Bücher (Auszüge)
Marguerite Porete: Der Spiegel der einfachen Seelen
Marguerite Porete: Der Spiegel der einfachen Seelen. [um 1295] | Quelle: www.marschler.at. | Reihenfolge und Überschriften nach der vollständigen im marixverlag erschienen Ausgabe. | Hervorhebungen H.N.
Marguerita Porete (ca. 1260-1310) war eine französische Begine. Die Beginen und Begarden lebten als Laien in christlichen Gemeinschaften und wurden vielfach von der Inquisition verfolgt. Porete starb für ihre wunderbare „Mystik der Freiheit“ auf dem Scheiterhaufen.
6. Wie die in Gott verliebte Seele, die im Frieden und in der Nächstenliebe lebt, Abschied nimmt von den Tugenden
Die Seele: Ich bekenne es Euch, Frau Liebe, sagt diese Seele: Es gab eine Zeit, da stand ich im Dienst der Tugenden, aber jetzt hat Eure Vornehmheit mich daraus befreit. Und deshalb kann ich jetzt zu ihnen sagen und singen:
Tugenden! Ich nehme Abschied von euch für immer! Mein Herz ist nun ganz frei und heiter gestimmt. Euer Dienst ist zu beschwerlich, das weiß ich sehr wohl. Früher habe ich mein Herz rückhaltlos an euch gehängt. Ihr wisst, dass ich euch ganz hingegeben war. Ich war eure Leibeigene, aber jetzt bin ich befreit. Mein ganzes Herz hatte ich an euch gehängt, ich weiß es wohl. So lebte ich eine Zeitlang in großer Bedrängnis. Viele Qualen habe ich erlitten und große Schmerzen erduldet. Es ist ein Wunder, dass ich da lebend herausgekommen bin! Nun, so war es, und jetzt, da es vorbei ist, macht es mir nichts mehr aus: Ich bin von euch losgelöst! Dafür danke ich Gott im Himmel – gut war jener Tag für mich! Ich bin eurer Herrschaft entzogen, die mir viel Verdruss bescherte. Niemals war ich freier, als da ich geschieden von euch war. Ich bin aus eurer Gewalt entkommen und ruhe jetzt im Frieden.
7. Inwiefern diese Seele edel ist und warum sie sich aus nichts etwas macht
Die Liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, achtet weder auf Schande noch auf Ehre, weder auf Armut noch auf Reichtum, weder auf Unbehagen noch auf Wohlgefühle, weder auf Liebe noch auf Hass, weder auf die Hölle noch auf das Paradies.
Der Verstand: Ah, um Gottes willen, Liebe!, sagt der Verstand, was soll das heißen, was Ihr da sagt?
Die Liebe: Was das heißt?, sagt die Liebe. Gewiss, das versteht nur derjenige und kein anderer als der, dem Gott den Geist des Verstehens gegeben hat – ihn lehrt weder die Schrift, noch begreift es der menschliche Geist, noch nützt das kreatürliche Bemühen nach Begreifen und Innewerden etwas. Diese Gabe stammt vielmehr vom Allerhöchsten, in den dieses Wesen entrückt wurde durch die Fülle an Erkenntnis, in der nichts von ihrem Eigenen verblieb. Und eine solche Seele, die ein Nichts geworden ist, besitzt dann alles und besitzt doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß doch nichts.
9. Inwiefern solche Seelen überhaupt keinen Willen mehr haben
Die Liebe: Eine solche Seele verlangt weder noch verachtet sie Armut noch Bedrängnis, eine Messfeier noch eine Predigt, weder Fasten noch ein Gebet. Sie gewährt der Natur alles, wessen sie bedarf, ohne Gewissenszweifel. Jedoch ist eine solche Natur so wohl geordnet durch die Umformung in der Liebeseinheit, in die der Wille dieser Seele verschlungen ist, dass die Natur gar nichts verlangte, was verboten wäre. Eine solche Seele sorgt sich nicht um das, was sie braucht, außer gerade zu der Stunde, da sie es braucht. [..] Diese Seele lernt in der Schule der Gottheit, und sie hat ihren Sitz im Tal der Demut und in der Ebene der Wahrheit, und sie ruht auf dem Berg der Liebe.
18. Inwiefern solche Menschen sich nicht mehr darauf verstehen, von Gott zu sprechen
Die Seele: Solche Geschöpfe wissen nicht mehr von Gott zu sprechen, denn so wenig sie zu sagen wissen, wo Gott ist, so wenig wissen sie zu sagen, wer Gott ist. Wer auch immer von Gott spräche, und zu wem und wo und wann er spräche und wo immer er spräche, der soll keinen Zweifel haben, vielmehr ohne Zweifel wissen, sagt diese Seele, dass er noch niemals etwas vom wahren Kern der göttlichen Liebe verspürt hat: Der lässt die Seele vollkommen überraschend sich selbst vergessen. Die Gewohnheit solcher Seelen ist es, viel zu erfassen und – wegen der Subtilität des Geliebten – augenblicklich alles wieder zu vergessen.
19. Wie Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe über solche Seelen von der Liebe etwas erfahren wollen
Glaube, Hoffnung und [Nächsten–]Liebe: O Heilige Dreieinigkeit!, sagen Glaube, Hoffnung und Liebe. Wo gibt es solch hohe Seelen, wie dieses Buch sie beschreibt? Wer sind sie? Wo sind sie? Was tun sie? Belehrt uns über sie durch die Liebe, die alles weiß, damit jene, die durch dieses Buch verstehen wollen, befriedigt werden. [..]
Der Verstand: Wer, bei Gott, weiß es?, sagt der Verstand.
Die Liebe: Einzig Gott selbst, sagt die Liebe, der sie erschaffen und erlöst hat und durch Glücksfall oftmals neu geschaffen um der Liebe willen, deretwegen allein sie isoliert, aufgelöst und vergessen sind.
Wie kommt es, sagt die Liebe, dass die Heilige Kirche darüber verwundert ist, dass die Tugenden diesen hohen himmlischen Seelen dienen? Warum sollten sie es nicht tun? Sind nicht alle Tugenden dieser Seele wegen gepriesen, beschrieben und angeordnet und nicht die Seele der Tugenden wegen? Es sind also diese Tugenden geschaffen, um solchen Seelen zu dienen, und solche Seelen sind erschaffen, um Gott gehorsam zu sein, um so die außergewöhnlichen Gaben der reinen Güte des göttlichen Adels in Empfang zu nehmen – Gaben, die Gott keinem Geschöpf zuteil werden lässt, das noch im Begehren und im Wollen verharrt. Wer diese Gaben erhalten möchte, darf weder von Begehren noch von Wollen geleitet sein, sonst werden sie ihm nicht zuteil.
Und wie sollte die Heilige Kirche diese Königinnen, diese Königstöchter, diese Schwestern des Königs und Gemahlinnen des Königs, erkennen? Die Heilige Kirche könnte sie nur dann vollkommen erkennen, wenn die Heilige Kirche in ihren Seelen wäre. Doch kein geschaffenes Ding hat Zutritt zu ihren Seelen, außer Gott allein, der die Seelen erschuf, so dass niemand solche Seelen erkennt, außer Gott, der in ihnen ist.
21. Die Liebe antwortet auf das Argument der Vernunft, dieses Buch sage, dass solche Seelen die Tugenden hinter sich ließen
Der Verstand: Nun, Liebe, sagt der Verstand, ich habe da noch immer eine Frage. Dieses Buch sagt, diese Seele habe Abschied von den Tugenden genommen, und das in jeder Hinsicht, während Ihr behauptet, dass die Tugenden mit diesen Seelen sind, und das vollkommener als mit irgendwelchen anderen. Dies sind zwei einander widersprechende Aussagen, wie mir scheint, sagt der Verstand. Ich weiß nicht, wie ich sie verstehen soll.
Die Liebe: Ich werde Eure Fragen beantworten, sagt die Liebe. Es ist wahr, dass diese Seele Abschied von den Tugenden genommen hat, was deren Ausübung betrifft sowie das Verlangen, ihre Anweisungen zu befolgen. Aber die Tugenden haben sich nicht von ihr verabschiedet, denn sie sind allezeit mit ihr und gehorchen ihr allezeit. In diesem Sinn also nimmt die Seele Abschied von ihnen, und sie sind immerzu bei ihr. [...]
Denn als anfänglich der Verstand der Lehrmeister der Seele war, tat die Seele alles, was er ihr beibrachte, was auch immer sie das an Leib und Seele gekostet hat. Der Verstand redete immerzu auf sie ein, sie möge alles tun, was die Tugenden wollten, ohne Widerrede, bis zum Tod. Der Verstand und die Tugenden waren eben die Lehrmeister der Seele, und die Seele gehorchte ihnen in allem, was sie ihr im Hinblick auf das geistliche Leben zu tun geboten.
Die Seele gewann und erreichte durch die Tugenden dermaßen viel, dass sie ihnen schließlich überlegen war, denn sie besaß alles, was die Tugenden wissen und sie lehren konnten, ja noch unvergleichlich mehr, hat doch diese Seele die Lehrmeisterin der Tugenden in sich, die da heißt: göttliche Liebe. Von dieser wurde sie völlig umgewandelt und mit ihr vereinigt, und deshalb gehört diese Seele weder sich selbst noch den Tugenden.
Der Verstand: Wem gehört sie dann?, sagt der Verstand.
Die Liebe: Ganz meinem Willen, sagt die Liebe, die ich sie in mich umgewandelt habe.
Der Verstand: Und wer seid Ihr, Liebe?, sagt der Verstand, dass ihr über uns steht? Seid Ihr nicht eine der Tugenden, also eine von uns?
Die Liebe: Ich bin Gott, sagt die Liebe. Denn die Liebe ist Gott, und Gott ist die Liebe [1 Joh 4,16]. Und diese Seele ist Gott durch Liebe in ihr. Ich bin Gott durch die göttliche Natur, und diese Seele ist Gott durch das Gesetz der Liebe. Daher wird diese meine kostbare Geliebte durch mich belehrt und geführt, ohne sie, denn sie hat sich in mich verwandelt und wird durch mich genährt.
22. Wie diese Seele mit dem Adler verglichen werden kann und wie sie die Natur hinter sich lässt
Die Liebe: Diese Seele fürchtet sich nicht vor Drangsalen, sie lässt sich nicht aufhalten von Vertröstungen, sie wird nicht schwach im Angesicht von Verlockungen, noch wird sie kleiner durch einen Entzug. Sie ist allem verbunden in der Freigebigkeit der reinen Nächstenliebe, und so verlangt sie von niemandem etwas auf Grund der Vornehmheit und Großzügigkeit der reinen Güte, mit der Gott sie erfüllt hat. Sie ist zu jeder Zeit besinnlich ohne Trübsinn, fröhlich ohne Ausgelassenheit, denn Gott hat in ihr seinen Namen geheiligt, und die Dreieinigkeit hat in ihr ihre Wohnung.
27. Warum die Betrachtung der reinen Liebe nur einer einzigen Absicht dient
Die Liebe: Das Sinnen der reinen Liebe hat nur eine einzige Absicht, die ist: aufrichtig zu lieben, ohne dafür einen Lohn zu erwarten. Und dies kann die Seele nur verwirklichen, wenn sie nicht mehr an sich gebunden ist. [..]
Die Seele: Ganz gewiss!, sagt die Seele. Wer recht liebt, denkt nicht daran, zu nehmen oder zu verlangen, hingegen will er immerzu geben, ohne etwas zurückzubehalten, um in rechter Weise zu lieben. Denn wer bei einem Werk zwei Absichten hätte, würde die eine durch die andere entkräften. Und darum hat die aufrichtige Liebe nur eine einzige Absicht, und die ist: beständig aufrichtig zu lieben. Denn an der Liebe ihres Geliebten hat sie keinerlei Zweifel: dass er nur das mache, was das Beste sei.
28. Wie diese Seele ins Meer der Freude eintaucht
Die Liebe: Eine solche Seele, sagt die Liebe, schwimmt im Meer der Freude, im Meer der Wonne, das der Gottheit entfließt und aus ihr strömt. Dabei empfindet sie selbst keine Freude und schwimmt und fließt in der Freude, ohne die Empfindung irgendeiner Freude. Sie ist die Freude selbst kraft der Freude, die sie in sich selbst umwandelt. Nun ist da ein gemeinsames Wollen, wie Feuer und Flamme, wie das Wollen des Liebenden und des Geliebten, denn die Liebe hat diese Seele in sich verwandelt. [..]
Die Seele: Ach, überaus süße, rein göttliche Liebe, sagt diese Seele, was ist das für eine beseligende Umwandlung, durch die ich umgewandelt bin in das, was ich mehr liebe als mich selbst! Und so ganz bin ich umgeformt, dass ich vor Liebe meinen Namen verloren habe, ich, die ich so wenig zu lieben vermag. Wie wenig auch mein Lieben sein mag, bin ich doch in der Liebe, denn ich liebe nichts als die Liebe allein.
36. Inwiefern die Seele frei und der Unterwerfung unter die Vernunft entbunden ist
Die Seele: Jetzt sind die Schuldigkeiten untereinander vertauscht, sagt die Seele zum Verstand, und das mit gutem Grund. Denn der Adel der hohen Güte meines Bräutigams lässt es nicht zu, dass ich weiterhin in Euren Diensten bleibe, wie auch in keines anderen. Es ist ja nötig, dass der Bräutigam die Braut, die er in seinem Willen erwählt hat, aus der Untertanenschaft befreie.
Die Liebe: Das ist die Wahrheit, überaus liebenswerte Seele, sagt die Liebe, ich bekräftige es und gestehe es Euch zu.
Der Verstand: Ah, um Gottes willen, Frau Seele!, sagt der Verstand. Denkt, redet und tut, was immer Ihr wollt, wenn die Liebe es autorisiert und bestätigt.
Die Seele: Oh Verstand!, sagt diese Seele, wie plump Ihr seid! Die Liebe will und räumt mir ein, dass ich rede, denke und tue, was immer ich will. Und warum sollte sie dies nicht tun?, sagt die Seele. Was getan wird, ist in Übereinstimmung mit ihr, denn von mir aus kann ich nichts tun, wenn nicht mein Geliebter selbst es in mir bewirkt. Wundert Ihr Euch etwa darüber, sagt die Seele zum Verstand, dass er will, was ich will? Das Wollen liegt erforderlicherweise doch stets bei ihm, da ich nichts will, außer das, was er in mir will und von dem er will, dass ich es wolle. Hierin schenkt er mir Ruhe durch seine Zuvorkommenheit, in der er will, was ich will, und nicht will, was ich nicht will. Und davon, Verstand, habe ich den Frieden, sagt diese Seele, weil er und ich darin übereingekommen sind.
41. Wie die Seele keinerlei Unbehagen wegen der Sünde verspürt, aber auch keine Hoffnung aufgrund des Guten, das sie jemals getan hat
Die Liebe: Eine solche Seele empfindet keinerlei Beunruhigung mehr wegen einer Sünde, die sie jemals begangen haben mag, noch macht sie sich irgendeine Hoffnung auf etwas, das sie tun könnte, sondern einzig und allein auf die Güte Gottes. Und der verborgene Schatz dieser alleinigen Güte hat sie innerlich zunichte gemacht, so dass sie allen inneren und äußeren Empfindungen abgestorben ist, und das in einem Grad, dass eine solche Seele keinerlei Werke mehr verrichtet, weder für Gott noch für sich selber. Und so hat sie auf diese Weise alle Fähigkeiten ihrer Sinne verloren, so dass sie Gott weder zu suchen noch zu finden versteht, ja nicht einmal mehr sich zu benehmen weiß. Diese Seele, sagt die Liebe, ist nicht mehr bei sich.
Die Furcht: Aber, Liebe, sagt die Furcht, wo ist denn eine solche Seele, wenn sie nicht mehr bei sich ist?
Die Liebe: Sie ist da, wo sie liebt, spricht die Liebe, ohne dass sie das eigens fühlte. Deshalb lebt eine solche Seele ohne Vorwurf des Gewissens, weil sie von sich aus nichts tut. Denn wer irgendeine Sache aus eigenem Antrieb tut, ist niemals frei von sich selber; immer sind seine Natur und sein Verstand mit ihm. Einer aber, sagt die Liebe, der aus Liebe gestorben ist, fühlt weder Verstand noch Natur, ja er kennt sie nicht einmal mehr. Eine solche Seele verlangt weder nach einer der Freuden des Paradieses – wie sehr man sie auch zu einer Wahl drängen möge – noch weist sie Höllenqualen jedweder Art zurück, würde ihr das freigestellt sein.
44. Welchen Lebenswandel die Seele hat, die sich nach Liebe sehnt, und wo sich die Seele befindet, die aus Liebe gestorben ist
Der Verstand: Ach was, Liebe, sagt der Verstand, sagt uns um Gottes willen, an welchem Punkt die Seele sich befindet, die aus Liebe gestorben ist.
Die Liebe: Sie hat mit der Welt Schluss gemacht, sagt die Liebe, und die Welt hat sich von ihr verabschiedet, und so lebt sie in Gott, und dort erreicht sie weder Sünde noch Laster. Sie ist so eingetaucht und eingewirkt in Gott, dass weder die Welt noch die Fleischeslust noch Dämonen ihr einen Schaden zufügen können, denn in ihren Werken vermögen sie es nicht, sie aufzuspüren. Solch eine Seele lebt in der Ruhe des Friedens, beachtet sie doch um ihretwillen kein geschaffenes Ding mehr. Und weil eine solche Seele so im Frieden ist, lebt sie in der Welt ohne irgendeine Beunruhigung. [..]
Die Seele: Daran halte ich mich, sagt diese Seele, und deshalb fehlt mir nichts, weil ich ja nichts mehr will. Keine Seelen haben je vollkommenen Frieden, als solche, die keinen Willen mehr haben.
49. Inwiefern eine solche Seele, die überhaupt keinen Willen hat, edel ist
Die Liebe: Eine solche Seele hat keinerlei Willen mehr, und deshalb kümmert sie nicht, was Gott tut, wenn er nur immer seinen Willen tut. Denn diese Seele, sagt die Liebe, ist losgelöst und im Frieden. Sie hat weder Hölle noch Paradies noch irgendein geschaffenes Ding nötig.
[..] Diese Rede wird gewiss all jenen fremd erscheinen, die von der Liebe große Gewinne erhoffen! [..] [Aber:] Um so viel einträglicher wie das Wirken Gottes als das Wirken der Kreatur ist, um so viel einträglicher ist das Nichtwollen in Gott als das Wollen im Namen Gottes.
50. Wie diese Seele in Gott eingeprägt ist, so wie das Wachs durch ein Siegel geprägt ist
Die Liebe: Diese Seele trägt den Abdruck Gottes, und dieser Abdruck wird durch die Vereinigung in der Liebe beibehalten. Und in derselben Weise, wie das Wachs die Form des Siegels annimmt, hat die Seele die Prägung durch das wahre Urbild erhalten.
51. Inwiefern diese Seele der Gottheit ähnlich ist
Die Liebe: Diese Seele ist der Gottheit natürlich ähnlich. Denn sie hat sich verwandelt in Gott, sagt die Liebe, wodurch sie sich ihre wahre Gestalt erhalten hat, die ihr gewährt und gegeben wurde ohne Anbeginn vom einzig Einen, der sie in seiner Güte schon immer geliebt hat. [..]
Die Seele: Ich ruhe ganz und gar im Frieden, sagt diese Seele, allein und nichts und alles seiend, ausschließlich durch das Zuvorkommen der Güte Gottes, ohne auch nur eine einzige Bewegung meines Willens, der ja nur irgendeinen Reichtum im Außen anstreben würde. Das ist das Endziel meines Wirkens, sagt diese Seele: Beständig nichts zu wollen. Denn so lange ich nichts will, spricht diese Seele, bin ich allein in ihm, ohne mich, absolut ungebunden. Aber wenn ich etwas will, sagt sie, bin ich bei mir, und damit habe ich die Freiheit verloren. Will ich jedoch nichts, dann habe ich alles außerhalb meines Wollens verloren, und so fehlt mir nichts: Frei sein ist alles, was ich bin. Ich will von niemandem etwas.
66. Inwiefern die Seele froh darüber ist, dass sie die Vernunft und die anderen Tugenden hinter sich gelassen hat
Die Liebe: Als diese Seele mit der Liebe umhüllt wurde, nahm sie zwar noch in Eurer [des Verstandes] Schule Unterricht im Verlangen nach den Tugenden. Jetzt aber ist sie so weit fortgeschritten in der göttlichen Unterweisung, dass sie da zu lesen anfängt, wo Ihr damit aufhört. Diese Lehre wird allerdings nicht von Menschenhand niedergeschrieben, sondern vom Heiligen Geist, der diese Lehre auf wunderbare Weise aufschreibt, und die Seele ist dafür das kostbare Pergament. Die göttliche Unterweisung wird bei geschlossenem Mund erteilt, denn menschlicher Sinn vermag sie nicht in Worte zu fassen.
85. Wie diese Seele frei, noch freier und sehr frei ist
Die Liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, ist nun frei und sogar mehr als frei, ungemein frei, ja über hoch frei, in ihrer Wurzel, an ihrem Stamm, in ihren Ästen und in all ihren Früchten an ihren Zweigen. Diese Seele hat ihr volles Maß an Freiheit, und jeder Teil von ihr trägt sie voll ihn sich. Wenn sie es nicht will, antwortet sie niemandem, wenn jener nicht dieselbe Herkunft hat. Ein Edelmann ließe sich gewiss nicht dazu herab, einem Gemeinen Rede zu stehen, wenn dieser ihn zu sich zitierte oder ihn auf einem Schlachtfeld riefe. Und darum findet keiner eine solche Seele, wenn er sie herbeizitierte. Ihre Feinde erhalten keine Antwort von ihr.
Diese Seele, sagt die Liebe, ist gehäutet durch Abtötung alles Fleisches und lebendig verbrannt durch die Hitze des Liebesfeuers, und ihre Asche ist ins gewaltige Meer der Willenlosigkeit geworfen. Eine Seele von dieser Art sucht Gott weder durch Bußübung noch durch ein Sakrament einer Heiligen Kirche, weder durch Gedanken noch durch Worte noch durch Werke; weder durch eine Kreatur hier unten noch durch ein Geschöpf da oben; weder durch Gerechtigkeit noch durch Erbarmen; weder durch die Herrlichkeit der Herrlichkeit noch durch die Erkenntnis Gottes noch durch Gottesliebe noch durch Gotteslob.
87. Wie diese Seele die Herrin der Tugenden und die Tochter der Gottheit ist
Die Liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, ist Herrin der Tugenden, Tochter der Gottheit, Schwester der Weisheit und Braut der Liebe.
Die Seele: Wahrhaftig, sagt die Seele, aber das scheint dem Verstand als eine absonderliche Rede – was freilich nicht verwunderlich ist, denn in einer kurzen Weile wird er nicht mehr sein. Ich aber war, sagt diese Seele, und ich bin, und ich werde unfehlbar immer sein, denn die Liebe hat keinen Anfang, kein Ende und keine Grenze, und ich bin nichts anderes als Liebe. Wie könnte er also ein Teil von mir sein? Es ist nicht möglich.
90. Wie man zur Vollkommenheit gelangen kann, um das Gegenteil seines Willens zu tun
Die Liebe: Im Gegensatz zur freien Seele kann das Leben, über das wir schon gesprochen haben und das wir "Leben aus dem Geist" nannten, den Frieden nicht haben, wenn der Leib nicht allezeit das Gegenteil dessen tut, was er will. Das heißt, dass solche Leute das Gegenteil ihrer Sinnlichkeit tun, andernfalls sie sich in diesem Leben die Verdammnis zuzögen, lebten sie nicht das Gegenteil ihrer Genüsse. Solche aber, die frei sind, handeln genau entgegengesetzt! Während diejenigen im Leben aus dem Geist das Gegenteil ihres Willens tun müssen, wenn sie den Frieden nicht verlieren wollen, tun die Freien, umgekehrt, alles, was ihnen gefällt, wenn sie den Frieden nicht verlieren wollen, denn sie sind bereits im Zustand der Freiheit angelangt, das heißt, sie sind von den Tugenden in die Liebe gestürzt und von der Liebe ins Nichts.
91. Wie der Wille dieser Seelen der Wille der Liebe ist, und warum dies so ist
[...] und vom Nichts in die Klarheit Gottes, die durch die Augen seiner Majestät sich selbst schaut und die sie in diesem Punkt durch sich selbst geklärt hat. Sie ist so in ihm aufgelöst, dass sie weder sich selber noch ihn sieht, und darum sieht er sich in seiner göttlichen Güte ganz allein.
119. Wie sich die Seele, die dieses Buch schreiben ließ, dafür entschuldigt, dass sie dieses Buch so lang an Worten geraten ließ
Die Seele: Menschlicher Verstand und menschlicher Sinn verstehen nichts von innerlicher Liebe, noch innerliche Liebe etwas von Gottesgelehrtheit. Mein Herz ist so hoch hinaufgezogen wie tief hinabgesunken, dass ich damit an kein Ende komme. Denn alles, was man von Gott sagen oder schreiben kann oder von ihm denken kann – Gott, der größer ist als alles, was jemals gesprochen wurde –, all das ist eher Lüge als Wahrheit.
122. Hier beginnt die Seele ihr Lied
Die Seele: Ich war einst eingesperrt in die Sklaverei der Gefangenschaft in der Zeit, als sehnsuchtsvolle Wünsche mich gefangen hielten. Doch dann hat mich das brennende Licht der göttlichen Liebe gefunden, das mein Wünschen, Wollen und Sehnen alsbald ersterben ließ – die hatten mich davon abgehalten, mich ganz der göttlichen Liebe hinzugeben.
Nun hat das göttliche Licht mich aus dem Gefängnis befreit, und hat mich aus Freundlichkeit dem göttlichen Wollen der Liebe verbunden, da wo die Dreieinigkeit die Lust ihrer Liebe mir schenkt. Kein Mensch kennt diese Gabe, solange er noch irgendeiner Tugend unterworfen bleibt oder irgendeinem menschlichen Gefühl, das ihm der Verstand vermittelt.
Ach Freund, was werden die Beginen sagen und die religionsgebundenen Leute, wenn sie die Vortrefflichkeit Eueres göttlichen Liedes vernehmen? Die Beginen werden sagen, dass ich irre – so auch die Priester, Kleriker und Prediger, die Augustiner, Karmeliten und die klösterlichen Brüder –, weil ich von der vollendete Liebe schreibe. Ihr Verstand wird sie durch seine Einflüsterungen nicht retten! Begehren, Wollen und Furcht versperren ihnen mit Sicherheit den Weg zur Erkenntnis und zum Erleben der Vereinigung mit dem hohen Licht der Inbrunst der göttlichen Liebe.
Die Wahrheit kündet es meinem Herzen, dass ich von dem Einzigen geliebt bin. Und sie sagt, es gelte ohne Widerruf, dass er mir seine Liebe geschenkt. Diese Gabe ertötet mein Denken durch die Wonne seiner Liebe. Diese Wonne, sie erhebt mich und wandelt mich um durch Vereinigung in die ewig währende Freude, aus der göttlichen Liebe zu sein. Und die göttliche Liebe sagt mir, sie sei in mich eingegangen, und darum vermag sie da, was immer sie will. Solche Kraft hat sie mir verliehen als ein Geschenk des Liebenden, dem ich mich hingegeben habe, der will, dass ich ihn liebe, und den ich immer lieben werde.
Ich habe gesagt, ich wolle ihn lieben: Ich lüge, dies bin nicht mehr ich. Er allein ist es, der liebt – mich. Er ist und ich bin nicht mehr. Nichts sonst ist mehr von Bedeutung, als was er will und was ihm teuer ist. Er ist Fülle, und ich bin erfüllt von ihr. Das ist der göttliche Kern, das ist die wahre Liebe.