2010
Das Geheimnis der Liebe und die Not (auch) der Waldorfschulen
Gedanken zum Jahresende, in dunkler Winternacht geschrieben.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. ... Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf...
Vom Wesen der Liebe und der zarten Flamme
Das Hohelied der Liebe... Das wunderbare, dreizehnte Kapitel aus Paulus’ Brief an die Korinther. Hat es mit ... den Waldorfschulen zu tun? Nun, wie könnte es nicht – denn es hat doch mit uns allen zu tun, mit der ganzen Welt, mit der einen Menschheit, mit jeder einzelnen Menschenschwester und jedem einzelnen Menschenbruder...
Es gibt an Worten nicht viele, die so bewegend sind wie diese wenigen Worte, die über die Liebe gehen. Es ist, wie wenn sie das Wesen der Liebe umkreisen, staunend, sie anschauend und von ihr angeschaut werdend, bis ins Innerste berührt von ihren sonnenhaften Strahlen, ihrer unbeschreiblichen Wärme – und dann kommen die Worte wie von selbst, sprechen das Wesen der Liebe aus, die Liebe wird Wort, soweit die Sprache sie überhaupt fassen kann...
Brauchen die Menschen die Liebe? Ja ... sie ist das einzige, was sie brauchen. Alles andere haben sie schon. Die Welt ist so reich, dass alles, was es braucht, für jeden Einzelnen reichen würde. Nur die Liebe fehlt ... und darum reicht auch alles andere nicht... Weil die Liebe fehlt, werden andere Reichtümer gesucht – Reichtum an Anerkennung, an Sicherheit, an Kontrolle, an Macht, an Geld, an Freizeit, an Erlebnissen, an Sinnes-Sensationen, an Lust, an Rausch. An allem, was denkbar ist und in irgendeiner Weise ein Ersatz sein könnte ... und doch immer nur Ersatz bleiben wird...
Die Sehnsucht nach der Liebe – der wahren, reinen, heiligen Menschenliebe – lebt in jeder einzelnen Seele. Doch wie wach ist diese Sehnsucht ... oder wie verschüttet? Wie mutig ist die Seele, sich zu dieser Sehnsucht zu bekennen? Oder wie hoffnungslos – und darum sich flüchtend in den schattigen Schutz von weniger Gefühl, um nicht die vielen Verletzungen ertragen zu müssen?
Wenn man die zarte, verletzliche Flamme des eigenen Gefühls am Leben erhält, dann droht in jeder Minute die Gefahr, dass diese Flamme durch einen kalten Guss gequält und verspottet wird – sei es eine einfache Unaufmerksamkeit, sei es mangelnde Anerkennung, eine bewusste Verletzung, Kritik, Klatsch und Tratsch, oder Schlimmeres. Das Gefühl ist verletzlich – und so ist es ständig in Gefahr, auch verletzt zu werden. Darum verkleinert die Seele ihre Flamme, sie stellt ihr Gefühlslicht unter einen Scheffel, dann ist auch das Leid der Verletzung nicht so groß. Die Seele legt sich eine dickere Haut zu, vielleicht einen starken Panzer...
Und so begegnen sich die Menschen dann – jeder trägt seine kleine, zaghafte Flamme im Herzen, gut geschützt, vielleicht sogar verschüttet ... und damit leuchtet sie nur wenig nach außen, noch viel weniger als innen noch ist... Finster sind die Herzen in den Augen des jeweils anderen, sie verbergen sich voreinander, suchen Schutz in der Unkenntlichkeit. Das Herz gibt sich keine Blöße, es hat schon genug Leid ertragen müssen. Dunkel wird die Welt, dunkel wie in der Winternacht...
Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. ... Es war in der Welt, und die Welt ist durch es gemacht; aber die Welt erkannte es nicht. Es kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen es nicht auf...
Vom Gefundenwerden und der Selbstlosigkeit
Das Geheimnis der Liebe hat also mit jedem Einzelnen von uns zu tun – es sucht uns, es sucht die Menschen. Albrecht Goes (1908-2000) hat dies in einem wunderbaren kleinen Gedicht ausgesprochen:
Wir suchen dich nicht, wir finden dich nicht.
Du suchst und du findest uns, ewiges Licht.
Wir lieben dich wenig, wir dienen dir schlecht.
Du liebst und du dienst uns, ewiger Knecht.
Wir können dich, Kind in der Krippe, nicht fassen.
Wir können die Botschaft nur wahr sein lassen.
Jeder Mensch kommt mit einem inneren Licht auf die Welt. Mit einem Urvertrauen, dass die Welt gut ist, dass die Welt ein Ort der Liebe ist... Der Verlust dieses Vertrauens ereignet sich von allein, die Welt sorgt dafür. Was aber nicht von allein geschieht, ist das Wiederfinden der Liebe. Das Wiederfinden des verlorenen Lichtes, der verlorenen Verbindung mit diesem Licht. Re-ligio...
Das geschieht nicht von allein. Die Sehnsucht muss wach bleiben, das Flämmchen muss am Leben bleiben – und auch das reicht noch nicht. Wo soll man die Liebe finden? Wo soll man sie suchen? Wenn die Welt „so untreu ist“, so voller Mangel an Liebe? Wo soll man sie suchen?
Das Reich der Liebe ist gar nicht von dieser Welt. Man kann sie in dieser Welt also auch nicht finden. Aber das große Geheimnis ist: Sie kann uns finden... Und doch muss der Mensch einen Schritt machen: Er muss seine Sehnsucht wahr sein lassen wollen – er muss sich finden lassen...
Die Liebe kann man nicht erobern, man kann sie sich nicht nehmen, man kann sie nicht geben. Man muss sich der Liebe und ihrem weltenweiten Geheimnis öffnen. Man kann das Geschenk der Liebe – sie selbst schenkt sich – nur annehmen, in sich aufnehmen, sein Herz erfüllen lassen, übervoll werden, überströmen lassen. Und dann ... dann kann man Liebe geben, das Geheimnis weiterschenken. Von Anfang bis Ende ist die Liebe Geschenk. Das ist ihr Geheimnis: Sie wird größer und reicher, je mehr man von ihr „weggibt“... Man kann sie gar nicht für sich behalten. Will man sie nicht fortschenken, so verschwindet sie aus dem eigenen Herzen. Öffnet sich das Herz in Liebe zur Welt hin, so wird es ein unerschöpflicher Quell, und die Rechte braucht nicht wissen, was die Linke tut...
Das ist das Geheimnis der Selbstlosigkeit: Nicht ich, sondern das Wesen der Liebe in mir... Wie anfänglich auch immer, wie stückweise auch immer, fortwährend wieder überrascht von den eigenen noch unverwandelten Schwächen. Wann immer man diesem Geheimnis jedoch nahe ist, findet man in dieser Selbstlosigkeit gerade sein wahres Ich. Es ist keine schwache Selbstlosigkeit, wo man aus der Selbstaufgabe und Aufopferung doch noch eine subtile Selbstliebe heraussaugt, sondern es ist eine starke Selbstlosigkeit, zu der man sich in voller Freiheit und in starker Hingabe entschließt. Abgelegt wird in diesen Momenten das sich selbst liebende kleine „ich“ – und gefunden wird etwas von dem großen, endlosen Wunder der Liebe, in dem erst das wahre (und auch erst wahrhaft individuelle) Ich leben und wirken kann...
Darum also sehnt sich die Seele im letzten Grunde nach der Liebe: Nicht um diese Liebe zu bekommen (man kann sie nicht bekommen), sondern um sie zu schenken. Das Reich der Liebe ist die wahre Heimat des Ich und damit auch der Seele – wie sie sein will und einst sein wird –, aber man kann das Königreich der Liebe nur betreten und gewinnen, indem man es in jedem Moment wieder weggibt...
Sterntaler... Die Goldmarie... Die „Märchen“ sind tief wahr und tief christlich. Wenn man gibt und schenkt – seine Taten, seine Hingabe –, so gibt man damit auch sein „ego“ fort, man legt es ab wie eine alte Haut ... und man erhält etwas, was unendlich kostbar ist: Man findet sein wahres Ich und einen unerschöpflichen Schatz, lichter und reicher als alles Erdengold.
Von der Not auch in den Waldorfschulen
In dem Maße, wie wir uns an diese Geheimnisse erinnern, erkennen wir, wie sehr uns die Liebe fehlt. Wie sehr wir sie suchen: Sehn-sucht...
Auch die Waldorfschulen sind kein Ort, wo die Liebe blüht, leuchtet und wärmt. Auch in den Waldorfschulen sind Menschen tätig wie du und ich, ereignen sich täglich Verletzungen, wird das innere Licht unter den Scheffel gestellt, legt man sich eine dickere Haut zu oder sogar einen Panzer...
Dies ereignet sich, auch wenn in den Waldorfschulen viele Menschen zusammenkommen, die oft voll guten Willens sind, die nicht selten hohe Ideale haben. Aber nicht selten tragen die „Ideale“ mit dazu bei, dass trotz allem geschieht, was geschieht. Dann nämlich, wenn die Liebe nicht die alles durchstrahlende, alles wärmende Sonne im Mittelpunkt dieser Ideale ist...
Sind dann die Ideale falsch? Ja – noch nicht wahrhaft erkannt, ergriffen, wahrgemacht... Das Ideal selbst, das wahre, wirkliche Ideal, enthält die Liebe immer. Das Ideal der Waldorfpädagogik kann ohne die Liebe als leuchtendes Zentrum gar nicht wahrhaft gedacht werden...
Weil das aber so ist, ist das Erfassen und die Verwirklichung des Ideals ebenso schwer wie die Liebe selbst...
Darum also sind auch Orte, an denen es um hohe Ideale geht, oft genauso arm oder sogar noch ärmer an Liebe: Weil man die Liebe bei alledem vergisst. Weil man nicht darauf achtgegeben hat, dass die Liebe das Wichtigste bei allem wäre. Weil man also die Ideale dann immer schon verfälscht zu verwirklichen sucht – in dem Maße verfälscht, in dem einem die Liebe fehlt oder verloren geht.
Hinzu kommt dann aber noch etwas Trauriges: Der dunkle Schatten jenes Lichts, das die Ideale eigentlich sind. Sobald Menschen sich bemühen, Ideale zu verwirklichen, sehnen sie sich nach Anerkennung. Wenn das Handeln nicht von vornherein ganz von Hingabe, Freiheit und Liebe durchdrungen ist, sucht etwas in der Seele immer nach einem „Lohn“ für dasjenige, worum man sich bemüht, wofür man sich vielleicht sogar aufgeopfert hat. Bleibt dieser Lohn aus oder erhält man stattdessen vielleicht sogar Kritik, so erheben sich sehr schnell und oft sehr stark die Schwächen im Menschen.
Immer wenn dies geschieht, jubeln die Widersachermächte angesichts eines weiteren Sieges über das Licht...
...und dem Beginn ihrer Überwindung
Was kann man dagegen tun? Nichts... Nichts außer einem: Die Schwächen in der eigenen Seele immer kleiner werden zu lassen – und die Liebe der eigenen Seele immer größer. Beides ist dasselbe...
Man kann einem Ideal nur dann wahrhaft dienen, wenn man ihm nicht dient. Man muss das Ideal lieben – man muss alles, was man tut, lieben. Man darf es nicht um des Ideals willen tun, sondern aus reiner Liebe zur eigenen Tat in diesem Augenblick – man selbst, die eigene Tat, das Ideal, all dies dürfen nicht getrennte Dinge sein, es muss im ewigen Augenblick der Gegenwart ein und dasselbe sein. Dann ist man frei, dann verwirklicht man die Liebe, dann wird das Ideal Wirklichkeit – in der eigenen Seele und in der äußeren Tat, so Gott will...
Dann aber ist auch deutlich, dass und warum es keinen „Lohn“ und keine Anerkennung für die eigenen Taten geben kann: Mit einem Lohn – und das bedeutet: schon bei einem Denken an einen Lohn – ist es keine Tat der Liebe mehr und ist man dem Ideal fern... Wo die Seele Anerkennung erwartet, wird sie notwendigerweise enttäuscht, denn dies ist der Lauf der Welt. Anerkennung kann nur da wachsen, wo die Liebe lebt. Damit aber ist sie fast so selten wie diese...
Ideale ziehen dunkle Schatten also immer dann nach sich, wenn sie lieblos machen – und sie machen immer dann lieblos, wenn sie noch gar nicht wahrhaft verwirklicht werden. Wenn man Anerkennung erwartet, steht man dem Ideal noch fern. Wenn man keine Anerkennung erwartet, kann man auch nicht verletzt werden – und nur so besteht die Möglichkeit, das Ideal überhaupt zu verwirklichen. Jede Tat soll nur getan werden, weil man es von ganzem Herzen selbst will. Dann braucht es niemals eine äußere Anerkennung...
Natürlich wird gerade dann, wenn man ein Ideal verwirklichen kann, die Anerkennung nicht ausbleiben. Und dies ist dann vielleicht das schönste Geschenk, aber – es ist ein Geschenk. Anerkennung ist ebenso ein Geschenk wie die Liebe, mit der man der Welt gibt. Wenn man sie erwartet, kann das eigene Bemühen nur scheitern...
Und so hat Christian Morgenstern wunderbar gedichtet:
Gib, gib und immer wieder gib der Welt,
und laß sie, was sie mag, dir wiedergeben;
tu alles für, erwarte nichts vom Leben, –
genug, gibt es sich selbst dir zum Entgelt.
Das Leben, was man gewinnt und was Morgenstern in der letzten Zeile meint, ist ein ganz anderes Leben als das, an welches man Erwartungen hat. Erwartungen hat man an die äußere Welt, an das äußerlich verstandene Schicksal und so weiter. Das Leben, das man gewinnen kann, ist ein ganz und gar inneres, ein höheres Leben, das wirkliche Leben... Gerade da, wo ich nichts (mehr) erwarte, bekomme ich...
„Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten.“ (Lukas 9, 24).
Das eine ist das alte Leben, das andere ein ganz neues. Erich Fromm sprach von „Haben oder Sein“...
Von der wahren Liebe zu sich selbst und dem Geheimnis der Selbsterziehung
Zum Geheimnis der Liebe gehört auch das Geheimnis der Liebe zu sich selbst – und nun ist nicht die egoistische Selbstliebe gemeint, sondern das wahre Geheimnis des göttlichen Gebotes: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
Wahre Liebe ist Hingabe – auch sich selbst gegenüber. Die Liebe ist langmütig und freundlich, sie rechnet das Böse nicht zu, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Das gilt auch sich selbst gegenüber!
Denn warum fehlt die Liebe so oft? Weil man seinen Nächsten nicht lieben kann, wenn man sich selbst gegenüber lieblos wird! Man kann seinen Nächsten nicht mehr lieben als sich selbst, es gibt in der Liebe kein „Mehr“, es gibt nur ein „Weniger“, und das ist Mangel an Liebe. Wenn man sich selbst nun nicht lieben kann – um wie viel weniger dann seinen Nächsten?
Und das ist die andere Seite des dunklen Schattens der Ideale: Nicht nur die Erwartung von Anerkennung durch andere – sondern auch die Erwartungen an sich selbst. Liebe und Erwartungen sind unvereinbar. Wo es Erwartungen gibt, werden diese zwangsläufig immer wieder enttäuscht, und die Folge davon ist Lieblosigkeit – auch sich selbst gegenüber! Wenn die Seele von sich selbst irgendein Ideal erwartet und sie „schafft“ es nicht, beginnt sie, einen leisen Selbsthass zu entwickeln. Und dieser kann schnell, sehr schnell größer werden... Die Seele verurteilt sich selbst, sie verzweifelt an sich selbst, sie stürzt in den dunklen Abgrund der eigenen Schwäche und Ohnmacht...
Und dann nähren die dunklen Schatten sich gegenseitig. Wo die Seele sich selbst immer weniger achten kann, erwartet sie um so mehr Anerkennung von außen. Und wo sie keine Anerkennung bekommt, kann sie sich selbst immer weniger achten – wird aber zugleich lieblos gegen andere Menschen und so weiter. Es spielt keine Rolle, was zuerst geschehen ist – die Folge ist immer ein zunehmender Verlust der einzigen Kraft, die Heilung bringen könnte: der Liebe.
Und so kann die Liebe auf vielen Wegen verlorengehen, aber nur auf einem einzigen wiedergefunden werden: in der völligen Hingabe. Gemeint ist immer der jeweilige Augenblick... Es ist selbstverständlich, dass kein Mensch die vollkommene Liebe vollkommen verwirklichen kann – aber wir alle können in jedem Augenblick danach streben, und das Streben kann auch gelingen, in diesem Augenblick ... oder im nächsten.
Darum ist die Selbsterziehung das Geheimnis jeder Erziehung. Erziehung soll in Liebe getaucht sein, soll ihrer Essenz nach Liebe sein. Zur Liebe aber muss man sich (selbst) erziehen. Das scheint ein Widerspruch zu der Tatsache zu sein, dass man sich der Liebe einfach öffnen muss. Aber gerade hier erweist sich ja doch, wie schwer das Einfache ist – und wie einfach das Schwerste... Wenn es so einfach wäre, sich der Liebe zu öffnen, müsste die Welt doch ein Paradies sein, wo doch jede Seele sich nach der Liebe sehnt?
Die Liebe ist aber alles zugleich: Das Höchste, das Einfachste und das Schwerste... Alle Selbsterziehung ist eigentlich Vorbereitung auf dieses höchste und tiefste Geheimnis. Aber diese Vorbereitung ist selbst schon Weg, und der Weg ist selbst schon das Ziel, denn woher sollte der Impuls zur Selbsterziehung kommen, wenn nicht aus der schon im Anbeginne verborgenen Sehnsucht, der Welt mehr geben können zu dürfen?
Fähig zur Liebe werden – das ist der tiefste Sinn jeder Selbsterziehung. Um fähig zu werden, muss ich aber üben, das gilt auf jedem Lebensgebiet, ohne Ausnahme. Fähigkeiten müssen entwickelt werden. Und die Selbsterziehung – die Erziehung der eigenen Seele – dient in vielfältig möglicher Weise der Entwicklung noch schlummernder Fähigkeiten im Denken, Fühlen und Wollen.
Von der Liebe kann man sich in jedem Moment finden lassen... Doch um sie wahrhaft in sich aufzunehmen, ihr einen würdigen Ort zu geben, die eigene Seele zum Tempel zu machen, zum Heiligen Gral werden zu lassen, muss man doch etwas tun, darf man nicht faul sein... Die Liebe selbst fragt nicht nach „Verdienst“ oder so etwas. Aber die Seele, sie weiß genau, in welchem Maße sie faul war (oder ist) oder aber sich für den Einzug des wahren Königs bereitet hat... Wenn die Seele „lieben lernen“ will, wird sie aus ihrer innersten Mitte heraus den Impuls fassen, all ihre Fähigkeiten immer weiter zu entwickeln, um jenem Herrn zu dienen, der selbst der Diener aller geworden ist.
„Wie geschrieben steht im Buch der Reden des Propheten Jesaja: Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben!“ (Lukas 3,4).
Gleichnisse Christi
„Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu laden; doch sie wollten nicht kommen. ... Dann sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert. Darum geht hinaus auf die Straßen und ladet zur Hochzeit ein, wen ihr findet. ... Da ging der König hinein, sich die Gäste anzusehen, und sah da einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Gewand an, und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Gewand an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus!“ (Matthäus 22).
„Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst. Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.“ (Matthäus 25).
Das Neue Testament ist voll von Gleichnissen Christi, die auf das Geheimnis der menschlichen Seelenkräfte hinweisen. Auch das Gleichnis von dem vergrabenen Talent gehört dazu. Dort heißt es am Ende: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ Das ist eine Wahrheit in Bezug auf die Seelenkräfte, wie auch für die Liebe selbst, der sie dienen sollen. Die Liebe verschwindet immer mehr, wenn man nur wenig von ihr in sich trägt. Aber die Seelenkräfte schwinden ebenfalls, wenn man sie nicht übt und entwickelt. Wie das Leben ist auch das Seelenleben immer in Entwicklung, und wo es keine Weiterentwicklung gibt, gibt es in der Regel nicht Stagnation, sondern Verlust und Rückschritte.
Man kann aus dem Geheimnis der Liebe und dem der Selbsterziehung keinen Gegensatz machen – sie gehören sehr, sehr eng zusammen. Wer sich nicht immer mehr „zur Liebe erziehen“ will, der denkt noch nicht wirklich groß genug von der Liebe selbst. Denn die Liebe ist zu groß für den Menschen – in Wirklichkeit muss er all seine Kraft einsetzen und all seine Fähigkeiten entwickeln, um sie immer würdiger tragen zu können. Und je mehr die Seele das Wesen der Liebe erkennen lernt, das sich mit der Erde verbunden hat, um bis ans Ende aller Tage bei uns zu sein, desto stärker wird die Sehnsucht und der Wille zu dieser Selbsterziehung.
Bereitet den Weg des Herrn... So verkündete Johannes der Täufer, der doch zugleich sagte: Ich bin nicht wert, dass ich ihm die Riemen seiner Schuhe löse. So groß also die Sehnsucht nach dem Wesen der Liebe ist, so groß ist auch das Bewusstsein, sich als Träger dieses Geheimnisses erst würdig machen zu müssen – doch nicht als äußeres Gebot, sondern als innerste Erkenntnis und tiefster Wille!
Zum Abschluss
Paulus schrieb auch: „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.“ (Röm 8,19). Wer aber sind die Kinder Gottes? Jene, die das Licht aufnehmen, von dem der Johannes-Prolog spricht: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden...“
Wenn nun aber die ganze Schöpfung auf die Kinder Gottes wartet, wie sollten da die Waldorfschulen eine Ausnahme machen? Auch in ihnen lebt in voller Stärke „die Not der Gegenwart“. Und dennoch könnten gerade die Waldorfschulen Orte der Liebe werden ... wenn die Menschen, die das Ideal der Waldorfpädagogik wirklich lebendig in ihrem Herzen tragen, sich darauf besinnen, dass das leuchtende Zentrum dieses Ideals die wärmende Sonne der Liebe ist, und wenn sie all ihre Kraft darauf richten, ihre Seele zu einem wahrhaftigen Träger dieses Lichtes werden zu lassen...
Besinnen wir uns also immer stärker und mutiger auf unsere eigentliche Sehnsucht – als Waldorflehrer, als Anthroposophen oder einfach als Menschen! Diese Kraft und diesen Mut wünsche ich jedem Leser dieser Zeilen.
Um der Wahrheit willen muss am Ende aber doch auch noch wiederum auf die Erkenntnisseite der Liebe hingewiesen werden, auch wenn ich darüber in anderen Aufsätzen schon sehr viel geschrieben habe. Die wahre Liebe ist ganz von Weisheit und Erkenntnis durchstrahlt – das Wesen der Liebe ist ja zugleich der Logos...! Und die Anthroposophie ist in Wahrheit die Sprache dieses Wesens heute... Zur Selbsterziehung gehört ebenso stark wie die Kraft des Willens und der Hingabe, die Tiefe und Innigkeit des Fühlens auch die Erkenntnis – das lebendige, geistesstarke Studium der Anthroposophie und der Schulungsweg des Denkens.
Liebe soll die Frucht der Weisheit sein, sie soll nicht blind, sondern von Erkenntnis durchleuchtet sein. Michael ist das Antlitz Christi. „Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben“ – weil zuerst der Wille in das Denken getragen wird und dann das Licht des Denkens das Herz erfüllen und den Willen erleuchten kann. Das ist der wahrhaftige Weg des hohen Liebewesens in die Menschenherzen und die Menschentaten... Weisheit wird im Menschen geboren und wird zu Liebe, ist der Weg zur Liebe. Anthropo-Sophia...