem Blick der Menschen ausgesetzt; ich stehe mit allen meinen Handlungen vor dem Angesicht Gottes, der sie richten muß, und dem ich sie alle geweiht habe.
Das sind meine Empfindungen, und ich preise alle Tage meines Lebens meinen Erlöser, der sie in mich gelegt hat, und der aus einem Menschen voller Schwächen, Erbärmlichkeiten, Begehrlichkeiten, Stolz und Ehrgeiz einen Menschen gemacht hat, der von allen diesen Übeln befreit ist und durch die Kraft seiner Gnade, der aller Ruhm gebührt, da sie bei mir nur Erbärmlichkeit und Irrtum findet. [...] [289]

585.
Wer nicht in sich seine Eigenliebe haßt und jenen Instinkt, der ihn dazu treibt, sich zu Gott zu machen, ist sehr verblendet. Wer sieht nicht, daß der Gerechtigkeit und der Wahrheit nichts so sehr entgegengesetzt ist? Denn es ist falsch, daß wir das verdienten, und es ist ungerecht und unmöglich, dahin zu gelangen, daß alle das gleiche verlangen. Wir sind also in einer offenbaren Ungerechtigkeit geboren, von der wir uns nicht freimachen können, und von der wir frei werden müssen. [...] [292] [...]

Abteilung 3: Jesus Christus


[...] [297]

603.
Das Äußere muß mit dem Inneren im Einklang stehen, wenn wir von Gott etwas erlangen wollen. Das heißt, man muß sich auf die Knie werfen, mit den Lippen beten usw., damit der stolze Mensch, der sich nicht hat unterwerfen wollen, jetzt der Kreatur unterworfen sei. Von diesen Äußerlichkeiten die Hilfe erwarten, heißt abergläubisch sein. Sie nicht mit dem Innern in Einklang bringen wollen, heißt hochmütig sein. [...] [309] [...]

Übersetzungen aus der Schrift


[...] [313] [...]

629.
[...] Daß die Beschneidung des Herzens geboten ist: 5. Mos. 10, 16; Jerem. 4, 4.
Daß Gott sagt, er werde sie eines Tages vollziehen: 5. Mos. 30, 6.
Daß die am Herzen nicht Beschnittenen gerichtet werden: Jer. 9, 26.
Daß das Äußere nichts wert ist ohne das Innere: Joel 2, 13: Scindite corda vestra [beschneidet eure Herzen] etc. Jesaias 58, 3, 4 usw.
Die Liebe Gottes wird im ganzen Deuteronomium befohlen: 5. Mos. 30, 19. [...] [314] [...]
Daß die Opfer der Heiden von Gott angenommen werden und daß er sein Wohlgefallen von den Opfern der Juden zurückziehen wird: Maleachi 1,11.
Daß Gott durch den Messias einen Bund schleißen wird, und daß der Alte Bund verworfen wird: Jerem. 31, 31. [...]
Daß die Opfer verworfen und andere, reinere Opfer begründet werden: Maleachi 1, 11.
Daß die Opferordnung Aarons verworfen und die des Melchisedek durch den Messias eingeführt wird: Ps. Dixit Domnius.
Daß diese Opferordnung ewig sein wird: Ebenda.
Daß Jerusalem verworfen und Rom angenommen wird: Ps. Dixit dominus.
Daß der Name der Juden verworfen und ein neuer Name gegeben wird.
Daß dieser letzte Name besser sein wird als der der Juden, und ewig: Jes. 65, 6.
Daß die Juden ohne Propheten sein müssen (Amos), ohne König, ohen Fürsten, ohne Opfer, ohne Götzenbilder: Hosea 6, 4.
Daß die Juden nichtsdestoweniger immer als Volk bestehen werden: Jer. 31, 36. [...] [317].

VII. Reflexionen und Maximen


[...] [349] [...]

Abteilung 3: Miscellanea


[...] [358]

764.
Es ist wahr, daß es Qual bereitet, wenn man in die Frömmigkeit eingeht. Aber die Qual kommt nicht aus der Frömmigkeit, die in uns zu entstehen beginnt, sondern aus der Gottlosigkeit, die noch in uns ist. Wenn unsere Sinne sich der Buße nicht widersetzten und wenn unsere Verderbtheit sich nicht der Reinheit Gottes widersetzte, so läge darin nichts Qualvolles. Wir leiden nur in dem Maße, als das Laster, das uns natürlich ist, der übernatürlichen Gnade widersteht; unser Herz fühlt sich zwischen zwei entgegengesetzten Anstrengungen zerrissen; aber es wäre sehr ungerecht, diese Gewaltsamkeit Gott zuzuschreiben, der uns an sich zieht, statt sie der Welt anzurechnen, die uns zurückhält. So muß ein Kind, das die Mutter den Händen der Räuber entreißt, in der Qual, die es erleidet, die zärtliche und berechtigte Gewalttätigkeit seiner Befreierin lieben, und darf nur die ungestüme und tyrannische Gewalttätigkeit derer verabscheuen, die es ungerecht zurückhalten. Der schlimmste Krieg, den Gott mit den Menschen in diesem Leben führen kann, besteht darin, sie ohne diesen Kampf zu lassen, den zu bringen er gekommen ist. Ich bin gekommen, den Kampf zu bringen, sagt er [Mt 10,24]; und um uns über diesen Kampf zu belehren, sagt er: ich bin gekommen, das Schwert und das Feuer zu bringen [Lk 12,49]. Vor ihm lebte die Welt in jenem falschen Frieden. [...] [360] [...]

770.
Eigenliebe. – Die Natur der Eigenliebe und dieses menschlichen Ich besteht darin, daß man nur sich selbst liebt und nur sich selbst betrachtet. Aber was soll der Mensch tun? Er kann es nicht verhindern, daß dieses Objekt, das er liebt, voller Mängel und Erbärmlichkeiten ist: er will groß sein und er sieht sich klein; er will glücklich sein und er sieht sich elend; er will vollkommen sein und er sieht sich voller Unvollkommenheiten; er will das Ziel der Liebe und der Achtung der Menschen sein, und er sieht, daß seine Fehler nur ihre Abneigung und ihre Verachtung verdienen. Diese Verlegenheit, in der er sich befindet, erzeugt in ihm die ungerechteste und verbrecherischste Lei-[361]denschaft, die man sich vorstellen kann; denn er fasst einen tödlichen Haß gegen diese Wahrheit, die ihn tadelt, und die ihn seiner Mängel überführt. Er möchte sie zunichte machen, und da er sie nicht in ihr selbst zerstören kann, zerstört er sie, sowiel er es vermag, in seinem eigenen Bewusstsein und in dem der anderen. Das heißt, er verwendet alle Mühe darauf, seine Fehler vor den anderen und vor sich selbst zu verbergen, und er kann es nicht ertragen, daß man ihn dazu bringt, sie zu sehen, oder daß andere sie sehen.
Es ist ohne Zweifel schlimm, wenn man voller Mängel ist; aber es ist noch viel schlimmer, wenn man von ihnen erfüllt ist und sie nicht erkennen will, denn das bedeutet, daß man sie noch um den der freiwilligen Illusion vermehrt; wir wollen nicht, daß die anderen uns täuschen; wir finden es nicht gerecht, daß sie von uns mehr geachtet werden wollen, als sie es verdienen; es ist also auch ungerecht, daß wir sie betrügen und wollen, daß sie uns mehr achten, als wir es verdienen.
Wenn sie also nur Unvollkommenheiten und Laster entdecken, die wir wirklich haben, ist es klar, daß sie uns kein Unrecht tun, weil ja nicht sie deren Ursache sind; daß sie uns im Gegenteil eine Wohltat erweisen, da sie uns helfen von einem Übel freizuwerden, das in der Unkenntnis dieser Unvollkommenheiten besteht. Wir dürfen nicht ärgerlich darüber sein, daß sie diese kennen und uns verachten, da es gerecht ist, daß sie uns als das erkennen, was wir sind, und daß sie uns verachten, wenn wir verächtlich sind.
Solche Empfindungen würden in einem Herzen entstehen, das von Billigkeit und Gerechtigkeit erfüllt wäre. Was müssen wir also von unserem Herzen sagen, wenn wir darin eine ganz entgegengesetzte Veranlagung entdecken? Ist [362] es denn nicht wahr, daß wir die Wahrheit hassen und die, welche sie uns sagen, und es gerne haben, wenn sie sich zu unserem Vorteil täuschen, und daß wir von ihnen als etwas anderes angesehen sein wollen, als was wir in Wirklichkeit sind? [...] [364]
[...] So ist das menschliche Leben nichts als eine ununterbrochene Illusion; man tut nichts, als sich gegenseitig zu betrügen und sich gegenseitig zu schmeicheln. Niemand spricht in unserer Gegenwart über uns so, wie er in unserer Abwesenheit spricht. Die Gemeinschaft, welche die Menschen verbindet, ruht nur auf diesem gegenseitigen Betrug; und wenig Freundschaften hätten Bestand, wenn jeder wüsste, was sein Freund über ihn sagt, wenn er nicht dabei ist, obgleich er dann aufrichtig und ohne Leidenschaft über ihn spricht.
Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl sich selbst als auch den anderen gegnüber. Er will nicht, daß man ihm die Wahrheit sage, er vermeidet es, sie den andern zu sagen; und alle diese Neigungen, die von der Vernunft und von der Gerechtigkeit so weit entfernt sind, haben eine natürliche Wurzel in seinem Herzen.

771.
Was ist das Ich?
Wenn ein Mensch sich ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu beobachten, und ich gehe an ihm vorbei, kann ich dann sagen, daß er sich ans Fenster gesetzt hat, um mich zu sehen? Nein; denn er denkt nicht an mich im besonderen; aber der, welcher jemanden um seiner Schönheit willen liebt, liebt der ihn? Nein; denn die Blattern, welche die Schönheit töten, ohne die Person zu töten, werden bewirken, daß er ihn nicht mehr liebt.
Und wenn man mich um meines Urteils, meines Gedächtnisses willen liebt, liebt man dann mich? Nein! denn ich kann diese Eigenschaften verlieren, ohne mich selbst zu verlieren. Wo ist also dieses Ich, wenn es weder im Leibe noch in der Seele ist? Und wieso liebt man den Leib oder [365] die Seele, wenn nicht um dieser Eigenschaften willen, die nicht das sind, was das Ich konstituiert, da sie vergänglich sind? Könnte man denn die seelische Substanz einer Person abstrakt lieben und irgendwelche Eigenschaften, die sich darin befinden? Das ist unmöglich und wäre ungerecht. Man liebt also nie jemanden, sondern immer nur Eigenschaften.
Man mache sich also nicht mehr lustig über die, welche sich um ihrer Ämter und Aufgaben willen ehren lassen, denn man liebt die Menschen nur um geborgter Eigenschaften willen.

772.
Der Eigenwille wird nie zufrieden sein, und könnte er über alles verfügen, was er will; aber man ist in dem Augenblick zufrieden, da man auf ihn verzichtet. [...]

773.
In seiner Religion muß man aufrichtig sein: wahre Heiden, wahre Juden, wahre Christen.