Prokofieffs Mysterien

Irina Gordienko: Die Grundlegung der neuen Mysterien durch Sergej O. Prokofieff. Moskau-Basel-Verlag, o.J. © Lochmann-Verlag, 1998. (235 S., 23€).

Es folgen Auszüge aus dem ersten Kapitel. Zu weiteren Hintergründen und Reaktionen auf dieses Buch siehe das "Prokofieff-Dossier" des Lochmann-Verlages.

Geleitwort des Verlags

[...] Auffallend ist noch ein anderer Aspekt. Im Laufe dieser bald zwanzig Jahre ist in der anthroposophischen Presse praktisch nichts erschienen, wo das Werk Prokofieffs einer kritischen Analyse unterzogen worden wäre, Während man Rudolf Steiner immer öfter und meist negativ kritisiert. Dafür sind zwei Gründe möglich: Entweder es gibt in der gesamten An­throposophischen Gesellschaft keinen Menschen, der die Fähigkeit zu einer solchen Analyse besitzt, oder – was ebenso schlimm wäre – die Presse verhindert mit allen Mitteln jeden Versuch, das Phänomen Prokofieff verständlich zu machen. Man wird die eine wie die andere Möglichkeit über­denken und prüfen müssen.

Die vielleicht einzige Ausnahme bildete eine Besprechung von Proko­fieffs erstem Buch, mit der 1983 ein klardenkender und gewissenhafter Anthroposoph, Hellmut Finsterlin, in seiner Zeitschrift Erde und Kosmos (Nr. 2/3, 1983), die anthroposophische Öffentlichkeit vor ungerechtfertig­ten Berauschungen durch das Phänomen Prokofieff warnte. Sachlich analy­sierte er die zahlreichen Unmöglichkeiten in dessen damals erschienenem Buch, die in den nachfolgenden Schriften noch viele Blüten treiben soll­ten. [...]

Es wird uns nicht überraschen, wenn die Anhänger Prokofieffs, die keine Gründe der Vernunft ertragen wollen, uns schon hier der Antipathie gegen­über Prokofieff bezichtigen werden. Sie werden sich aber grundlegend irren. Als Mensch ist uns Prokofieff sympathisch. Aber er lässt uns keine Wahl. Er zwingt uns zur Entscheidung für ihn oder für Rudolf Steiner. Das vorliegende Buch wird jeden Leser von diesem Umstand überzeugen kön­nen. Und uns bleibt nur zu sagen: Wir folgen Rudolf Steiner. Wenn Proko­fieff widerlegen kann, was in diesem Buch steht – dann sind wir dafür offen. Doch er muss das eingehend und geisteswissenschaftlich tun. An­dernfalls, muss er die Kritik anerkennen. Und möge sie ihm hilfreich sein. [...]

Vorwort

[...] Während es der materialistischen Wissenschaft gleichgültig ist, welchen inneren Entwicklungsweg ein Wissenschaftler bis zu dem Augenblick durch­macht, an dem ihm eine wissenschaftliche Entdeckung gelingt, so sieht das in der Geisteswissenschaft ganz anders aus. Deren Erkenntnisweg ist gleich­zeitig der geistige Entwicklungsweg des Erkennenden. Rudolf Steiner sagte, dass die Geisteswissenschaft strebt ... durch die streng geregelte Ausbil­dung des rein seelischen Anschauens, über die übersinnliche Welt objek­tive, exakte Ergebnisse zu gewinnen ... [und] lässt als solche Ergebnisse nur das gelten, was durch ein solches Anschauen der Seele gewonnen ist, bei der die seelisch‑geistige Organisation ebenso exakt überschaubar ist wie ein mathematisches Problem ... Für [den Geistesforscher]... wird also die wissenschaftliche Methode zuerst auf jene Vorbereitung verwendet, die in seinen „Geist‑Organen“ liegt (GA 25, S. 7‑8).

Die anthroposophische Methode zur Erforschung der geistigen Welt umfasst die von Rudolf Steiner gegebenen Anweisungen betreffend die esoterische Entwicklung des Schülers und gründet ganz auf den erkennt­nistheoretischen Prinzipien seiner Philosophie, in der das Wesen der menschlichen Erkenntnis als solches enthüllt wird. Es besteht in der Ver­bindung der Wahrnehmung mit dem ihr entsprechenden Begriff durch das Denken, einer Tätigkeit des Ichs, die in der Erfahrung gegeben ist. Im Laufe der esoterischen Schulung entwickelt der Mensch in sich neue, geistige Wahrnehmungsorgane, wodurch sich der Umkreis seiner Wahrnehmungen über die Grenzen der Sinneserfahrung ausweitet. Vom verstandesmässigen Kombinieren und den logischen Schlüssen steigt das Denken zur unmittel­baren Anschauung der Idee auf und beginnt dann in der sich erweiternden Sphäre Begriffe einzuschliessen, die das Wesen des geistig Erschauten fassen können. Wenn sich aber Wahrnehmung und Denken qualitativ ver­ändern, so lässt der Erkenntnischarakter selber keine Änderung zu. Mittel­punkt des Erkenntnisprozesses bleibt immer das selbstbewusste Ich, in welchem die Wahrnehmungen – seien sie sinnliche oder übersinnliche – mit den ihrem Wesen entsprechenden Begriffen zur Einheit gelangen.

Es gründet also die objektive Erkenntnis in der geistigen Welt auf der Erkenntnisfähigkeit, die vom Menschen in der physischen Welt erarbeitet wurde. [...] Die Aufgaben der Geisteswissenschaft stehen in Verbindung mit der objektiven Erkenntnis der Geisteswelt, und die übersinnliche Erfahrung ist bloss eine der Voraussetzungen für diese Erkenntnis. Die Frage, auf welche Art diese Erfahrung erlangt wird, ist in dieser Beziehung von höchster Bedeutung. [...]

Das Studium der geisteswissenschaftlichen Inhalte auf der Grundlage der dem Menschen im gewöhnlichen Bewusstsein eigenen Erkenntnis­fähigkeit ist der Ausgangspunkt des anthroposophischen Weges und die erste Stufe der esoterischen Praxis. [...] Jeder, der in der anthroposophischen Bewegung den Rang eines unabhän­gigen Forschers im Geistgebiet beansprucht und die von ihm erlangte Geisterkenntnis anderen Menschen mitteilt, muss zunächst genaue Rechen­schaft über die von ihm angewandte Methode der Geistesforschung ablegen. [...]

Schliesslich muss man die Bedenklichkeit der Tatsache erkennen, dass in der Anthroposophischen Gesellschaft, wo die Menschen nicht nur in praktischen Dingen, sondern auch auf geistigem Gebiet nach Wahrhaftig­keit streben, die Frage nach der Glaubwürdigkeit unterschiedlicher Gei­stesschätze bis heute eigentlich kaum gestellt wurde! [...] Da kann man schrei­ben, was man will, wenn man nur keine Interessen verletzt und die übliche Terminologie verwendet. Jeder Versuch einer Kritik an solchen Drucker­zeugnissen wird von einer falsch verstandenen Ethik verurteilt; Toleranz gegenüber dem Menschen wird mit Toleranz ge­genüber seinen Verirrungen verwechselt, und was die Näch­stenliebe betrifft: sie läuft in Wirklichkeit darauf hinaus, mit dem Nächsten „diplomatische“ Beziehungen zu unterhalten, wobei man dessen geistigem Schicksal teilnahmslos gegenübersteht.

Diese Sachlage ist nach unserer Ansicht keineswegs nur eine Folge der Verantwortungslosigkeit – diese ist zweitrangig ‑, sondern vielmehr die Folge eines im Unterbewusstsein tief verwurzelten Materialismus, wobei die augenblicklichen zwischenmenschlichen Beziehungen als etwas absolut Reales empfunden werden, während das Wirken der Widersachermächte, die hinter jeder Lüge stehen, nicht beachtet, im besten Fall als abstrakte Theorie abgetan wird, über die man klug diskutieren kann, die aber sofort vergessen wird, sobald man in die Lebenswirklichkeit eintaucht. Ein fal­sches Forschungsresultat in der geistigen Welt ist ein lebendiges Wesen. Das ist da, das muss man erst bekämpfen, das muss man erst wegschaffen (22.10.1915, GA 254). [...]

In unserer Studie werden wir einzig von der Fähigkeit der gewöhnli­chen Logik, dem Merkmal einer gesunden menschlichen Urteilskraft, Ge­brauch machen. Rechtfertigung und Bekräftigung unseres Standpunktes finden wir in folgenden Worten Rudolf Steiners: Der gesunde Menschen­verstand, der nicht irregeleitet ist durch irrtümliche natürliche oder so­ziale Ideen von heute, der kann von sich aus entscheiden, ob Wahrheits­duktus waltet in dem, was irgendjemand spricht. Irgendjemand spricht von geistigen Welten: man muss nur alles zusammen nehmen, die Art, wie gesprochen wird, der Ernst, in dem die Dinge aufgefasst werden, die Logik, die entfaltet wird und so weiter, dann wird man sich ein Urteil darüber aneignen können, ob dasjenige, was als Kunde von der geistigen Welt gebracht wird, Scharlatanismus ist, oder ob es einen Fond hat. Die­ses kann jeder entscheiden... (14.12.1919, GA 194).

Wir möchten, dass vorliegende Arbeit dem Leser als Anregung zu ei­gener innerer Aktivität, zu selbständiger Wahrheitssuche und Wachsamkeit der Gedanken, zur Wachheit des Bewusstseins und der Fortentwicklung und Stärkung des Wahrheitsempfindens dienen möge [...]

Wie der Mythos entstand

Seinen Einstieg als Schriftsteller auf anthroposophischem Gebiet machte S. O. Prokofieff im Jahre 1981, als er sein erstes Buch mit dem vielver­sprechenden, ja sogar epochalen Titel Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien (Stuttgart, 1982; I) herausgab. Ungeachtet der Jugend­lichkeit des Autors – er war damals 26 Jahre alt – wurde schon auf den allerersten Seiten klar: Hier war einer zur Anthroposophie gekommen, der nicht als Schüler, sondern als selbständiger Forscher und sogar als Lehrer aufzutreten beabsichtigte. Es fällt auf, mit welcher in anthroposophischen Kreisen unüblichen Anmassung er (im Tone der Belehrung) den Leser über die Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft und jedes einzelnen Anthroposophen belehrt. Sehr viele Direktiven sind es, die wir zu beachten haben: Was jedem Anthroposophen bewusst sein müsse, welches die geisti­ge Mission der Anthroposophischen Gesellschaft sei, welches die Bedin­gungen zu ihrer Erfüllung seien, wovon die weitere Entwicklung der christlichen Kultur abhinge u.a.m. [...]

Es ist nichts Unnatürliches dabei, wenn man beim Lesen solcher Äus­serungen die Frage aufwirft: Wann und auf welche Art konnte ein Mensch, der noch nicht einmal das Verstandesseelenalter erreicht hat, derart tief­schürfend das Wesen dieses wahrhaft aussergewöhnlichen Ereignisses er­fassen und sich erkühnen, es anderen Menschen zuerst in Vorträgen, später in diesem Buch zu „enthüllen“? [...]

Betrachten wir den Hauptteil des Buches, so finden wir darin die Auf­forderung, den Lebensweg Rudolf Steiners nach Jahrsiebten zu gliedern. Bis ins kleinste Detail finden wir dort beschrieben, wie und wann welche geistigen Wesenheiten Rudolf Steiner inspiriert, welche Vorgänge in seinen „Hüllen“ stattgefunden hätten, wann er welche Einweihungsstufen erlangt haben soll. Und hier drängt sich die Frage auf: Welchen Beobachtungs­punkt hat denn der Autor erklommen, um mit einem einzigen Blick den geistigen Weg einer Individualität wie Rudolf Steiner, zu fassen und mit unerschütterlicher Gewissheit derart konkret die okkulten Hintergründe aller Etappen zu beschreiben?

In einem anderen Teil seines Buches gibt Prokofieff die Darstellung seiner eigenen Anschauung von der Weihnachtstagung, welche deren in­nerstes Wesen „enthüllt“, in der er unter anderem mitteilt, dass der Grund­steinspruch nichts anderes sei als der während der Weihnachtstagung niedergestiegene [neue] michaelische Gral (ebd., S. 385). Hier empfiehlt er seine e i g e n e Imagination dieses Grals, indem er erklärt, dass sie, d.h. seine Imagination, heute in den Seelen der Menschen Realität werden will! (ebd., S. 381). [...]

Mit der flammenden Überzeugung eines Propheten (wir entnehmen dies dem Inhalt und sprechen nicht wertend) verkündet er den Anthropo­sophen den wahren Sinn ihres vergangenen und künftigen Schicksals, entschlüsselt zwischendurch den „tieferen“, bis jetzt nicht erkannten Sinn einiger Aussagen Rudolf Steiners, entwirft die Perspektiven der Entwicklung der Anthroposophie im Zusammenhang mit dem Schicksal der Menschheits­kultur als Ganzem.

Die hier angeführten Tendenzen erleben eine weitere Entfaltung in an­deren Werken Prokofieffs. In jedem von ihnen erhebt er den Anspruch, im Besitz des absoluten, allumfassenden Gesichtspunktes zu sein, wobei er den Leser unermüdlich mit immer neuen okkulten Mitteilungen in Erstaunen versetzt, deren Quellen er jedoch weder preisgibt, noch den Zugang zu ihnen offenlegt. [...]

In dem Buch über Russland Die geistigen Quellen Osteuropas und die künftigen Mysterien des Heiligen Gral (Domach, 1989; IV) stellt sich Prokofieff die Aufgabe, uns über die Bedeutung der russischen Geschichte zu unterrichten vom [allerhöchsten und gleichzeitig allergeistigsten Stand­punkt, und zwar] vom Standpunkt des allumfassenden Mächte des Weltenkarmas (ebd., S. 372 [S. 348]). Welcher Art diese Mächte sind, darauf geht Prokofieff nicht ein, doch wird sich der Leser, der auf die Ausführungen des Autors vorbereitet ist, wahrscheinlich nicht darüber wundem, dass diesem der Standpunkt dieser Kräfte bekannt ist. Es drängt sich die Frage auf. Woher weiss der Autor, was als das Höchste und das Geistigste gilt? [...]

Welch ungezwungene Beziehungen Prokofieff zu den hohen Geist­wesenheiten unterhält, wird u.a. aus folgender Mitteilung ersichtlich: [es] fasste der Führergeist des esoterischen Christentums zu der Zeit, da die Geister der Form sich anschickten, ihre Kräfte in  a l l e  Menschenseelen um das Jahr 1250 herum einfliessen zu lassen, den Entschluss [als höchst seltenen Ausnahmefall], einen Teil der Geheimnisse um die Mysterien des Gral zu veröffentlichen (ebd., S. 109; [S. 105]; Hervorh. S.O.P.). [...]

Es entsteht der Eindruck, dass Prokofieff nicht nur in das Schicksal einzelner Menschen, sondern in die Geheimnisse der Gralsmysterien ein­geweiht worden ist. Er berichtet, dass bei den Grals‑Mysterien in den gei­stigen Welten gleichsam drei Kreise zu unterscheiden sind, und gibt eine genaue Beschreibung dieser Gruppen; er weist auch auf konkrete Indivi­dualitäten hin, die dem einen oder anderen Kreis angehört haben (ebd., S. 101), vergisst aber auch hier, die Quellen seiner Mitteilungen zu nennen. [...]

Zur Frage der Methode: Die okkulte Autobiographie Prokofieffs

Die Mitarbeiter des Verlags Freies Geistesleben wandten sich anlässlich der Herausgabe eines Almanachs zum 40‑jährigen Jubiläum ihres Verlags an Herrn Prokofieff mit der Bitte zu berichten, auf welche Weise er sich den Inhalt seines ersten Buches erarbeitet habe. Seine Antwort war ein autobiographischer Aufsatz, in dem er seinen geistigen Werdegang dar­stellte. Dieser erschien im Jubiläumsbuch [Lesen im anthroposophischen Buch – Ein Almanach, Stuttgart, 1987] unter dem Titel Mein Weg zu dem Buch „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“. [...]

In diesem Artikel werden die Erlebnisse eines sehr jungen Menschen geschildert, wodurch man nachsichtig gestimmt wird. Im vorliegenden Fall ist Nachsicht jedoch fehl am Platz, denn gerade diese Erlebnisse sind der Weg zu jener okkulten Erfahrung, auf der sich das gesamte nachfolgende Wirken Prokofieffs in der Anthroposophie gründet, weshalb sie unter Be­rücksichtigung aller Forderungen des W e g e s betrachtet werden müssen. [...] Die Art und Weise, wie Prokofieff seine Kindheits­- und Jugenderlebnisse einschätzt, welche Schlüsse er daraus zieht, bietet uns eine beredte Illustration seiner Beziehung zur Erkenntnisfähigkeit nicht nur in bezug auf sich selber sondern auch im allgemeinen.

Zu Beginn seines Aufsatzes bekennt Prokofieff, dass er zunächst dar­auf verzichten wollte, ihn zu schreiben, denn: es ist stets mein Bestreben gewesen, alles „Persönliche“ von meiner Arbeit auszuschliessen (Mein Weg zum Buch, S. 79) Andererseits war für ihn die Niederschrift des Buches mit bestimmten geistig‑okkulten Erlebnissen verbunden, die als solche nicht in einem Aufsatz veröffentlicht werden können (ebd.).

Bezüglich der ersten Feststellung des Autors ergibt sich, dass der gesam­te Inhalt des Aufsatzes dazu dient, diese zu widerlegen, denn die wichtig­sten Triebfedern auf dem Weg zum Buch entpuppen sich als verschieden­artige geheime Vorgefühle, innere undeutliche Empfindungen, persönliche Eindrücke und plötzliche Gefühlswallungen, jugendliche Begeisterung und mystische Eingebungen – kurz: all dasjenige, was Elemente des Subjekti­ven, was ganz persönlicher Inhalt des Innenlebens eines idealistisch veran­lagten Jugendlichen ist. [...] Um dieses Paradoxon ver­stehen zu können, hilft uns eine Aussage Rudolf Steiners: Irgend ein Mensch arbeitet mit in der anthroposophischen Bewegung ... aber er arbeitet in das, was er mitarbeitet, persönliche Ambitionen, persönliche Intentionen, persönliche Qualitäten hinein ... Die meisten wissen nicht, dass sie persönlich sind, die meisten halten das, was sie tun, eben für unpersönlich, weil sie sich selber täuschen über das Persönliche und Unpersönliche (GA 261, S. 306).

Was seine „okkulten Erlebnisse“ anbelangt, die als solche nicht in einem Aufsatz veröffentlicht werden können, gibt es auch darauf eine Entgeg­nung, ist doch hier die Rede von einem Buch, in welchem der Autor den Leser über lebenswichtige Fragen, die Entwicklung der Anthroposophie betreffend, belehrt. Dabei macht er eine Reihe von Aussagen, die sich auf übersinnliche Tatsachen beziehen, deren Quelle aber nicht die Forschungs­resultate Rudolf Steiners sind. Wenn nun diese Aussagen in individuellen okkulten Erlebnissen Prokofieffs selber gründen, so müssen gerade diese öffentlich kundgetan werden, damit sie in einer offenen Diskussion besprochen werden können. Nur so kann sich der Leser eine Urteilsgrundlage darüber bilden, inwieweit diese Erlebnisse glaubwürdig sind und den Forderungen an Objektivität, welche die Geisteswissenschaft an die übersinnliche Erfahrung stellt, entsprechen. [...]

Prokofieff schreibt, dass er in der Kindheit tiefe Eindrücke von Richard Wagners Musik, besonders von dessen Parsifal empfangen habe. In seinem Artikel bezeichnet er diese Tatsache als Teil seines Weges. [...] Prokofieff beurteilt sie ohne zögern als eine Berüh­rung mit der Strömung des esoterischen Christentums, ... es entstand, nachdem dieser Impuls aufgenommen worden war, die mein ganzes Wesen erfüllende Frage: Wo ist heute die zeitgemässe Fortsetzung dieser geistigen Strömung zu finden? (Mein Weg..., S. 81). Vergessen wir nicht, dass es sich hier um ein Kind im Alter zwischen 7 und 14 Jahren handelt. Solches über sich selber auszusagen, wäre Richard Wagner nicht einmal in reifem Alter eingefallen, obwohl man auch ihm keine falsche Bescheidenheit nach­sagt; ausserdem hat er tatsächlich diesen Impuls in sich aufgenommen und in seinem Schaffen aus dem Quell hoher Inspirationen geschöpft, was er, wie er selber bezeugt, ganz bewusst getan hat.

So konnte also Prokofieff, kaum dass er den Zahnwechsel überstanden hatte, den Impuls des esoterischen Christentums in seine Seele aufnehmen. Es bemächtigte sich dann seiner Seele ein neues, inneres Streben (über das vorherige, das alte, äussert er sich nicht), das ihm die Bekanntschaft mit der östlichen Weisheit brachte. Darin entdeckte er – auch das in frü­hem Kindesalter – ein tiefes esoterisches Wissen, wobei ihn die Ahnung nicht verliess, dass im Christentum noch höhere und umfassendere Weis­heitsschätze als [in den] Religionen und philosophischen Systemen des Ostens enthalten sind (ebd., S. 81‑82). Somit wird klar, dass in ihm die Fähigkeit, zwischen den Schätzen der universellen esoterischen Weisheit, Vergleiche anzustellen in bezug auf deren Gegenstand und Umfang, ziem­lich früh erwacht ist.

Als Prokofieff etwa 14 Jahre alt war, fiel ihm Rudolf Steiners Buch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? in die Hände, und da geschah etwas Sonderbares. Die letzten beiden Kapitel lösen in ihm ver­schiedenartige Gefühle aus. Zum einen das Erlebnis der eigenen inneren Unvollkommenheit, hervorgerufen d u r c h  d i e  B e s c h r e i b u n g  der Begegnung des Geistesschülers mit dem Kleinen Hüter der Schwelle (ebd., S. 83).

Wie oft hat Rudolf Steiner darüber gesprochen, dass [...] die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle eine reale okkulte Tatsache ist, ein konkretes Erlebnis im Zustand der übersinnlichen Wahrnehmung; so etwas kann man nicht nur in der Vorstellung erleben. In einem Vortrag sagt Rudolf Steiner: Die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle ist eine Tragik ein Lebenskampf in bezug auf alle Erkenntnisbegriffe, in bezug auf alle Erkenntnisgesetze und in bezug auf alle Zusammenhänge des Menschen mit der geisti­gen Welt, mit Ahriman und Luzifer. Diese Lebenskatastrophe muss sich ergeben, wenn man dem Hüter der Schwelle begegnen will. Drängt es sich bloss in traumhafter Imagination vor einen Menschen hin, so bedeutet das, dass jemand bequem daran vorbeischlüpfen will, um als Ersatz dafür – jetzt liebt man ja Ersatz – den Traum vom Hüter der Schwelle zu haben (6.8.1918, GA 181).

Wie wir sehen, geht es im Falle Prokofieffs nicht einmal um eine traumhafte Imagination, sondern um ein Gefühl, das beim Lesen des Buches entstanden ist. Er erlebt die Begegnung – wenn man das als Be­gegnung bezeichnen kann – mit dem Hüter bloss in der Einbildung. Und wie können wir in diesem Fall ausschliessen, dass möglicherweise nicht alle seine späteren „okkulten Erlebnisse“ eingebildete sind?

Wir wollen immerhin auch bemerken, dass jenes von Prokofieff be­schriebene Ereignis von einem Selbsterkenntnisprozess begleitet war. Dieser Prozess glich aber einem vorbeiziehenden Wölklein am strahlen­den Firmament, das jeden Moment spurlos dahinschwinden kann; so wird im weiteren auch kein Wort mehr darüber verloren. Im Gegenteil, im Verlauf dieses Aufsatzes ersteht vor unserem inneren Auge ein ideales Menschenwesen; man könnte sogar sagen, schon durch Vererbung ideal gewordenes Wesen, wenn man in Betracht zieht, wie die eigene Familie charakterisiert wird. [...]

Ebenfalls etwa im Alter von 14 Jahren wird Prokofieff mit der französi­schen Ausgabe der Geheimwissenschaft im Umriss bekannt. Da er diese Sprache nur unzureichend beherrscht, liest er zwar nicht das ganze Buch, entdeckt aber sofort darin die Beschreibung der Rosenkreuzmeditation. Deren imaginative Form macht auf ihn einen tiefen Eindruck – was ja verständlich ist, da in diesem Alter in der Entwicklung des Kindes beson­ders jene Kräfte eine starke Wirkung haben, auf denen die Fähigkeit zur Imagination beruht. Er beginnt zu meditieren. Diejenigen Kräfte, die zum Aufbau seiner seelischen und körperlichen Organisation erforderlich sind, werden in Richtung der okkulten Praxis umgeleitet.

Danach erhält er die Geheimwissenschaft in russischer Sprache. Gera­de in diesem Alter, nach dem Freiwerden des Astralleibes aus der Bindung an den Eltemteil, erlangt der Jugendliche eine besondere Aufnahmefähig­keit für die idealen Vorbilder und auch die Neigung zur Phantasie (vgl. 4.1.1922, GA 303): ... das den Geist erfassende Bild der ganzen Welt­evolution, wie es in der Geheimwissenschaft beschrieben wird, macht auf ihn einen gewaltigen Eindruck. Wir glauben es ihm, doch möchten wir hinzuzufügen, dass er seinen Artikel nicht in jenem zarten Alter, sondern nach Vollendung des 32. Lebensjahres geschrieben hat. Das hindert ihn nicht zu erklären, dass das wichtigste Ergebnis des Lesens der Geheim­wissenschaft d e r  E i n t r i t t – nicht etwa das Bekanntwerden, auch nicht die Erkenntnis, nicht das Studium, sondern der Eintritt! – in einen neuen geistigen Kosmos [war], der alles bisher Erlebte durch seine Grösse und Erhabenheit übertraf (Mein Weg..., S. 84; er verlautbart auch hier nichts über den „alten geistigen Kosmos“ und das „früher Erlebte“ – I.G.).

Rudolf Steiner selber hatte mit seiner Geheimwissenschaft nicht beab­sichtigt, dem Leser einen fertigen geistigen Kosmos darzureichen. Später sagte er darüber, dass sie lediglich eine Partitur darstelle und der Leser den Inhalt in aktiver innerer Tätigkeit selber ausarbeiten müsse, um das Ganze zu bekommen (4.5.1920, GA 334). [...]

Doch setzen wir unsere Betrachtungen fort. Nachdem Prokofieff die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle in der Einbildung erlebt hat, tritt er – wiederum in der Vorstellung – in den neuen geistigen Kosmos ein. Mit der Erkenntnis steht es, seiner Meinung nach, insoweit gut, als sie kaum begonnen, bald darauf doch zu ihrem triumphalen Höhepunkt führt. Doch welche Erkenntnis? – Diejenige nämlich, dass der kosmische Chri­stus den Mittelpunkt des geistigen Kosmos bildet. Zu dem inneren Gefühl, wie es schon [seit früher Kindheit] (sic!) in meiner Seele gelebt hatte, dass diese Tatsache unabänderliche Wahrheit isterklärt Prokofieff –, trat nun das sichere und umfassende W i s s e n [davon] (Mein Weg..., S. 84). [...]

Das Gefühl der eigenen hohen Berufung, worüber er nicht zu reflektie­ren geneigt ist, erfasst das ganze Wesen: ...in der Zeit zwischen dem 14. und 19. Lebensjahr [konnte ich] die Grundwerke Rudolf Steiners sowie viele andere geistig‑okkulte Werke von Autoren östlicher, theosophischer und mystisch‑kirchlicher Richtungen kennenlernen. Diese fünf Jahre verbrachte ich im wesentlichen in geistiger Einsamkeit ... Ich sollte im Laufe dieser Jahre, mich nur auf meine eigenen inneren Kräfte und mein Suchen nach einer Antwort auf die vor mir stehenden Lebensfragen stüt­zend, die Anthroposophie ... als Aufgabe meines ganzen Lebens, als mein Schicksal auf dieser Welt wählen (ebd., S. 86).

Auf welche inneren Kräfte konnte sich wohl ein noch unreifer Jugend­licher stützen? Doch hören wir trotzdem, was Rudolf Steiner über die ge­sunde Entwicklung des Menschen in diesem Alter sagt. – Der Mensch wird mit der Geschlechtsreife aus dem geistig‑seelischen Leben der Welt herausgeworfen und hineingeworfen in die äusserliche Welt, die er nur mit seinem physischen Leib, mit seinem ätherischen Leib wahrneh­men kann (4.1.1922, GA 303). Im Falle Prokofieffs erfahren wir das Ge­genteil: Er betritt in diesem Alter, gemäss seinen eigenen Worten, den geistigen Kosmos. [...] Die neuen „Entdeckungen“ werden nur zur endgültigen Bestätigung seiner Ahnung, die schon von früher Kindheit an in seiner Seele gelebt hat; die Welt seiner Träume verweilt in wunderbarer Harmonie, und die Bekanntschaft mit der Anthroposophie erweckt bloss die schon lange in seiner Seele schlummernden unbestimm­ten Gefühle. [...]

Danach beginnt Prokofieff, Rudolf Steiners Vortragszyklen kennenzu­lernen. Welche Bedeutung das für ihn hat, erfahren wir aus folgendem Be­kenntnis: Durch diesen Zyklus erschloss sich mir abermals eine ganz neue Welt (ebd., S. 87; Hervorh. I.G.). Aber wie kann sich nun abermals eine ganz neue Welt eröffnen, und in welcher Art kann diese ganz neue Welt sich einem Menschen eröffnen, der schon über eine unab­änderliche Wahrheit und ein umfassendes Wissen des Geist‑Kosmos ver­fügt? [...]

Ein anthroposophischer Freund Prokofieffs empfiehlt ihm die Lektüre der drei bekannten Arnheimer Vorträge aus dem sechsten Karrnaband, wobei dieser mit einem etwas geheimnisvollen Blick bemerkt, dass einiges sehr Wichtiges über das Karma der Anthroposophen, d. h. über  u n s e r  e i g e n e s  Karma enthalten sei. Dabei gerät Prokofieff in eine ungewöhn­liche Erregung, er wird – wie oft zuvor – von der Fülle der neuen Gefühle ergriffen, wodurch sich ihm sogar die Worte versagen wollen ... Doch macht er gar keine Anstrengung, um das seelische Gleichgewicht wieder­zuerlangen, im Gegenteil, er rechtfertigt und lobpreist seinen Zustand, den er als spirituelle Begeisterung bezeichnet, deren Quellen aus der im Inner­sten der Seele verborgenen Erinnerung an die miterlebten Ereignisse (ebd., S. 89) entspringen sollen. Welcher Art mögen diese Ereignisse sein, und was „bewahrt“ er in seinen Seelentiefen auf? – Nach der Lektüre sieht er sich als einen derjenigen, die sich im 15. Jahrhundert um Michael in dessen übersinnlicher Schule geschart haben, und schaut im Geist, wie die erste Hierarchie die kosmische Intelligenz aus dem Schoss der zweiten Hierarchie in die Häupter der Menschen überträgt. Mit welcher Berechti­gung kommt er so schnell und zweifelsfrei zu dieser bedeutungsvollen Schlussfolgerung, seine eigene Person betreffend? – Auch hier wieder das gleiche: ausschliesslich auf der Grundlage jener Gefühle, die er beim Lesen der Vorträge erlebt hat. [...]

Jedoch: Solange der Mensch noch geneigt ist – schreibt Rudolf Steiner in der Theosophie –, sich selbst auf Kosten der ihn umgebenden Welt zu über­schätzen, so lange verlegt er sich den Zugang zu höherer Erkenntnis. Wer einem jeglichen Dinge oder Ereignisse der Welt gegenüber sich der Lust oder dem Schmerze hingibt, die sie ihm bereiten, der ist in solcher Über­schätzung seiner selbst befangen. Denn an seiner Lust und an seinem Schmerz erfährt er nichts über die Dinge, sondern nur etwas über sich selbst (GA 9, S. 178‑179).

Kaum war jene schlaflose Nacht, in der Prokofieff diese Karma‑Vor­träge gelesen hatte, vorbei, kam er unverzüglich zum Schluss: Jetzt kannte ich die geistige Wesenheit, der ich schon immer diente (wann?) und mit meinem ganzen Wesen ergeben sein wollte (Mein Weg..., S. 90; er nennt den Erzengel Michael). Warum aber gerade: ich kannte? Auf welche Wei­se wurde diese Erkenntnis errungen? [...] Für mich selbst – fährt er fort – bedeutete dieses Erlebnis auch eine Art innere Antwort auf die Forderung, von der Rudolf Steiner am Anfang des Arn­heimer Vortrags sprach, „sich im Leben als richtige Repräsentanten der anthroposophischen Bewegung darzustellen“, „die Anthroposophie durch seine eigene Persönlichkeit in der Welt darzustellen“ [...] ich empfand mit aller Ent­schiedenheit, dass diese Forderung [ein Repräsentant der Anthroposo­phie zu sein] eigentlich nicht von Rudolf Steiner ausgeht sondern d u r c h Rudolf Steiner v o n  M i c h a e l  s e l b s t  und dass sie in diesem Augenblick vor allem an mich persönlich gerichtet war (ebd.; Hervorh. S.O.P.). Welche Selbsteinschätzung!

Und nun, nachdem er (in seiner Eingebung) aus geistigen Höhen die persönliche Aufforderung vernommen hat, fühlt er den unwiderstehlichen Wunsch, so schnell wie möglich darauf zu antworten, und so beschliesst er, in einem Gelöbnis seiner unverbrüchlichen Treue Ausdruck zu ver­leihen. Wie solch ein Gelöbnis konkret aussehen könnte, darüber sagt er nichts. Dies hindert ihn auch nicht, eine Parallele zwischen sich und Rudolf Steiner zu ziehen, und so schreibt er: Im Leben sind solche Momente Augenblicke des inneren G e l ö b n i s s e s oder „Versprechens“. Und erstaunlicherweise spricht auch Rudolf Steiner selbst in diesem Arnheimer Vortrag von s e i n e m „Versprechen“ gegenüber der geistigen Welt und den ihn führenden Mächten sowie von der „unverbrüchlichen“ Treue gegenüber der einmal übernommenen Verpflichtung (Somit wird wie bei­läufig behauptet, dass Rudolf Steiner nicht selbständig, aus individueller Freiheit handelte, sondern dass er einfach von gewissen Mächten geführt wurde. – Doch wozu musste er ihnen dann noch etwas versprechen?). Zu der Zeit konnte ich noch nicht in Worten ausdrücken (will heissen: er ver­stand es nicht), was Rudolf Steiner unter diesem „Versprechen“ meinte, aber ich fühlte undeutlich (also wieder ein trübes Gefühl – I.G.), dass mein „Gelöbnis“ auf eine geheimnisvolle Weise mit s e i n e m Gelöbnis verbunden war ... (ebd.; Hervorh. S.O.P.). In einer zutiefst geheimnisvollen Atmosphäre und vager romantischer Gefühle legt also Prokofieff, indem er den Impulsen seines Unterbewusstseins nachgibt, ein Gelübde ab, des­sen Sinn er selber nicht begreift. [...]

Nachdem er Einblick genommen hat in die Ereignisse der Weihnachtstagung, liest er ein Buch, in dem die nach Rudolf Steiners Tod entstandenen Schwierigkeiten in der Anthroposophischen Gesellschaft beschrieben werden – und erkrankt dadurch. Die Gründe für eine physische Erkrankung können viele sein, darunter auch ganz prosaische. Er wählt aber denjenigen aus, der es ihm erlaubt, die Situation mit einem Höchstmass an Romantik zu umgeben: er bezieht seine Krankheit auf die Lektüre jenes Buches und begründet dies damit, dass beide Geschehnisse zeitlich zusammenfallen. [...] Er beschreibt dies so: Das Buch machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich einige Tage lang physisch krank war. Diese [schwere] Erfahrung vermittelte mir, wie gesagt, wenn auch nur als ganz schwache Ahnung, so doch eine recht reale Vorstellung davon, was es damals, im Jahre 1923, für Rudolf Steiner bedeutet hat das Karma der Gesellschaft auf sich zu nehmen. Zudem hatte ich durch mein eigenes Erlebnis erkannt, was es heisst, Schüler Rud« Steiners auch in dieser Sphäre zu werden. Ich verstand nun, nachdem ich dieses (was denn?) ein­mal bis in den physischen Leib hinein erfahren hatte, dass es nicht möglich ist, die Antwort auf solche Fragen durch eine äussere Suche nach „Schul­digen“ oder „Unschuldigen“ an den vergangenen Ereignissen zu suchen. Die [wahre] Wirklichkeit dessen, was geschehen war, lag weitaus tiefer und man musste sie erleiden ... (ebd., S. 98‑99; Hervorh. S.O.P.). [...]

Dieses schmerzliche Erlebnis erschloss mir jedoch noch eine ganz andersartige Erfahrung, denn unmittelbar danach hatte ich das G e f ü h l, dass die geistige Gestalt des Lehrers mir seelisch‑geistig noch näher gekommen sei als vorher und dass ich mich erst jetzt in vollem Masse als sein esoterischer Schüler ansehen könne (ebd., S. 99). Offensichtlich reiht er sich selber in vollem Masse in die esoterische Schülerschaft Rudolf Steiners ein.

Deshalb wollen wir uns den Worten Rudolf Steiners über die Bedin­gungen einer esoterischen Schülerschaft zuwenden. [...] Gar mancher täuscht sich in dieser Hinsicht. Er sagt: Ich will in reinem Sinne streben. – Würde er sich aber näher prüfen, so wurde er doch bemerken, dass viel verborgener Egoismus, raffiniertes Persönlichkeitsgefühl im Hintergrunde lauern; solche Gefühle sind es namentlich, die sich sehr oft die Maske des selbstlosen Strebens aufsetzen und den Schüler irreführen. Es kann gar nicht oft genug durch innere Selbstschau ernstlich geprüft werden, ob man nicht dergleichen Gefühle doch im Innern seiner Seele verborgen hat. Man wird von solchen Gefühlen immer mehr durch energische Verfolgung eben der hier zu besprechenden Regeln frei werden. Diese Regeln sind:

Erstens: Es soll in mein Bewusstsein keine ungeprüfte Vorstellung eingelassen werden. (GA245, S. 22).

Wir fragen uns, ob nicht gerade diese Worte Rudolf Steiners eine Dia­gnose des „Weges“ von Sergej Prokofieff sind? [...]

Prokofieff beruft sich auf die persönlich erlebte Erfahrung. Doch Erfah­rung ist keine Erkenntnis. Die Erfahrung – dazu gehört auch die Erfahrung der Seelenerlebnisse – ist nur das unmittelbar Gegebene. Das äussere Er­scheinungsbild der Wirklichkeit, das sich aus der Erfahrung ergibt, ist nicht ihr wahres Bild, da letzteres nur unter der Bedingung zustande kommt, dass das Denken in Bewegung gesetzt wird, welches der unvollendeten Erfah­rung durch die Erschliessung ihres Wesens zur Vollendung verhilft. [...]

Aus dem Widerwillen Prokofieffs gegen die Beschäftigung mit dem­jenigen, was aus dem Leben im reinen sinnlichkeitsfreien Denken erfliesst, entsteht die Missachtung einer weiteren Regel, die besagt: Es obliegt mir, die Scheu vor dem sogenannten Abstrakten zu überwinden (GA 245, S. 25).

Mit dieser Regel weist Rudolf Steiner auf die Notwendigkeit hin, sich das sinnlichkeitsfreie Denken zu erarbeiten. Wie aus seinem autobiogra­phischen Aufsatz und seinen Büchern hervorgeht, hat sich Prokofieff um die Ausbildung eines solchen Denkens oder des Denkens überhaupt nicht bemüht. [...]

Im folgenden fühlt sich Prokofieff bereits erhaben über die menschliche Urteilsfähigkeit und gibt vor, Mitteilungen über die Weihnachtstagung un­mittelbar aus der geistigen Welt zu erhalten. Ein solches Erleben der Weihnachtstagungschreibt er –, von ihrem geistigen, man kann auch sagen, esoterischen Wesen ausgehend, lässt sich auf äusserliche Weise in Worten oder auf dem Papier den Menschen, die ein solches Erlebnis nicht hatten, nicht vermitteln [...]

Er erklärt, dass er eine Lebensbeschreibung Rudolf Steiners vom Standpunkt der Weih­nachtstagung selber hätte geben müssen, das heisst gewissermassen (also in gewissem Sinne – in welchem wohl?) vom Standpunkt jenseits der Schwelle ... (ebd., S. 103). Indem Prokofieff die Weihnachtstagung als ein jenseitiges Ereignis charakterisiert und ihr Miterleben als etwas, das mit äusseren Worten nicht wiedergegeben werden kann, nimmt er für sich das Privileg in Anspruch, ihr Wesen zu erläutern; das hat er im weiteren auch getan, wobei ihm die Sorglosigkeit, Passivität und Leichtgläubigkeit der Anthroposophen zu Hilfe kamen.

Doch nun zur Frage: Auf welche Weise hat Prokofieff die Schwelle zur geistigen Welt überschritten? Im Zusammenhang damit erinnern wir an die Warnung Rudolf Steiners in der Geheimwissenschaft, wo er schreibt:

Bei einer Schulung, in welcher nicht auf Sicherheit und Festigkeit der Urteilskraft, des Gefühls‑ und Charakterlebens gesehen wird, kann es geschehen, dass dem Schüler die höhere Welt entgegentritt, bevor er dazu die nötigen inneren Fähigkeiten hat ... Würde aber ... die Begegnung [mit dem „Hüter der Schwelle“] ganz vermieden und der Mensch doch in die übersinnliche Welt eingeführt, dann wäre er ebensowenig imstande, diese Welt in ihrer wahren Gestalt zu erkennen. Denn es wäre ihm ganz un­möglich, zu unterscheiden zwischen dem, was er in die Dinge hineinsieht, und dem, was sie wirklich sind. Diese Unterscheidung ist nur möglich, wenn man die eigene Wesenheit als ein Bild für sich wahrnimmt und dadurch sich alles das von der Umgebung loslöst, was aus dem eigenen Inneren fliesst ... Wenn der Mensch, ohne die Begegnung mit dem „Hüter der Schwelle“ zu haben, die geistig‑seelische Welt betreten würde, so könnte er Täuschung nach Täuschung verfallen ... Sobald man jedoch die imaginative Welt betritt, verändern sich deren Bilder durch solche Wünsche und Interessen, und man hat wie eine  W i r k 1 i c h k e i t  vor sich, was man erst selbst gebildet oder wenigstens mitgebildet hat (GA 13, S. 380‑382). [...]

Der Ruhm Prokofieffs beruht auf einem Mythos, der durch die Sehn­sucht vieler Anthroposophen nach leuchtenden Gestalten des „sich offen­barenden Geistes“ entstehen konnte, und der das Unterscheidungsvermö­gen paralysiert. Der triumphale Auftritt Prokofieffs auf dem Territorium des „Anthroposophen‑Reiches“ erinnert an die Geschichte des trojanischen Pferdes. [...] In den folgenden Kapiteln werden wir auseinandersetzen, was einige dieser „Danaergeschenke“ in Wirklichkeit bedeuten.