2011
Fukushima – Atomwende oder temporäre Wendehälse?
Eine Chronik der Ereignisse.
Inhalt
Die Chronologie
Hintergründe
Quellen: Wikipedia o o, AG Friedensforschung o u.a.
Die Chronologie
11.03.11 – 14:46 Schwerstes Erdbeben in der Geschichte Japans. – 15:45 Die Tsunami-Flutwelle unterbricht die Stromversorgung der Fukushima-Reaktoren 1-3 und spült die Öltanks für die Notversorgung von Block 1 weg. (Wellenhöhe 7m, Schutzwall nur für 5,70m) – 16:36 Die Wasserkühlungen in Block 1 und 2 fallen aus. – 17:00 Ministerpräsident Kan erklärt, die Anlagen seien automatisch heruntergefahren worden. – 18:30 Die Medien melden einen Brand. – 18:42 Tokios Stromversorgung bricht zusammen. – 20:30 Die Regierung ruft „als Vorsichtsmaßnahme“ den atomaren Notfall aus. – 21:45 Rund 2.000 Menschen in der Umgebung sollen die Häuser verlassen. – 22:00 Die Evakuierungszone wird von 2km auf 3km ausgedehnt.
12.03.11 – 00:46 Abrupter Druckanstieg in Block 1. – 06:40 Es wird Druck abgelassen; in der Umgebung erhöhte Radioaktivität. – 07:00 Evakuierungszone 10km (45.000 betroffen). IAEO: Auch in Block 2 das Kühlsystem beschädigt. – 09:00 Kühl-Probleme auch in drei Reaktoren von Fukushima 2. – 14:00 Atombehörde NISA: In Block 1 evtl. Kernschmelze begonnen (stark erhöhte Iod- und Cäsiumwerte). – 15:36 Wasserstoffexplosion in Block 1 zerstört Dach und Wände. – 19:45 Evakuierungszone 20km. – 20:20 Beginn der Meerwasserkühlung. – Pressekonferenz von Merkel und Westerwelle [o].
13.03.11 – 06:00 Die Evakuierung betrifft ca. 150.000 Menschen. – 05:10 Block 3 ohne Kühlsystem. – 08:00 Ein dritter Block ohne Kühlung. – 11:55 Wassereinspeisung in Block 3 – 16:00 Regierung: Weitere Explosion möglich, in Block 3 evtl. ebenfalls partielle Kernschmelze. – 21:00 Ministerpräsident Kan spricht von alarmierender Lage.
14.03.11 – 7:45 Druckanstieg in Block 3 – 11:45 Explosion in Block 3 zerstört wesentliche Teile des Gebäudes. – 13:20 Block 2 fast ohne Wasser, Einspeisung. – 16:00 Wassereinspeisung in Block 3 fällt wegen defekter Pumpe aus. – 20:12 Meldung: Brennstäbe liegen trocken. – 21:55 Regierungssprecher Edano: In drei Reaktoren droht Kernschmelze. Erhöhte Radioaktivität um das AKW. – Merkel gibt bekannt, dass alle AKW einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden, dreimonatiges Moratorium für Laufzeitverlängerung [eine Lüge, da Laufzeit nur nach hinten verschoben: o]. Daraufhin werden die sechs ältesten AKW abgeschaltet. – Wirtschaftsminister Brüderle sagte laut Protokoll einer BDI-Sitzung, dass „angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien“ [o]. – In Deutschland protestieren bei Mahnmachen 110.000 Menschen [o].
15.03.11 – 00:15 Brennstäbe in Block 2 nicht mehr von Wasser bedeckt. – 06:15 Dritte Explosion in Block 2, Druckabfall, innere Reaktorhülle beschädigt. – 06:15 Explosion in Block 4 zerstört teilweise das Dach. – Tepco reduziert die Mannschaft von 800 auf 50. – 23:00 Tepco: Wassereinleitung in Abklingbecken 4 nicht möglich. – 23:00 IAEO: Situation „beunruhigend“. – China stoppt Genehmigungen für neue AKWs [o]. – Statements von Merkel und weiteren Regierungsmitgliedern [o].
16.03.11 – 00:26 TV-Sender: Wasserkühlung von Block 4 mit Hubschraubern geplant. – 05:45 Neues Feuer in Block 4. – 11:31 Neues Strahlungsmaximum, Techniker verlassen das AKW für einige Stunden. – 17:00 Kaiser Akihito spricht im Fernsehen. – Das Gesundheitsministerium erhöht die zulässige Gesamt-Äquivalentdosis für Arbeiten in AKWs von 100 auf 250 mSv. – In Milch der Präfektur Fukushima wird der Grenzwert (200 Bq/kg) bis zu fünffach überschritten.
17.03.11 – 01:20 IAEA-Chef Amano: Lage „sehr ernst“. – 03:11 Im Abklingbecken von Block 4 steigt die Radioaktivität wegen fehlendem Kühlwasser. – 10:00 Hubschrauberkühlung von Block 3 im Vorbeiflug recht erfolglos. – 19:00 Wasserwerfer kühlen Block 3. – Die US-Atomaufsicht empfiehlt US-Bürgern Abstand von 80km. – Israel [o] und Venezuela [o] stoppen Pläne für ein erstes AKW. – Regierungserklärung Merkel: „Ausstieg mit Augenmaß“, „Wir wollen so schnell wie möglich das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen“ [Treffen mit allen Ministerpräsidenten am 15.04.] [o]. Gysi (LINKE): Bei der Verlängerung der Laufzeiten im Herbst 2010 ging es nur um Extraprofite von 120 Mrd € [o].
18.03.11 – 02:00 Einführung von Strahlentests für Nahrungsmittel. – 03:30 Verlegung eines Stromkabels in Block 2. – 14:00 Kühlung von Block 3 mit Wasserwerfern. – 18:32 Hochstufung auf INES 5. – 18:54 Ein Diesel-Generator soll Block 5 und 6 demnächst mit Wasser versorgen. – 20:00 Kan: Die Lage werde „in nicht weiter Ferne“ unter Kontrolle gebracht. – Tepco kündigt evtl. Sarkophag aus Sand/Beton an.
19.03.11 – 00:45 Weiter Kühlversuche von Block 3. – 16:30 Behörden weisen im Leitungswasser nahe des AKW erhöhte Radioaktivität nach. – 19:20 Japans Atombehörde warnt vor radioaktivem Regen.
20.03.11 – Abklingbecken 2 wird mit Meerwasser gefüllt. Über das Notstromnetz seien die Pumpen zur Wasserkühlung gestartet. – Kühlung von Block 5 und 6 stabilisiert. – Weiter Wasserwerfer auf Block 3 sowie auch Block 4. – Block 1 und 2 werden ans Stromnetz angeschlossen, bis 22.03. auch alle weiteren. – Aus einigen Blöcken steigt immer wieder Dampf und Rauch auf. – Spuren von radioaktivem Jod im Trinkwasser aller Nachbar-Präfekturen. – In Sachsen-Anhalt verdoppelt die Grünen ihr Wahlergebnis von 3,5% auf 7,1%.
21.03.11 – Die Messwerte im AKW erreichen den 6-fachen Grenzwert. – Zwei Stunden grauer Rauch über Block 3.
22.03.11 – Nachweis radioaktiver Substanzen im Meerwasser.
23.03.11 – Über Block 3 steigt schwarzer Rauch auf, die Arbeiter werden fast 24h abgezogen. – Die Regierung empfiehlt Trinkwasser in Tokio nicht für Kinder (Grenzwert 100 Bq/l, zwei Tage teilweise >200 gemessen wegen fall-out im Regen). – Verkaufsverbot für Gemüsesorten aus Fukushima, sowie Rohmilch und Kräuter aus Ibaraki. – Italien beschließt einjähriges Moratorium für den Wiedereinstieg in die Atomenergie (Ausstieg 1987 nach Referendum).
24.03.11 – Australien verbietet den Import von Gemüse aus vier jap. Präfekturen. – Beleuchtung im zentralen Bedienraum 1 wiederhergestellt. – Drei Arbeiter ohne Schutzstiefel erleiden im Turbinengebäude 3 Strahlenverbrennungen. – Die Arbeitsbedingungen bessern sich: Auf Wunsch eine zweite Flasche Wasser pro Tag (Lieferungen verweigert) [o].
25.03.11 – Ministerpräsident Kan entschuldigt sich für den GAU. – Aus Block 1 steigt kontinuierlich Rauch auf, ähnlich Block 2-4. – Die Kühlung wird auf Süßwasser umgestellt (Schleppkähne der US Navy). – Die Regierung rät, einen 30km-Radius freiwillig zu verlassen („Versorgungsengpässe“). – Noch in Tsushima (35km) werden 100 mSv/h gemessen, am 15.03. noch in Itate (40km) 9 mSv/h (zulässige Jahresdosis 1000 mSv!) [o] – Die EU-Kommission erhöht mit einer „Fukushima-Eilverordnung“ die Cäsium 134-Grenzwerte, z.B. für Milcherzeugnisse aus Japan von 370 auf 1000 Bq/kg [o o].
26.03.11 – In vier von sechs Blöcken wurde belastetes Wasser festgestellt, der Grund ist offiziell unklar. Tepco veröffentlicht die Messwerte vom 24.03. erst nach zwei Tagen (in Block 1: 200 mSv an Wasseroberfläche). – Mehrere Großredereien laufen Tokio nicht mehr an. – In Berlin demonstrieren 120.000 für sofortigen Atomausstieg, in Hamburg 50.000, in Köln und München je 40.000, DGB-Chef Sommer forderte diesen ebenfalls [o].
27.03.11 – In Block 2 werden die Arbeiten wegen der Werte unterbrochen. Tepco: Werte im Turbinenraum 10-Millionen-mal über Normalwert, am Folgetag korrigiert auf 100.000 („Ablesefehler“, Verwechslung von zwei Iod-Isotopen, Messwiederholung), 1000 mSv/h. – In Tokio fordern rund 1200 Menschen vor der Tepco-Firmenzentrale die Abschaltung aller AKW, für japanische Verhältnisse eine Massendemonstration [o]. – Grüne Wahl-Sieger: In Baden-Württemberg verliert die Mappus-CDU nach 58 Jahren die Regierung, die Grünen erhalten 24,2% (2006: 11,7%); in Rheinland-Pfalz 15,4% (2006: 4,6%).
28.03.11 – Die Regierung geht von temporärer Teil-Kernschmelze in Block 2 aus. – Merkel kündigt Atom-Gespräche an, „zum gegebenen Zeitpunkt sicherlich auch ... über Parteigrenzen hinweg.“ [o]
29.03.11 – Diskussion um Plutonium-Messwerte im AKW-Areal.
30.03.11 – Tepco-Verwaltungsratvorsitzender Katsumata: Blöcke 1-4 müssen aufgegeben werden; über 5-6 solle erst nach Rücksprache mit Regierung und Anwohnern entschieden werden. Regierungssprecher Edano bekräftigt, dass alle aufgegeben werden sollen, weil die Gesellschaft dies erwarte. – Katsumata: Die Kosten „unterminieren“ die Finanzen der Firma. Von 7 Großbanken werden Kredite von 17 Mrd € erbeten. – Die Regierung plant das Versprühen von Kunstharz zur Bindung radioaktiver Partikel. – 300m südlich des Wasserauslasskanals wird der Grenzwert von Iod-131 um das 4.385-fache überschritten (180 Mio statt 40.000 Bq/m3). – Die IAEA rät zur Evakuierung bis 40km. – Premierminister Kan will die Atombehörde aus dem Wirtschaftsministerium ausgliedern und Planung/Bau von 14 weiteren AKW von Grund auf überprüfen. – Tepco-Präsident Shimizu wird ins Krankenhaus eingeliefert. – Über 300 deutsche Wissenschaftler fordern den Atomausstieg bis 2020 oder früher [o o].
31.03.11 – Kunstharz-Besprühung wegen Regen verschoben. – Die IAEA will eine Sicherheitskonferenz im Juni in Wien ansetzen. – Financial Times Deutschland zur Merkel-Politik: „Opportunismus in beinahe obszöner Ausprägung“ [o]. – Tepco bestätigt im Grundwasser bei Block 1 Jod-131 in 10.000-fach erhöhter Konzentration.
01.04.11 – RWE klagt gegen die Abschaltung von Biblis A („Wahrung der Interessen seiner Aktionäre“) [o o]. – Sarkozy fordert bei einem Japan-Besuch international verbindliche Sicherheitsstandards für AKW.
02.04.11 – Aus einem Leck im Betonboden von Block 2 fließt weiter radioaktives Wasser ins Meer. – Tepco will auch sogenannte Springer einsetzen, Arbeiter anderer Firmen, die bis zu 3500 Euro pro Schicht erhalten. – Noch 40km entfernt im Meer erreicht Jod-131 den zweifachen Grenzwert. – Laut einem Interview sichern Arbeiter infolge von zu wenig Schutzstiefeln ihre Schuhe mit Plastiktüten [o].
04.06.11 – In Block 1 werden bis zu 4000 mSv/h gemessen [o].
07.06.11 – Die Regierung stellt einen Bericht vor, nach dem in den Blöcken 1-3 eine Kernschmelze stattfand; eine Durchschmelze in den äußeren Sicherheitsbehälter sei möglich [o].
10.06.11 – Behörden finden in Japans größter Teebauprovinz Warashina (370 km südwestlich von Fukushima) erhöhte Strahlung. Mit 679 Bq/kg an Cäsium wird der Grenzwert von 500 überschritten [o].
12.06.11 – Im Grundwasser unter dem AKW wird hochgefährliches Strontium gefunden [o].
27.07.11 – Prof. Kodama, Chef des Radioisotopen-Zentrums der Universität von Tokyo: "Ich bebe vor Wut!" [o].
01.08.11 – Am AKW wurden 10 Sv/h gemessen, das entspricht 2,78 mSv/s, also pro Sekunde das dreifache des deutschen Jahresgrenzwertes [o]!
Hintergründe
Die Skandale von Japans größtem Energieversorger
Die Skandale von Japans größtem Energieversorger
Siehe: Wie Atomgigant Tepco Pannen in Serie vertuschte. Spiegel.de, 22.3.2011 [o] u.a.
2002 stellte sich heraus, dass die Tokyo Electric Power Company (Tepco) seit den 80er Jahren in mindestens 29 Berichten technische Angaben gefälscht und mindestens 13 Reaktoren mit mangelhaften Teilen betrieben hatte. Offenbar wurden Sicherheitsvorschriften systematisch verletzt und Pannen vertuscht. Daraufhin wurden alle 17 AKW heruntergefahren und bis Mai 2003 überprüft. Präsident, Geschäftsführer und weitere Manager legten ihre Ämter nieder. Trotzdem kam es auch weiter zu Zwischenfällen. 2004 starben in einem AKW vier Arbeiter, als heißer Dampf austrat. 2006 wurden Risse in einem Wasserrohr entdeckt. Im Juni 2008 schwappte durch ein Erdbeben radioaktives Wasser aus einem Abklingbecken. 2007 kam erst nach Monaten das Ausmaß des Erdbebenschadens am AKW Kashiwazaki-Kariwa heraus. Tepco behauptete zunächst, es sei nicht beschädigt worden, musste jedoch nach und nach immer mehr Schäden eingestehen. Trotz Klagen und einer Petition mit 600.000 Unterschriften wurde das AKW im Mai 2009 wieder hochgefahren. [o o o]
Und die deutsche Politik?
Aus einem Kommentar in der Financial Times Deutschland (!) vom 31.3.2011 [o]:
Aus staatsmännischem Pragmatismus à la Helmut Schmidt ist hemmungsloser Opportunismus à la Merkel und Westerwelle geworden. Die Parteien wechseln ihre Positionen so routiniert wie Pornodarsteller. Sie beschaffen sich bei Wahlen Stimmenanteile mit irgendwelchen politischen Inhalten und gucken dann, welche Position ihnen in den neuen Verhältnissen die bessere Perspektive verspricht. [...] Wer als Politiker ein echtes politisches Anliegen länger als eine halbe Legislaturperiode verfolgte, musste schon immer als irgendwie verdächtig gelten. [...] Die oft bemängelte inhaltliche Wendigkeit von Angela Merkel ist nur ein Symptom des offensichtlichen Befunds: Die Emanzipation der Politiker von politischen Inhalten. Moderne Profipolitiker haben keine Themen außer der eigenen Karriere. Sie positionieren sich je nach Stimmung im Land. Politiker sein heißt, sich nie ganz festzulegen, einen Teflonanzug zu tragen, beweglich zu sein, mit Politikmarketingphrasen antworten zu können, ohne sich eine echte Aussage zuschulden kommen zu lassen.