06.04.2011

Die Revolution in Tunesien

Chronologie und Hintergründe.


Inhalt
Chronologie: Vorgeschichte | Die Revolution | Nach Ben Alis Flucht | Weitere Proteste
Hintergründe: Menschenrechte und Politik | Ein Grund für die Armut
Einige grundlegende Hintergrund-Aufsätze

Quellen: Wikipedia o, AG Friedensforschung o u.a. 


Vorgeschichte

1236 – Die einheimische Hafsiden-Dynastie verdrängt die marokkanischen Almohaden-Kalifen (herrschten seit 1159).

1574 – Tunesien fällt an die ottomanischen Türken und erlangt unter den türkischen Gouverneuren (Beys) praktisch die Unabhängigkeit.

19. Jh. – Hohe Schulden der Beys geben den europäischen Mächten einen Anlass zur Intervention.

1869 – Frankreich, Großbritannien und Italien kontrollieren die Finanzen Tunesiens.

1883 – Tunesien wird französisches Protektorat (u.a. nach Angriffen von Tunesiern auf Algerien), was von Italien immer aggressiver abgelehnt wurde.

1920 – Gründung der Destour-Partei („Verfassung“).

1934 –  Unter Habib Bourguiba Abspaltung der radikalen Neo-Destour-Partei.

1950 – Tunesien erhält von Frankreich eine weitgehende Autonomie; die französische Bevölkerung in Tunesien ist jedoch gegen weitere Reformen, die Verhandlungen scheitern

1952 – Bourguiba wird verhaftet, was eine Welle der Gewalt verursacht.

Unabhängigkeit

1956, Mär – Tunesien wird  unabhängig. Premierminister Bourguiba.

1956 – Zine el-Abidine Ben Ali tritt in die Armee ein, Ausbildung an Frankreichs Militärakademie Saint-Cyr und einer Geheimdienstschule in den USA.

1957, Jul – Tunesien wird Republik, Absetzung des Bey.

1958 – Ben Ali wird Chef des militärischen Sicherheitsdienstes und knüpft gute Kontakte zur CIA.

1962 – Die Beziehungen mit Algerien verschlechtern sich nach dessen Unabhängigkeit durch Grenzstreitigkeiten.

1963, Jan – Tunesien wird nach Verbot der KP ein Einparteienstaat.

1963, Mär – Verstaatlichung der Wirtschaft.

1969 – Beendigung des sozialistischen Experiments. Verfassungsänderung: Präsidentschaft auf Lebenszeit.

70er – Verschärfung des Konflikts zwischen Liberalen und Konservativen; öffentliche Proteste gegen die Regierung.

1975 – Bourguiba wird Präsident auf Lebenszeit.

1978, Jan – Schwarzer Dienstag: Gewaltakte gegen den Gewerkschaftsbund UGTT.

1978 – Ben Ali wird ziviler Sicherheitschef in der Regierung, 1984 Innenminister und forciert die Bekämpfung der fundamentalistischen Islamisten.

1981, Nov – Wahlfälschungen nach teilweiser Wiederherstellung des pluralistischen Systems. Krise des Landes durch verschlechterte Gesundheit Bourguibas, Vetternwirtschaft, Korruption usw.

1983, Dez – Brot-Unruhen werden blutig niedergeschlagen.

Präsidentschaft Ben Ali

1987, Nov – Ben Ali setzt Bourguiba ab, nachdem ein Arzt diesen für senil erklärt hatte.

1988 – Gründung des oppositionellen „Pacte national“ mit dem Ziel der Demokratisierung. Das Parlament beschränkt die Amtszeit des Präsidenten auf 15 Jahre.

1989, Apr – Wahl Ben Alis; als Islamisten Stimmen bekommen, Bekämpfung des radikalen Islamismus: Die Ennahda-Partei wird neutralisiert, zehntausende militante Islamisten verhaftet.

1994 – Während des Wahlkampfes Verhaftung politischer Dissidenten.

1996, Jan – Freihandelsabkommen mit der EU.

1999, Nov – Erste pluralistische Wahlen, dennoch 89% für Ben Ali.

2002, Apr – Verfassungsänderung stärkt den Machtumfang des Präsidenten weiter, u.a. Höchstalter 75 Jahre, strafrechtliche Immunität [o].

2004, Jul – Human Rights Watch berichtet von 500 politischen Gefangenen [o].

Die Revolution

17.12.10 – Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid (ca. 250km südlich von Tunis) [o o]. Es folgen Proteste in der Stadt, die sich schnell ausbreiten.

20.12.10 – Entwicklungsminister Al Nouri Al Juwayni verspricht in Sidi Bouzid ein neues 10-Mio-$-Beschäftigungsprogramm. Die Proteste gehen weiter. [o]

22.12.10 – Bei einer Demonstration in Sidi Bouzid tötet sich der 22j. Houcine Falhi durch ein Stromkabel, während er ruft: „Nein zum Elend, nein zur Arbeitslosigkeit!“ [o].

24.12.10 – Bei gewalttätigen Protesten in Menzel Bouzaiene wird der 18j. Mohamed Ammari erschossen. Weitere Zusammenstöße gibt es in al-Ragab und Miknassi [o].

25.12.10 – Die Proteste breiten sich aus auf Kairouan, Sfax und Ben Guerdane [o].

27.12.10 – Auch in Tunis protestieren 1.000 Menschen für mehr Arbeit [o].

28.12.10 – Ben Ali warnt in TV-Ansprache, das Gesetz werde „in aller Schärfe“ gegen gewalttätige Demonstranten angewandt; zwei Oppositionszeitungen, die berichtet hatten, müssen ihr Erscheinen einstellen [o] – Drei Provinzgouverneure und drei Minister werden entlassen [o]. – Solidaritätskundgebung von 300 Anwälten nahe dem Präsidentenpalast, einige Verhaftungen, mindestens ein Anwalt wird gefoltert [o].

31.12.10 – Die Polizei geht gewaltsam gegen mehrere Proteste von Anwälten vor [o].

03.01.11 – In Thala nach Tränengas-Einsatz gewaltsame Proteste von ca. 250 Studenten [o].

06.01.11 – Beginn eines landesweiten Anwaltstreiks als Reaktion auf die gewaltsame Auflösung von Sit-ins von Anwälten in Tunis und anderen Städten [o].

07.01.11 – Selbstverbrennung eines Mannes in Kasserine intensiviert die Proteste [o].

09.01.11 – Nach offiziellen Angaben starben in Regueb und der Provinz Kasserine bei gewalttätigen Protesten sechs Zivilisten [o]. Laut einem Gewerkschaftssprecher starben in Thala bei Protesten fünf Menschen, nach einem Augenzeugenbericht ein 12j. Kind durch einen Kopfschuss. In Kasserine wurden mind. drei Menschen beim Sturm auf ein öffentliches Gebäude erschossen [o]. Offizielle Berichte sprechen von insgesamt 23 Toten, eine Menschenrechtsorganisation nennt sogar 50 Namen [o].

10.01.11 – Schließung von Schulen und Universitäten. Ben Ali verspricht 300.000 neue Arbeitsplätze für Jugendliche bis Ende 2012, nennt die Unruhen „terroristische Akte“ [o o] und lässt die Armee vor öffentlichen Gebäuden stationieren [o]. –  Weitere Unruhen u.a. in Thala, Hafouz, Rgueb, Kasserine; allein in Kasserine gibt es nach Oppositionsangaben 49 Tote [o o]. – Die Lehrer bereiten Protestdemonstrationen vor und verlangen ein „Ende der Repression“ [o].

11.01.11 – Am Abend erreichen die Proteste u.a. Tunis’ Vorstadt Ettadhamoun [o], erstmals werden Bilder von Ben Ali verbrannt, der Verzicht bei den nächsten Wahlen gefordert [o]. – Frankreichs Außenministerin Alliot-Marie bietet die Hilfe französischer Sicherheitskräfte an [o]. Kultusminister Frédéric Mitterrand sagte noch im Dezember, Tunesien eine Diktatur zu nennen, sei „vollkommen übertrieben“ [o].

12.01.11 – Bürgerkriegsähnliche Zustände in mehreren Städten nördlich von Tunis: Belagerung durch Polizei und Militär, Schüsse, brennende Barrikaden und öffentliche Gebäude [o]. – Ministerpräsident Ghannouchi kündigt die Freilassung aller Verhafteten, die Entlassung von Innenminister Belhaj Kacem und einen Korruptions-Untersuchungsausschuss an [o]. – In Tunis Panzer und Soldaten an großen Kreuzungen und nächtliche Ausgangssperre [o], dennoch Proteste in mehreren Armenvierteln [o]. – Gerüchten zufolge wurde Generalstabschef Ammar entlassen, weil er sich geweigert haben soll, die Proteste mit massiver Gewalt unterdrücken zu lassen [o]. – Ben Alis Frau Leïla flüchtet mit 1,5 t Gold (45 Mio €) von der Zentralbank nach Dubai [o o] und lässt sich dorthin weitere 400 Mio € überweisen [o]. – UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigt sich besorgt über die Eskalation der Gewalt und betont den Wert der Redefreiheit; die EU fordert die Freilassung der verhafteten Demonstranten [o]. EU-Außenbeauftragte Ashton fordert eine gerichtliche Untersuchung [o].

13.01.11 – Am Abend TV-Ansprache Ben Alis: Altersgrenze für Präsidentschaftskandidaten bleibt 75 (= indirekter Verzicht auf die Kandidatur), Senkung der Grundnahrungsmittelpreise, Öffnung des politischen Systems und Lockerung der Internetzensur. Er beschuldigt „kriminelle Banden“, die Unruhen angefacht zu haben, und wirft seinen Gefolgsleuten vor, ihn hintergangen zu haben [o]. Danach sind mehrere Internetseiten wie YouTube wieder verfügbar [o].

14.01.11 – In Tunis protestieren Zehntausende für einen Rücktritt Ben Alis, mind. 5.000 versammeln sich vor dem Innenministerium [o]. Nach Versuchen von Demonstranten, das Gebäude zu stürmen, setzt die Polizei Tränengas ein [o], Zivilpolizei schlägt mit Stöcken auf Demonstranten ein [o]. – Nachrichtenagentur TAP: Ben Ali kündigt Auflösung der Regierung und Neuwahlen in sechs Monaten an, Ausnahmezustand mit landesweiter Ausgangssperre [o]. – Flucht Ben Alis: Am Abend erklärt Ghannouchi, er werde als Übergangspräsident fungieren, Ben Ali sei derzeit nicht in der Lage, sein Amt auszuüben [o].

Nach Ben Alis Flucht

15.01.11 – Nachts landet Ben Ali in Saudi-Arabien, nachdem ihm eine Landeerlaubnis in Lyon (F) verweigert wurde, da in Frankreich 600.000 Tunesier leben [o]. Nach Demonstrationen tausender Tunesier in Paris, Marseille u.a. heißt es sogar, man habe nie die Absicht gehabt, Ben Ali und seinen Clan einreisen zu lassen [o]. – Der Verfassungsrat ernennt Fouad Mebazaâ zum Übergangspräsidenten, der Ghannouchi mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt [o]. – In Tunis Plünderungen und Schüsse aus Autos auf Passanten [o].

16.01.11 – Nachts am Präsidentenpalast Kämpfe zwischen Armee und Ben Alis Leibgarde [o]. – UNESCO-Botschafter Haddad wirft Ben Ali vor, seinen Anhängern Waffen und viel Geld gegeben zu haben, um nach seiner Flucht einen Bürgerkrieg zu provozieren [o]. – Nach Verhandlungen mit den größten, zuvor schon zugelassenen Oppositionsparteien wird am Abend die Ernennung einer Übergangsregierung angekündigt. – Ben Alis Sicherheitschef Seriati und einige Mitarbeiter werden verhaftet und beschuldigt, einen Putsch gegen die Übergangsregierung geplant und Gewaltakte angestiftet zu haben; ebenso Ben Alis Neffe Kais u.a., die aus Polizeifahrzeugen auf Demonstranten geschossen haben sollen [o]. – Die Einheitsgewerkschaft UGTT ruft zur Gründung von Bürgerwehren gegen Plünderer und Gewalttäter auf [o]. – In Lybien bedauert Gaddafi den Rücktritt, es gebe keinen besseren Staatschef als ihn.

17.01.11 – Nach einer unruhigen Nacht weitere Proteste gegen die Regierungspartei RCD; Sicherheitskräfte benutzen Wasserwerfer und Warnschüsse [o]. – Ghannouchi teilt mit, dass die früheren Minister für Verteidigung, Äußeres, Inneres und Finanzen in der neuen „Regierung der Nationalen Einheit“ im Amt bleiben [o]. – Augenzeugen berichten von Plünderungen und verschärften Kontrollen des Militärs [o]. – Die Sozialistische Internationale schließt die RCD aus [o]. – Zwei Selbstverbrennungen in Ägypten lösen auch dort Proteste aus. – Eine Sprecherin von Ashton bietet EU-Hilfe bei Neuwahlen an [o].

18.01.11 – Zwei Minister und zwei Staatssekretäre der UGTT treten aus der Übergangsregierung aus und fordern die Bildung einer „ehrenhaften Regierung“, auch das einzige Regierungsmitglied der FDLT tritt zurück [o]. – Mittags demonstriert der 20 Jahre lang inhaftierte Sadok Chourou, ein Führer der islamistischen Bewegung Ennahda, mit einigen Tausend Personen gegen die neue Regierung [o]. – Auch in den Provinzen gibt es Proteste gegen die RCD und den Verbleib alter Minister [o]. – Zwei weitere frühere Oppositionsparteien drohen, die Übergangsregierung zu verlassen [o]. – Mebazaâ und Ghannouchi verlassen die RCD, die sich ihrerseits von zahlreichen prominenten Mitgliedern aus dem verhassten Trabelsi-Clan (von Ben Alis Frau) trennt [o]. – Arabische Herrscher weiten ihre Sozialausgaben aus [o]. – Auf die Frage von Journalisten, ob die ägyptische Führung wegen der sozialen Probleme möglicherweise bald das gleiche Schicksal erleiden könnte wie Ben Ali, antwortet Außenminister Abul Gheit gereizt: „Das sind doch nur leere Worte.“ [o].

19.01.11 – Die Übergangsregierung entlässt 1.800 Häftlinge und kündigt ein Amnestiegesetz für politische Gefangene an [o]. – Drei Parteien der Opposition wurden in den letzten Tagen legalisiert: Tunisie Verte (Grüne Politik), Parti socialiste de gauche, Parti du travail patriotique et démocratique tunisien [o]. – 33 Angehörige von Ben Ali wurden festgenommen [o]. – Der Schweizer Bundesrat lässt Konten von Ben Ali und seinem Umfeld sperren [o].

20.01.11 – Nach Forderungen der Opposition und Demonstranten treten auch die übrigen Minister aus der RCD aus [o]. – Erste Sitzung der Übergangsregierung: Dreitägige Staatstrauer, Generalamnestie für politische Häftlinge, drei nationale Kommissionen (politische Reformen, Korruptionsaufklärung); der Staat übernimmt das Eigentum der RCD [o]. – Das tunesische Online-Portal Business News berichtete, dass es sich bei der früheren Meldung, Leïla Ben Ali hätte 1,5 t Gold mitgenommen, um ein Missverständnis handele, da ca. 1,4 t bei der Bank von England lagern [o].

21.01.11 – Hunderte protestieren vor dem RCD-Hauptquartier für den Rücktritt der alten Minister [o]. – Nach Berichten wirkt der Staatssekretär für Jugend und Sport, Slim Amamou, mit dem zuständigen Innenminister darauf hin, die Internetzensur abzuschalten und einen freieren Zugang zu den Angeboten im Internet zu ermöglichen [o].

Weitere Proteste für den radikalen Wechsel

22.01.11 – Weiterhin demonstrieren Tausende für den Rücktritt der bisherigen Minister. Hunderte beginnen von Menzel Bouzaiane über Sidi Bouzid einen Marsch auf Tunis, „Karawane der Befreiung“ [o]. – Ghannouchi verspricht im TV, während der Übergangszeit alle undemokratischen Gesetze auszusetzen und kündigt seinen Rückzug nach den Parlamentswahlen an [o]. – EU-Außenbeauftragte Ashton kündigt eine Unterstützung von Wahlen und die Förderung einer unabhängigen Justiz durch die EU an [o].

23.01.11 – Eine unabhängige Kommission soll das Verhalten der Sicherheitskräfte in den letzten Wochen untersuchen. Nach UN-Angaben gab es 117 Tote, davon 70 erschossen. Die Zollbehörde kündigt an, dass für den Import ausländischer Medien keine Erlaubnis mehr notwendig sei.

24.01.11 – Sarkozy scheinheilig: „Frankreich hat das Ausmaß der Verzweiflung der Tunesier unterschätzt. Wenn man sich so nahe ist, hat man nicht immer den nötigen Abstand, um die Gefühle des Anderen richtig zu verstehen.“ [o]

25.01.11 – Entwicklungsminister Chebbi: Notprogramm von 260 Mio € für Bürger der Gouvernorate Sidi Bouzid, Kasserine und Gafsa im Landesinneren [o]. – Weitere Zensur: Bei gesperrten Websites erscheint nur eine Beschwerde-E-Mail (contact@web-liberte.tn), auch der Sender Hannibal TV fällt weiter aus [o].

26.01.11 – Internationaler Haftbefehl gegen Ben Ali, Ehefrau Leïla und einige engste Mitarbeiter [o].

27.01.11 – Die früheren Minister treten zurück [o].

28.01.11 – Exklusiv-Interview von Außenminister Ounaïes für die Berliner Orient-Zeitschrift zenith [o].

30.01.11 – Islamistenführer Raschid al-Ghannuschi kehrt nach 20j. Londoner Exil zurück; er soll für einen gemäßigtem Islamismus stehen und führt die Gruppe al-Nahda (Ennahda) an [o].

04.02.11 – Alle Gouverneure der 24 Regionen werden ausgetauscht [o]. – Der Ministerrat verabschiedet mehrere internationale Konventionen und Protokolle, v.a. in Bezug auf Todesstrafe, Folter und Schutz gegen unbekanntes Verschwinden [o].

05.02.11 – Innenministerium: Zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ alle RCD-Büros geschlossen, Versammlungen der Partei ab sofort verboten [o].

06.02.11 – Verbot der bisherigen Staatspartei RCD [o]. – Es wird bekannt, dass Alliot-Marie (F) während ihrer Tunesienferien zum Jahreswechsel zweimal (nicht einmal) mit dem Privatjet des befreundeten Tourismus-Unternehmers Aziz Miled, der dem Ben Ali-Clan nahestehen soll, geflogen sei [o o].

13.02.11 – Italien verhängt nach Ankunft von 5.000 Flüchtlingen über die Insel Lampedusa den Notstand und will eigene Polizisten nach Tunesien schicken, was Tunesien jedoch kategorisch ablehnt [o o]. – Außenminister Ounaïes tritt zurück, u.a. wegen Kritik an seiner Bezeichnung von Alliot-Marie (F) als „Freundin Tunesiens“ [o].

18.02.11: Ghannouchi kündigt im TV die Entlassung alle politischen Gefangenen zum Wochenende an.

25.02.11 – Hunderttausende fordern Ghannouchis Rücktritt und Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung statt der eingesetzten Kommission [o].

26.02.11 – Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrationen, drei Tote [o].

27.02.11 – Rücktritt Ghannouchis, Nachfolger ist Béji Caïd Essebsi [o o].

28.02.11 – Auch gegen Essebsi regt sich Protest. – Die zwei letzten Alt-Minister treten zurück [o].

01.03.11 – Weitere drei Minister treten zurück [o].

03.03.11 – Staatspräsident Mebazaâ: Am 24.7. Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung [o].

07.03.11 – Der Innenminister kündigt die Auflösung der Staatssicherheit an [o]. – Essebsi gibt die neue Regierung bekannt [o].

09.03.11 – Ein Gericht in Tunis entscheidet die Auflösung der RCD und die Beschlagnahmung des Vermögens [o].

Hintergründe

Menschenrechte und Politik


Der Präsident der algerischen Menschenrechtsliga, Mostefa Bouchachi [o]:

„Diejenigen, die jetzt revoltieren, sind die Kinder des Ausnahmezustandes, der seit 19 Jahren hier herrscht und der jegliche Aktivität von Politik und Zivilgesellschaft unterbindet. ... Die Haltung des Westens ist inakzeptabel. Menschenrechte werden selektiv eingefordert. Während der Fall Iran ständig an der Tagesordnung ist, verschließt man gegenüber den Diktaturen im Maghreb die Augen.“


Abweichend davon erläutert die Europaabgeordnete Sylvie Goulard im Interview [o], dass die EU ihre Vertragsbeziehungen „stets an bestimmte politische Bedingungen geknüpft“ habe und damit „weitaus weniger zynisch als einige Mitgliedstaaten“ wie Frankreich oder Italien gewesen sei. Sarkozy hat noch zwei Jahre zuvor für eine gemeinsame Mittelmeerunion geworben, was Merkel verhinderte. Auf einem Mittelmeer-Gipfel hofierte Sarkozy Ben Ali, Gaddafi und andere Diktatoren. Im Zuge der EU-Mittelmeerstrategie wurden dagegen nicht nur Wirtschafts- und Handelsbeziehungen fortentwickelt, sondern auch demokratische Strukturen gefördert:

Als 1995 in Barcelona die Mittelmeerpolitik aus der Taufe gehoben wurde, legte die EU großen Wert auf die Förderung des politischen Dialogs, der Zivilgesellschaft – mit Vereinen, Verbänden, Menschenrechtsgruppen. Das hat stattgefunden - und viel mehr bewegt als Gipfeltreffen, bei denen man mit nicht demokratisch gewählten, korrupten Potentaten zusammentrifft. Auch die erleichterte Erteilung von Visa für Studenten, die gezielte Förderung von Frauenrechtsvereinen oder von Umwelt- oder Wasser-Projekten haben wertvolle Beiträge geleistet. Über solche Dinge liest und hört man wenig; aber sie bewegen wirklich etwas.

 

Ein Grund für die Armut

Wirtschaftlich stehen viele dieser Staaten seit den 1980er Jahren unter dem Diktat von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Deren Programme zwingen die Regierungen zum Abbau von Subventionen, was die armen Bevölkerungsschichten in noch größere Armut treibt, die frühere Mittelschicht eingeschlossen. Privatisierung und Ausrichtung lokaler Märkte auf „Weltmarktniveau“ oder „soziale Marktwirtschaft“ zerstören lokale und regionale Produktion und Wirtschaftsstrukturen, was vor allem im landwirtschaftlichen Bereich zu verfolgen ist. Als Standorte im Billiglohnsektor für internationale Firmen haben sich von Syrien bis Marokko fast alle arabischen Staaten angedient. Ausländische Produkte überschwemmen im Gegenzug lokale Märkte, während einheimische Produzenten immer weniger verkaufen können. So gibt es Bananen aus Südamerika, Hühnchen aus Brasilien und Erdnußbutter aus England, doch Obst und Gemüse aus der Region müssen weit unter Preis verkauft werden, um noch einen Abnehmer zu finden. Und werden Säfte oder Milchprodukte mal in der Region hergestellt, wie zum Beispiel in Saudi-Arabien, dann meist für internationale Konzerne wie Nestlé oder Coca-Cola. Rapide Steuererhöhungen auf Treibstoff treiben Transportkosten in die Höhe, so daß es sich für Bauern kaum noch lohnt, ihre Produkte auf die städtischen Märkte zu bringen. Nicht nur in Ägypten ist die daraus resultierende Landflucht in den Armenvierteln um Kairo erkennbar, ähnliche Entwicklungen gibt es in allen Großstädten der Region. Soziale Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, Transportmittel, Strom- und Wasserversorgung sind in ländlichen Gebieten völlig unzureichend, von Arbeitsplätzen ganz zu schweigen. Menschen in der Provinz fühlen sich von ihren Regierungen verlassen.
junge Welt, 19.1.2011 [o]

Einige grundlegende Hintergrund-Aufsätze

  • Sautter, Claudia: „Repression im Touristenland“. FR, 8.5.2001. [o]
  • Bensedrin, Sihem / Mestiri, Omar: Auch Europa hält sich seine Despoten: Das tunesische Modell. Inamo Nr. 41, Frühjahr 2005
  • Moderbacher, Christine: Vom „tunesischen Wunder“. In Tunesien werden junge Menschen verhaftet, gefoltert und schikaniert. Südwind-Magazin, 10/2007. [o]
  • Wandler, Reiner: „Die EU ist Komplize des Regimes“. Oppositionelle über die Lage in Tunesien. taz, 11.1.2011. [o]
  • Bergius, Michael: Ben Ali wurde von Sarkozy hofiert. FR, 18.1.2001. [o]
  • Schubert, Christian: Umdeutungen und Selbstkritik. Französisch-tunesische Beziehungen. FAZ.net, 19.1.2011. [o]
  • Leukefeld, Karin: Unter westlichem Diktat. junge Welt, 19.1.2011. [o]
  • Altmann, Claudia: Ben Ali ist weg, doch Demokratie noch nicht da. ND, 4.2.2011. [o]