Der Fiskalpakt – Selbstmord Europas durch Strangulierung
Eine Fortsetzung zu meinem Grundlagenwerk „Zeit der Entscheidung“, Band I: Die Krise.
Inhalt
Einleitung
Ökonomischer Wahnsinn
Die Perversion des Sozialen
Völlige Auslöschung der Demokratie
Der ESM-Vertrag
Gigantische Zahlen
Zeitleiste einer Katastrophe
Ausblick
Einleitung
Man kann es in einem Satz sagen:
Erst haben die EU-Staaten in der Finanzkrise 1.600 Milliarden Euro ausgegeben, um die Banken zu retten – nun werden sie von Banken und anderen Spekulanten wegen der „hohen Staatsverschuldung“ in die Krise spekuliert und zwingen sich selbst zu harten Sparmaßnahmen, diesmal natürlich zu Lasten der „unteren 90 Prozent“.
An dieser Stelle muss betont werden: Noch weiß kaum ein Bruchteil der Menschen, was es mit dem „Fiskalpakt“ eigentlich auf sich hat – und doch wird er ganz Europa in wenigen Jahren in Not und Elend treiben.
Das aber ist das Ungeheuerliche: Dass die Gesellschaften der einzelnen europäischen Länder eigentlich in allgemeinem Wohlstand leben könnten, wenn dieser real existierende Wohlstand gerecht verteilt wäre; dass aber die reichen Banken und Spekulanten erst sich selbst in die Krise stürzten (indem sie sich in ihrer Gier verspekulierten), dann von den Regierungen bzw. der Allgemeinheit gerettet wurden – und nun mit der daraus resultierenden Überschuldung und Not der Staaten wiederum Geschäfte machen!
Und die Regierungen lassen es zu, dass Spekulanten ganze Staaten ins Elend spekulieren können, um selbst leistungslose Einkommen zu erzielen! Und während die Staaten hörig erdulden, was „die Märkte sagen“, bestrafen sie sich gegenseitig, indem sie sich härteste, vollkommen unrealistische „Sparmaßnahmen“ auferlegen.
Das ist, wie wenn ein unglaublich reicher Raubmörder bei einem seiner vielen Raubzüge endlich einmal gestürzt wäre; die Gemeinschaft jedoch hilft ihm unter Aufbietung all ihres eigenen Vermögens! Der Raubmörder aber fährt fort, sein finsteres Werk zu vollziehen und die Gemeinschaft zu berauben! Und diese beginnt nun freiwillig, sich alles zu versagen und sich mit Gewalt ins Elend zu sparen (wobei die am stärksten beraubten Mitglieder der Gemeinschaft sogar am härtesten bestraft werden), anstatt das Drama zu durchschauen und zu beenden...!
Völlig widersinnig kann Merkel heute öffentlich ungefährdet sagen, die Krise könne nur überwunden werden, wenn an der Wurzel angesetzt werde – nämlich an der massiven Verschuldung (Spiegel, 14.6.2012 o). Die Verschuldung ist aber gerade nicht die Wurzel, sondern ein Resultat, ein Symptom! Die Wurzel sind die Ursachen der Verschuldung, was sonst? Und diese Wurzel wird gerade nicht angegangen, sondern man wird nun das Symptom bekämpfen – mit irrsinnigen Gewaltkuren, die den Patienten umbringen werden...
In meinem umfassenden zweibändigen Werk „Zeit der Entscheidung“ habe ich diese ganze ungeheuerliche Entwicklung mit all ihren Hintergründen in Band I akribisch dokumentiert und nachgezeichnet. Meine Aufzeichnungen reichen bis zur Drucklegung Ende Oktober 2011 und umfassen also den Euro-Plus-Pakt, die griechische Tragödie, die Anzeichen einer erneuten Bankenkrise, das Aufkommen der Occupy-Bewegung
Der Fiskalpakt hatte sich mit dem Euro-Plus-Pakt schon angedeutet und ist nur der nächste Schritt in der „Logik“ der von aller Vernunft verlassenen Ereignisse bzw. führenden Politiker.
Ökonomischer Wahnsinn
Wie erwähnt, haben die Staaten allein in den Jahren 2008 bis 2010 die gigantische Summe von 1.600 Milliarden Euro verwendet, um die Banken aus ihrer selbst verschuldeten Krise zu retten und die volkswirtschaftlichen Folgen der „Finanzkrise“ aufzufangen [o].
Verschiedenste Fachleute haben darauf hingewiesen, dass die „Staatsschulden“, um die es jetzt fortwährend geht, nur durch diese Bankenrettungen so exorbitant gestiegen sind. Sehr gute Grafiken bringen z.B. die NachDenkSeiten in einem Beitrag vom 11.4.2012 [o].
In Deutschland stiegen die Staatsschulden 2007-2010 von 65% auf über 83% des Bruttoinlandsproduktes! Dies entspricht ziemlich genau auch dem Durchschnitt in der Eurozone insgesamt. Das heißt: Durch die „Rettungsschirme“ für die Banken wurde die Höhe der Staatsverschuldungen aus einem noch erträglichen Rahmen in völlig desolate Höhen getrieben!
Die NachDenkSeiten werden auch nicht müde, sehr fundiert darauf hinzuweisen, dass Länder wie Spanien oder Italien bis zur Bankenrettung sehr solide Staatshaushalte hatten, die den deutschen Verhältnissen kaum nachstanden, und dass jedes „Sparen“ in Krisenzeiten ökonomischer Selbstmord ist (siehe z.B.: „Fiskalpakt: Selbstmord aus Angst vor dem Tod“, 7.3.2012 o).
In einem größeren Rahmen betrachtet, betreibt Deutschland diesen Selbstmord schon seit Jahren – denn ausgerechnet in diesem reichsten Land Europas hat sich der Niedriglohnsektor massiver ausgebreitet als irgendwo sonst! Das bedeutet wiederum nichts anderes, als dass der real existierende Wohlstand sich auf immer weniger Menschen konzentriert!
Interessanterweise hängt die neue Armut und das Wegbrechen der Mittelschicht in Deutschland unmittelbar mit der Tragödie in Griechenland zusammen. Denn dass Deutschland jedes Jahr wieder „Exportweltmeister“ wird, beruht darauf, dass es (im Verhältnis zwischen Lohn und Produktivität) binnenwirtschaftlich längst zum Niedriglohnland geworden ist! Gerade damit aber konkurriert es Länder wie Griechenland in Grund und Boden und ist unmittelbar für das enorme Defizit Griechenlands und anderer Staaten verantwortlich. Mit anderen Worten: Die ins Elend gestürzten Griechen und die verarmenden deutschen Bürger sitzen in demselben Boot.
Die unsäglichen (un)sozialen Verhältnisse in Deutschland haben einen Namen: Gerhard Schröder. Er trägt die Verantwortung für die Einführung von Hartz IV und prahlte auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos 2005 öffentlich, dass Deutschland „einen der besten Niedriglohnsektoren“ in ganz Europa aufgebaut habe. Des weiteren ist Schröder für eine ungeheure „Steuerreform“ verantwortlich, die die Einkommen noch massiver als je von Arm nach Reich umverteilt.
Die völlige Verarmung Europas innerhalb weniger Jahre wird ebenfalls einen Namen tragen: Angela Merkel. Sie trägt die Verantwortung für die Tragödie Griechenlands – denn sie zögerte entschlossenes politisches Handeln gegen die Spekulation der „Märkte“ endlose Monate hinaus, schob in unsäglichen Verlautbarungen den angeblich „faulen Griechen“ die Schuld zu und ermöglichte so erst das Aufflammen des Brandes, der inzwischen auch auf Spanien übergegriffen hat. Und nun trägt sie die Verantwortung für den ökonomisch völlig irrsinnigen „Sparkurs“, in den sie ganz Europa hineinzwingt – unterstützt vom mittlerweile abgewählten Sarkozy.
Die Perversion des Sozialen
Wie kann die führende politische und wirtschaftswissenschaftliche Kaste nur mit einer so kollektiven ökonomischen Blindheit geschlagen sein? Und wie kann man – eigentlich noch schlimmer – die „Märkte“, die nachweislich fast nur noch spekulativen Zwecken und nicht mehr der Realwirtschaft dienen, sondern diese geradezu zerstören – regelrecht zum Gott und zum goldenen Kalb erheben, vor dem man sich lieber niederwirft (in die reale Armut stürzt), statt sie auch nur durch die leiseste Regulierung anzutasten!?
Unter Hitler hieß es: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“. Heute heißt es: „Das Allgemeinwohl ist nichts, die Märkte sind alles.“ Das spricht man nicht wörtlich so aus, aber entscheidend sind ohnehin nicht die Worte, sondern die realen Taten und Entwicklungen. Ist aber das Allgemeinwohl nichts wert, geht der Einzelne erst recht unter – individuelle Freiheit gibt es real nur für das Kapital (es sei denn, man erklärt Arme und sogar Obdachlose für frei...).
Frei ist heute wirklich nur das Kapital. Die Märkte und das Kapital sind frei, mit den Menschen zu tun und zu lassen, was sie wollen. Sie können Zehntausende von Menschen entlassen, sie können ganze Volkswirtschaften ins Elend spekulieren – das ist ja die Freiheit und auch das Recht des Kapitals... Die Menschen müssen sich fügen. Ist man aufgrund der Entscheidungen des Kapitals und der Logik der Märkte arbeitslos geworden, hat man sich vor dem Arbeitsmarktgericht zu verantworten (heute „Jobcenter“ genannt). Um nicht als arbeitsunwillig zu erscheinen – als unwillig, dem Kapital zu dienen –, hat man jede, aber auch jede Arbeit anzunehmen.
Das Kapital ist der Cäsar der heutigen Zeit, und des Menschen Arbeitskraft ist das, was dem Cäsar gehört. Sofern der Mensch es vermag, darf er seine Seele noch sein eigen nennen – seine Arbeitskraft gehört dem Kapital. Und wenn das Kapital ihn an der einen Stelle in den Staub stößt, muss er an einer anderen Stelle niederknien und erneut dienen – bis er von neuem als „nicht mehr rentabel“ erachtet wird und sich wiederum an anderen Orten verkaufen muss... Und immer wird ihm eingeredet, dass er für sein Schicksal selbst verantwortlich ist. Zugleich aber vor allem immer wieder dieses eine: Du bist nichts, das Kapital ist alles...
Per-version heißt Ver-kehrung. Wir erleben heute eine völlige Ver-kehrung aller Verhältnisse in das perverse Gegenteil dessen, was allein menschlich wäre. Wie kann es sein, dass nicht der Mensch das Maß der Dinge ist und das von ihm Geschaffene ihm selbst dient – sondern dass letzteres sich den Menschen unterwirft? Das Kapital fordert den dienenden Menschen. Und der Mensch wird zum Sklaven des Kapitals. Wie kann das sein? Nur dadurch, dass es wiederum Menschen sind, die ein Interesse an diesen Verhältnissen haben und sie aufrechterhalten, ja fördern. Es sind Menschen, die ein Interesse am Sklaventum der heutigen Zeit haben, durch das sie sich bereichern können – auf Kosten anderer Menschen, auf Kosten von Elend und individuellen Schicksalen...
Völlige Auslöschung der Demokratie
Im Grunde bedeutet schon die Freiheit des Kapitals und die ihr entsprechende Unterwerfung des Menschen das Ende der Demokratie. Da, wo die Freiheit des Kapitals herrscht, steht die Freiheit des Einzelnen nur auf dem Papier – im Kapitalismus (Herrschaft des Geldes) sind immer einige gleicher als gleich.
Wir leben in einer Scheindemokratie, wo die Wahlen alle vier Jahre nur noch eine winzige Szene in einem absurden Theater sind. Doch der Fiskalpakt steigert dies noch. Denn mit ihm unterwerfen sich die Staaten freiwillig einem Diktat, das Parlament entledigt sich der Hoheit über den Staatshaushalt.
Diese „Budgethoheit“ der Volksvertreter war bisher derart heilig, dass mit ihr sogar die direkte Demokratie ausgehebelt wurde. So erklärte z.B. der Berliner Senat im Sommer 2008 das Kita-Volksbegehren für unzulässig, weil es in das Budgetrecht des Parlaments eingreife. Für Kitas will man keine Millionen ausgeben, für Banken sind aber plötzlich Milliarden vorhanden... Doch was der Bürger nicht darf – EU-Bürokraten dürfen es. Künftig liegt die Budgethoheit der Staaten in den Händen der EU-Kommission, die beurteilt, ob ein Staat sich an die Sparvorgaben hält oder nicht.
Diese Beschränkung der Budget-Souveränität einzelner Staaten wird für alle Ewigkeit zementiert werden. Merkel sagte auf der Pressekonferenz vom 30.1.2012 [o]:
„Was ist das Wichtige? Das Wichtige ist, dass Schuldenbremsen in jede nationale Verfassung oder so in die Rechtssetzung eingeführt werden, dass sie bindend und ewig für die Verabschiedung von Budgets geltend sind.“
Die „Schuldenbremse“ besagt, dass die Neuverschuldung bei maximal 0,5% des BIP liegen darf. Bei deutlichen Abweichungen gibt es ein Defizitverfahren, in dessen Verlauf die Staaten der EU-Kommission detaillierte Strukturreformen zur Genehmigung vorliegen müssen. Eine Staatsverschuldung über 60% des BIP muss jährlich um 5% verringert werden. Bei Verstoß gegen den Vertrag wird ein Staat vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt und muss bis Sanktionszahlungen von bis zu 0,1% des BIP an den „Europäischen Stabilisierungsmechanismus“ ESM leisten.
Gleichzeitig wird mit dem ESM („Eurorettungsschirm“) ein gigantisches Instrument geschaffen, mit dem die Staaten wechselseitig für ihre von den Finanzmärkten verursachten Schulden haften und sich gegenseitig finanzieren, wenn die „von den Märkte geforderten“ Staatsanleihezinsen in untragbare Höhen schießen. Also nicht die Spekulation wird bekämpft oder beendet, sondern die Staaten wollen sich gegenseitig unterstützen, wenn sie (nacheinander) den Spekulanten zum Opfer gefallen sind...
Auch diese ungeheure Veränderung, ja Umstürzung der gesamten bisherigen Politik erfolgte gleichsam im Handstreich. Bisher nämlich verbot Artikel 125 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ diese Haftung ausdrücklich. Und noch am 22.7.2011 sagte Merkel [o]: „Eine Transferunion ... darf es nach meiner Überzeugung nicht geben.“ Es sei nochmals betont, dass gerade ihre langwährende Verweigerungshaltung die durch Spekulationen genährte Krise immer weiter eskalieren ließ! Doch schon im Dezember 2010 einigte sich der Europäische Rat auf einen ergänzenden Absatz 3 in Artikel 136:
„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
Also beides: Eine Haftungs- und letztlich damit auch Transferunion, zugleich aber eine „Schuldenbremse“. Wie lange dies gut gehen soll, bevor das System explodiert bzw. implodiert, kann niemand voraussagen. Experten sagen eine mögliche Katastrophe innerhalb von zwei, drei Jahren voraus [o].
Und man muss es wiederholen: Nur wegen den finsteren Möglichkeiten der Spekulation!
Der ESM-Vertrag
Der am 2.3.2012 unterzeichnete ESM-Vertrag [o] ist die Grundlage für gegenseitige Hilfen aus dem zunächst auf 700 Milliarden Euro angelegten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“. Gesteuert wird der ESM von einem Gouverneursrat (führende Finanzpolitiker der einzelnen Staaten). Die Regelungen des ESM-Vertrages sind gespenstisch [Kurzfilm]:
Artikel 32 – Rechtsstatus, Vorrechte und Befreiungen
(3) Der ESM, sein Eigentum, seine Mittelausstattung und seine Vermögenswerte genießen unabhängig davon, wo und in wessen Besitz sie sich befinden, Immunität von gerichtlichen Verfahren jeder Art [...]
(8) Soweit dies zur Durchführung der in diesem Vertrag vorgesehenen Tätigkeiten notwendig ist, sind das gesamte Eigentum, die gesamte Mittelausstattung und alle Vermögenswerte des ESM von Beschränkungen, Verwaltungsvorschriften, Kontrollen und Moratorien jeder Art befreit.
Artikel 35: Persönliche Immunitäten
(1) Im Interesse des ESM genießen [...] [alle] Bediensteten des ESM Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen und Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer amtlichen Schriftstücke und Unterlagen.
Mit dieser Machtfülle ausgestattet, verwaltet der Gouverneursrat dann das Kapital:
Artikel 9 – Kapitalabrufe
(1) Der Gouverneursrat kann genehmigtes nicht eingezahltes Kapital jederzeit abrufen und den ESM-Mitgliedern eine angemessene Frist für dessen Einzahlung setzen. [...]
(3) Der Geschäftsführende Direktor ruft genehmigtes nicht eingezahltes Kapital rechtzeitig ab, falls dies notwendig ist, damit der ESM bei planmäßigen oder sonstigen fälligen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gläubigern des ESM nicht in Verzug gerät. [...] Die ESM-Mitglieder verpflichten sich unwiderruflich und uneingeschränkt, Kapital, das der Geschäftsführende Direktor gemäß diesem Absatz von ihnen abruft, innerhalb von sieben Tagen ab Erhalt der Aufforderung einzuzahlen.
Artikel 10 – Veränderungen des genehmigten Stammkapitals
(1) Der Gouverneursrat überprüft das maximale Darlehensvolumen und die Angemessenheit des genehmigten Stammkapitals des ESM regelmäßig, mindestens jedoch alle fünf Jahre. Er kann beschließen, das genehmigte Stammkapital zu verändern [...].
Das Bundesverfassungsgericht
Die Auslöschung der Demokratie zeigt sich auch an folgenden Phänomenen: Als das Bundesverfassungsgericht Bundespräsident Gauck bat, den anstehenden ESM-Vertrag zunächst nicht zu unterzeichnen, um die Verfassungsmäßigkeit noch überprüfen zu können, kommentierte Bundesfinanzminister Schäuble dies abschätzig [o]:
„Ich glaube nicht, dass es klug ist, wenn die Verfassungsorgane öffentlich miteinander kommunizieren.“
Es soll also definitiv alles intransparent und hinter den Kulissen vor sich gehen!
Währenddessen will ein Bündnis von „Mehr Demokratie“, dem Bund der Steuerzahler und einigen anderen Vereinigungen den ESM-Vertrag mit einem Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht stoppen. Vertreten wird das Bündnis von der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin und dem Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart. Auch die LINKE will eine einstweilige Verfügung gegen die Unterzeichnung beantragen.
Bereits in der Vergangenheit hatte das Bundesverfassungsgericht „mehrmals zu erkennen gegeben, dass es die Möglichkeiten zur Abgabe von Souveränität auf dem Boden des geltenden Grundgesetzes für ausgeschöpft hält“ (Heribert Prantl, Süddeutsche.de, 21.6.2012 o).
So erklärte es etwa am 7.9.2011 die Griechenlandhilfen grundsätzlich für rechtmäßig. Während jedoch die Regierung den Haushaltsausschuss des Bundestages bisher nur unterrichtet hielt, muss dieser nun selbst über jeden neuen Schritt entscheiden. In einem entscheidenden Satz heißt es zudem [o]:
Es dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind.
Am 19.6.2012 entschieden die Richter auch über eine Klage der Grünen und stärkten das Parlament:
Die Bundesregierung hätte die Abgeordneten schon einbeziehen müssen, als sie im vergangenen Jahr mit den anderen Euroländern den permanenten Rettungsschirm ESM („Europäischer Stabilitätsmechanismus“) sowie mit 24 anderen EU-Ländern den „Euro-Plus-Pakt“ (damals noch „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ genannt) aushandelte. Die Abgeordneten dürften nicht erst dann eingebunden werden, wenn sie die Handlungen der Regierung nur noch abnicken könnten, sagte Verfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle. (FAZnet, 19.6.2012 o).
In dem Bericht der FAZ wird Fraktionsvorsitz Jürgen Trittin zitiert, man habe sich vor der Sitzung des Europäischen Rates vom 4.2.2011, in dem über den ESM und den Euro-Plus-Pakt entschieden wurde, die Gesetzesentwürfe von österreichischen Kollegen besorgen müssen! („Alle hatten die Dokumente, nur der Deutsche Bundestag nicht.“ o). Unfassbar ist die Antwort der Bundesregierung auf diese Vorwürfe: „Es sei unpraktikabel, jeden Verfahrensschritt mit dem Bundestag abzustimmen. Außerdem müsse unbedingt vermieden werden, dass vertrauliche Verhandlungszwischenstände über hochsensible Materien letztlich in die Öffentlichkeit gelangten.“!
Wie kann es sein, dass das Bundesverfassungsgericht die Regierung auf das Grundgesetz hinweisen muss, wo es in Art. 23 ganz ausdrücklich heißt:
In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.
Gigantische Zahlen
Um welche Beträge geht es bei dem „Eurokrise“? Der deutsche Anteil von 27 Milliarden Euro am „Griechenlandpaket“ sind nur die kleinste Summe der gesamten Risiken. Der dauerhafte ESM, der nun schon am 1. Juli 2012 aktiviert werden soll, hat zunächst (!) einen Umfang von 700 Milliarden Euro – eine ähnliche Größenordnung wie der bisherige „Rettungsschirm“ EFSF, der erst Mitte 2013 ausläuft. Hier kommt man schon jetzt für Deutschland auf...
• 190 Milliarden Euro anteilig an ESM-Mitteln [o o].
Doch dieser „Rettungsschirm“ würde nicht einmal für Italien reichen – und so fordern Experten längst die Aufstockung auf 1.000 bis 2.000 Milliarden Euro!
Hinzu kommen aber noch weitere Belastungen und Risiken [o]:
• 30 Milliarden Euro anteilig an IWF-Mitteln.
• 32 Milliarden Euro anteilig an Anleihenkäufen der EZB.
• 644 Milliarden Euro Forderungen der Bundesbank gegenüber der EZB (Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der GIIPS-Staaten). [o] [Grafik]
Insgesamt sind dies allein für Deutschland Beträge von über 1.000 Milliarden Euro! Der gesamte deutsche Staatshaushalt beträgt nur etwas über 300 Milliarden Euro!
Meist kommt nur der eigentliche „Rettungsfonds“ ESM in den Blick. Von den EZB-Anleihekäufen oder gar den „Target 2“-Forderungen der Bundesbank an die EZB ist kaum einmal etwas zu hören. Und so heißt es in einem Artikel von FOCUS vom 8.3.2012 [o]:
Und für Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die EZB-Intervention den Vorteil, dass sie sich für diese Verlagerung von Risiken keine Mehrheiten im Bundestag besorgen muss. [...] [Auch] Die Bundesbank hat [...] 500 Milliarden an Forderungen gegen das Eurosystem aufgebaut. Beim Austritt Griechenlands etwa aus der Währungsunion wäre das Geld futsch. Diese Entwicklung wird nur von einer Minderheit unter Politikern und Wirtschaftsjournalisten verstanden.
Zeitleiste einer Katastrophe
09.12.11 – Alle EU-Mitglieder außer Großbritannien einigen sich auf strenge Obergrenzen für Staatsschulden und automatische Sanktionen [o].
31.01.12 – Die Verhandlungen über den Vertrag zur Fiskalunion werden abgeschlossen – ohne jede Beteiligung der nationalen Parlamente.
02.02.12 – Die Euro-Länder unterzeichen den ESM-Vertrag („Vertrag zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus“), der nun schon im Juli in Kraft treten soll [o].
02.03.12 – Der Fiskalpakt wird von allen EU-Staaten außer Großbritannien und Tschechien unterzeichnet [o o].
25.03.12 – Der Europäische Rat beschließt die Ergänzung des Art. 136 AEUV um Absatz (3), der den ESM rechtlich absichert.
31.05.12 – Die Iren stimmen in dem europaweit einzigen Referendum dem Fiskalpakt zu.
21.06.12 – SPD und Bündnis90/Grüne lassen sich ihre Zustimmung zum ESM-Vertrag mit einem „Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung“ und das Vorantreiben einer Finanztransaktionssteuer erkaufen. Ihre Forderungen nach Eurobonds und Prüfung eines Schuldentilgungsfonds (wie ihn der Sachverständigenrat entwickelte! o) können sie nicht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht bittet Bundespräsident Gauck, das anstehende ESM-Gesetz zunächst nicht zu unterschreiben [o o].
29.06.12 – Das ESM-Gesetz soll im Bundestag verabschiedet werden.
Das Ganze ist wirklich eine Art antiker griechischer Tragödie, die auf ganz Europa übergreift. Dieses Europa hat keine Vision und keine Perspektive. Wir leben in einer Zeit, in der selbst extrem konservative Menschen zu dem Schluss kommen: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ [o]. Und in der immer mehr Experten darauf hinweisen müssen, dass im Bundestag einsam nur noch die LINKE wirkliche ökonomische Vernunft hochhält.
Man lese nur einmal die Rede von Gregor Gysi anlässlich der Unterzeichnung von ESM und Fiskalvertrag am 29.3.2012 [o].
Die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften dann für bis zu 400 Milliarden Euro. [...] Dann tun Sie so, als ob der Haftungsfall nicht eintritt. Aber ich sage Ihnen: Dieser kommt schneller und unerwarteter, als Sie das jetzt glauben. Die ganze Entwicklung spricht dafür. Dann frage ich Sie: Wie wollen Sie das eigentlich bezahlen? Wovon eigentlich? Wollen Sie einen ganzen Bundeshaushalt ausfallen lassen? Wollen Sie alle Einrichtungen schließen? Merken Sie eigentlich noch, welche irrealen Absurditäten Sie festlegen und unterschreiben? [...]
Wir müssen die Finanzmärkte endlich regulieren. Wir brauchen weder Leihverkäufe noch Hedgefonds; das alles brauchen wir nicht. Banken müssen reine Dienstleister für die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger werden. Davon sind sie heute meilenweit entfernt.
Da Sie immer von der Schuldenbremse reden, schlage ich Ihnen eine Millionärssteuer als Schuldenbremse vor. Was haben Sie eigentlich dagegen? Weshalb müssen die Handwerker, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und selbst die Hartz-IV-Empfänger das Ganze bezahlen, aber die Vermögenden bleiben mit ihrem Vermögen vollständig verschont? Sie müssen davon nicht einen Euro abgeben. [...] Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen ein Vermögen von 3 Billionen Euro. Die gesamten Staatsschulden von Bund, Ländern und Kommunen liegen bei 2 Billionen Euro. Dann sagen Sie aber diesen 10 Prozent: Um Gottes Willen, von euch wollen wir keinen halben Cent! Wir streichen lieber das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger, bevor wir von euch auch nur einen Euro nehmen.
Und zu Griechenland:
Kein Rettungsschirm hat bisher einer Griechin oder einem Griechen etwas genutzt, nur den Banken und Hedgefonds. Dazu nur ganz wenige Zahlen: Seit drei Jahren gibt es bei den Investitionen einen Rückgang von 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt jetzt bei 21 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland liegt jetzt bei 50 Prozent. Es gibt weniger Steuereinnahmen. Es gibt ein Minuswachstum. Es ist ein Schuldenanstieg von 50 Milliarden Euro zu verzeichnen. Die Schulden Griechenlands machen nicht mehr 130, sondern jetzt 170 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.
Was soll das? Wo bleibt denn endlich ein Marshallplan zum Aufbau des Landes? Die Gelder aus dem Rettungsfonds gibt es jetzt nur, wenn der Mindestlohn von 751 auf 586 Euro pro Monat reduziert wird, wenn die Löhne um 22 Prozent gesenkt werden [...] und bis 2014 150.000 Leute entlassen werden. In den nächsten drei Jahren werden die Renten um 14 Milliarden Euro gekürzt. – Nein, das, was dort passiert, ist nicht mehr nachvollziehbar. Wollen Sie, dass das Land verelendet? Woher sollen denn Steuereinnahmen kommen, mit denen die Kredite zurückgezahlt werden?
Ausblick
Man kann der Analyse und den Worten des Attac-Aktivisten Alexis Passadakis nur uneingeschränkt zustimmen [o]:
Auch unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren gibt es offensichtlich kein ausreichend starkes alternatives Konzept, das der Vorstellung von „notwendiger Sparpolitik“ etwas entgegen setzt [...]. Die aktuelle Situation gleicht ein wenig der Lage während der Durchsetzung der Agenda 2010. Trotz einiger kleiner tapferer rot-grüner Widerstandsnester wird die Bundesrepublik in entscheidenden gesellschaftlichen Fragen von einer ganz großen Koalition aus CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen regiert. Mit hohem taktischen Aufwand organisierte Konflikte wie der um das Betreuungsgeld bestätigen die Regel.
Ohne die Dominanz des Mantras „Haushaltskonsolidierung“ zu brechen, wird es in den nächsten Jahren keine Spielräume für eine neue soziale Politik in Deutschland und Europa geben. Es ist daher nötig, eine andere Erzählung von öffentlichen Ausgaben und privatem Reichtum zu platzieren. Dazu gehört es, den Skandal der Bankenrettungen wieder ins Bewusstsein zu holen, eine aktive Zentralbankpolitik zur Staatsfinanzierung zu skizzieren, Schuldenerlasse plausibel zu machen und hohe Vermögensteuern zu fordern. Spätestens nach der Sommerpause sollte es damit losgehen.
Es geht nicht um „Sparen“, sondern darum,
1. Die Verantwortlichen für die Krise in die Verantwortung zu ziehen, statt sie fortwährend auf Kosten der Allgemeinheit zu „retten“ und „herauszukaufen“
2. Nicht nur die Symptome zu bekämpfen, sondern die Ursachen der Perversion zu beseitigen, d.h. Spekulation gegen Staaten (wie auch mit Rohstoffen etc.) unmöglich zu machen.
3. Den täglich überall erarbeiteten Wohlstand wieder gerecht zu verteilen (und diese ungeheure Herausforderung reicht von der Besteuerung von Einkommen und Vermögen sowie der Gestaltung der Löhne bis hin zur Verteilung der Arbeit, der Gestaltung von Arbeitsbedingungen, der Veränderung von Organisations-, Nutzungs- und Besitzstrukturen, umfassenden Schuldenerlassen und einem vollkommen anderen Geldsystem).
Ein „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ darf nicht nur winzige „konjunkturfördernde Maßnahmen“ und kleine „Steuererleichterungen“ enthalten, er muss mit hohen Vermögenssteuern und einer wesentlich gerechteren Verteilung der Löhne zu einer realen, bestmöglichen, ungeheuren Stärkung der Binnenwirtschaft führen – nicht um der Konjunktur oder Binnenwirtschaft selbst willen, sondern um jedes einzelnen Menschen willen, der das Recht hat, am gesellschaftlichen Leben und am gemeinsamen Wohlstand teilzuhaben.
Niemand will den Reichen und „Leistungsträgern“ etwas wegnehmen, was ihnen gehört und zusteht. Sie sollen nur das abgeben, was ihnen nicht zusteht, weil sie es anderen wegnehmen! Wir müssen die Idee der Gerechtigkeit wieder konkret erleben lernen! Es geht nicht um Verteilungskämpfe, es geht um Gerechtigkeit.
Wir brauchen keinen „Fiskalpakt“ mit einer Schuldenbremse – wir brauchen einen Fiskalpakt mit einem Schuldenerlass und einem darauffolgenden Wechsel zu einem völligen neuen Geldsystem, wie es in den schon existierenden Lokalwährungen sehr vielfältig bereits angelegt ist. Ein Geldsystem, das nicht auf Schuld und schuldloser Vermehrung der Schulden und leistungsloser Vermehrung der Vermögen basiert – sondern auch echtem Credit, d.h. Vertrauen, und auf einem lebendig vergänglichen Geld, dessen Wesen es ist, zu fließen statt sich zu stauen, krebsartig zu wuchern und immer zerstörerische Wirkungen zu entfalten.
Wir brauchen auch keinen europäischen oder anderen Hyper-Staat, in dem es doch nur um inner- und interkontinentale Konkurrenz, um Profit und Wachstum, um Vormacht- und Rohstoffsicherung geht, sonder wir brauchen ein Europa der Regionen, der Individualität, der Verschiedenheit, ein Europa wirklicher Solidarität, Menschlichkeit und Kultur!
Wir brauchen ein Bündnis von Menschen, die sich in dem Streben vereinen, Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft zu schaffen, in der er wieder um den Menschen geht und in der die Rahmenbedingungen dem Menschen dienen – gerecht und sozial.
Setzen wir denen, die sich allenfalls noch phrasenhaft und verlogen auf das „christliche Menschenbild“ und den Humanismus beziehen, einen echten, wahrhaftigen, tief innerlich erlebten Humanismus entgegen – das reale Erleben der einen Welt und unseres wahren, unwiderruflichen, nicht korrumpierbaren Menschentums. Wenn wir genügend Menschen sind, die sich in diesem in diesem Geiste und zu diesem Werke verbinden, haben jene Kräfte, die gegen den Menschen und gegen das Individuum arbeiten, keine Möglichkeit mehr.