2012

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08.07.2012

Tödliche Medizin und Symptompfuscherei oder wirkliche Rettung Europas?

Ein Beitrag zum wirklichen Verständnis der Positionen.


Inhalt
Einleitung
Der Professorenstreit | Einen Schritt tiefer gehen
Privatisierung der Profite, Sozialisierung der...? | Verspekuliert – und der Bürger bürgt... | Der zweite Teil des Dramas
Das scheinbar unlösbare Dilemma | Die eiserne Notwendigkeit durchbrechen
Der Egoismus siegt (noch) | Die Lebenslüge unserer Gesellschaft | Die tieferen Triebfedern des Neoliberalismus
Merkels Politik – vom Dogma durchtränkt | Der Wettbewerb nach unten – unbegrenzt
Die Tragödie beginnt – gegen Griechenland | Ein Land bricht zusammen | Der Brand der Spekulanten erfasst Europa
Die Politik der deutschen Härte | Die tödliche deutsche Konkurrenz
Die Unfähigkeit, einfache Grundwahrheiten zu erkennen | Was ist zu tun?
Zusammenfassung und Ausblick | Ein neoliberales Lieblingszitat zum Abschluss

Einleitung

„Stell Dir vor, die Katastrophe steht vor der Tür und keiner merkt es (rechtzeitig).“ – So ungefähr kann man die derzeitige Situation beschreiben. Zwar ist die „Eurokrise“ und deren Brisanz in allen Medien angekommen – doch die Berichte dürften für den normalen Bürger kaum verständlich sein. Dies wiederum führt dazu, dass den Ernst der Lage niemand wirklich erlebt. Es ist, wie wenn vor 1945 Experten abstrakt über die drohenden Gefahren der atomaren Aufrüstung debattiert hätten – der normale Mensch hätte einfach kein Empfinden für die real drohenden Gefahren gehabt.

Die Euro-Krise erscheint hoch komplex – und wenn selbst die „Experten“ diverse „Lösungen“ empfehlen, die sich gegenseitig völlig widersprechen, ist das offenbar ein Beweis, dass niemand die eigentlichen Ursachen, Zusammenhänge und Konsequenzen erfasst. Wie soll dann der normale Bürger begreifen, worum es eigentlich geht?

Selbstverständlich gibt es Menschen, die die Zusammenhänge begreifen und richtig sehen. Aber wie soll man sie in der bunten Menge der Meinungen erkennen? Wie soll der normale Mensch zu dem notwendigen Unterscheidungsvermögen kommen? Es ist ihm unmöglich.[1] Dieser Aufsatz macht verschiedene Positionen, ihre Zusammenhänge und ihre Irrtümer klar verständlich.

Der Professorenstreit

Setzen wir bei dem Phänomen der letzten Tage an: dem „Professorenstreit“. Was geschah hier? Professor Hans Werner Sinn, Leiter des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, veröffentlichte mit über 100 weiteren Professoren einen Aufruf gegen den „Eurorettungsfonds“ ESM.[2] Darin heißt es:

[Wir] sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeutet, mit großer Sorge. Die Bankschulden sind fast dreimal so groß wie die Staatsschulden und liegen in den fünf Krisenländern im Bereich von mehreren Billionen Euro. Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden, zumal riesige Verluste aus der Finanzierung der inflationären Wirtschaftsblasen der südlichen Länder absehbar sind. Banken müssen scheitern dürfen. Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen können, gibt es nur eine Gruppe, die die Lasten tragen sollte und auch kann: die Gläubiger selber, denn sie sind das Investitionsrisiko bewusst eingegangen und nur sie verfügen über das notwendige Vermögen. [...]
Weder der Euro noch der europäische Gedanke als solcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet; geholfen wird statt dessen der Wall Street, der City of London – auch einigen Investoren in Deutschland – und einer Reihe maroder in- und ausländischer Banken, die nun weiter zu Lasten der Bürger anderer Länder, die mit all dem wenig zu tun haben, ihre Geschäfte betreiben dürfen.


Zahlreiche andere Ökonomen kritisierten diesen Aufruf und argumentierten, er zeige keinerlei Lösungen auf und sei dagegen nur von einem latenten Nationalismus geprägt. Prof. Peter Bofinger[3], einer der fünf „Wirtschaftsweisen“, betonte, man müsse, wenn man sich zum Euro bekennen, eine gemeinsame Haftung in Europa akzeptieren.[4] Prof. Rudolf Hickel, Forschungsleiter Finanzpolitik an der Universität Bremen, geht sogar so weit, zu sagen:[5]

Es ist schon seltsam, wie man mit so wenig Substanz große Wellen auslösen kann. Der Text ist ein richtiges Ärgernis. Dieses Pamphlet ist zutiefst unwissenschaftlich, erschreckend plump und suggeriert die Vorstellung, man wisse etwas besser, ohne es zu begründen. Das ist unterstes Stammtischniveau. [...] Hier trifft sich Rechts- und Linkspopulismus.


Bofinger betont, dass es keineswegs um die Wallstreet und die City of London gehe, dass sich Bankeinlagen durchaus wirksam schützen ließen und eine Bankenunion auch keineswegs auf eine kollektive Haftung für Bankenschulden hinauslaufe.

Einen Schritt tiefer gehen

Das Problem ist, dass wir schon an diesem Punkt ein echtes Hintergrundwissen brauchen, um „die Geister scheiden“ zu können. Auf den ersten Blick sagt Prof. Sinn vieles, was unmittelbar einzuleuchten scheint. Aber – er ist gleichzeitig eine führende und von den Medien „gepuschte“ Gestalt der neoliberalen Ideologie. In der BILD-Zeitung, die ihn „Deutschlands klügsten Professor“ nennt, wettert er zum Beispiel gegen einen Mindestlohn...[6]

Rudolf Hickel wiederum ist u.a. auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des sich gegen den Neoliberalismus richtenden („globalisierungskritischen“) Netzwerks Attac.

Aber worum geht es nun eigentlich bei der „Euro-Rettung“? Der jüngste EU-Gipfel beschloss zwei sehr verschiedene „Instrumente“: Einerseits ging es um den dauerhaften „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ ESM, einen ungeheuren „Rettungsschirm“ für Banken und Staaten, den viele Fachleute mit seinen 500 Milliarden Euro schon jetzt für zu klein halten. Andererseits wurde mit dem Fiskalpakt eine strenge „Sparverpflichtung“ für die Staaten beschlossen – eine strenge Begrenzung der Verschuldung auf 60% des Bruttosozialprodukts, die schon heute von den meisten Staaten überschritten werden.

Diese doppelte Strategie ist im Grunde eine „Quadratur des Kreises“: Man will die kriselnden Banken und die kriselnden Staaten retten (mit Staatsgeldern) – und zugleich sollen die Staaten sparen!

Die entscheidenden Fragen dabei, die kaum noch einmal so klar gestellt werden, sind:

1. Warum sind die Banken in einer Krise?
2. Warum sind die Staaten in einer Krise?
3. Wie funktioniert die Hilfe genau?
4. Wer bezahlt am Ende genau was und wofür?

Und:

5. Welche Alternativen gibt es?

Wir werden uns Schritt für Schritt den Antworten auf diese Fragen nähern.

Privatisierung der Profite, Sozialisierung der...?

Verfolgen wir zunächst noch weiter den Standpunkt von Prof. Hickel.[7] Er hält die Beschlüsse des EU-Gipfels

[...] in Teilen für richtig, gerade weil sie erstmals eine Abkehr von der bislang verfehlten Krisenpolitik signalisieren. Es soll eben keine Bankenrettung per se geben. Vielmehr sollen auf der Basis einer Aufsicht in der Nähe der Europäischen Zentralbank Hilfen nur unter strengen Auflagen erfolgen und beispielsweise die zu rettenden Institute zwangsweise verstaatlicht werden. Hinzu kommt ein Restrukturierungsfonds, in den die Banken einzahlen und mit dem gerade verhindert würde, dass die Steuerzahler weiter abgezockt werden.


Merkel hat jedoch weitreichende Maßnahmen im Sinne einer konsequenten Bankenunion gerade verhindert. Diese würde beinhalten, eine zentrale Bankenaufsicht zu installieren, bestimmte Geschäfte – nämlich die „Eigenhandel“ genannte Spekulation – zu verbieten, Großbanken zu verkleinern und kriselnde Banken „knallhart“ (Hickel) umzustrukturieren. Ganz klar sagt Hickel (und vertieft dies in seinem Buch „Zerschlagt die Banken!“[8]):

Ich will [...], daß die Banken auf ihre dienende Funktion für die Wirtschaft schrumpfen und die Risiken für die Allgemeinheit minimiert werden. Wir brauchen ein Konzept, womit die Größe und die politische Macht der Banken zerschlagen wird.


Das Problem ist, dass genau dieser Weg nicht verfolgt wird. Er hätte schon 2008 nach dem ersten Ausbruch der Bankenkrise gegangen werden können – und er wird noch immer nicht eingeschlagen. Wieviele namhafte Wirtschaftswissenschaftler und Politiker haben schon damals eine konsequente Kontrolle und Regulierung des Bankensektors gefordert![9] Selbst Angela Merkel sagte im August 2009 medienwirksam:[10]

„Und ich darf Ihnen für mich persönlich sagen, es ist mir ein festes Anliegen, [...] dass wir als Politik aus dem Erpressungspotential einzelner Akteure herauskommen.“


Weil aber genau dieses Erpressungspotential weiterhin wirksam ist, gibt es den Rettungsschirm und einen wahnwitzigen Sparpakt („Fiskalpakt“) – nachdem die Staaten sich für die Rettung des Bankensektors überschuldet haben. Aus diesem Grund kann der Milliardenrettungsschirm in scheinbarer, verwirrender Nähe sowohl von linken, menschlich und menschheitlich orientierten Positionen als auch von rechten, neoliberal und nationalistisch orientierten Positionen kritisiert werden. Die LINKE kritisiert auf das Schärfste die „Sozialisierung der Schulden“, Prof. Sinn und seine Mitstreiter dagegen „mißbrauchen und verzerren wohlbegründete linke Positionen, nur um zur D-Mark zurückzukehren“ (Hickel, s.o.).

Nicht die Sozialisierung von Schulden und Risiken an sich ist ein Problem (denn davon lebt jede solidarische Versicherung), sondern die Sozialisierung von Schulden und Verlusten bei gleichzeitiger Privatisierung der Profite und Gewinne!

Genau dies ist der Kern des Problems, denn mit ungeheurer Gier und geradezu krimineller Energie wurden im Finanzsektor Milliardengewinne erzielt, bis das Kartenhaus zusammenbrach[11] – und dann mussten die Staaten einspringen und mit Milliardenhilfen und hunderten von Milliarden an Garantien einzelne Banken und den gesamten Finanzsektor retten.

Verspekuliert – und der Bürger bürgt...

Das Problem des Finanzsektors war und ist ein doppeltes und dreifaches: Einzelne Banken hatten sich vollkommen verspekuliert und sind z.B. in den USA zu Dutzenden zusammengebrochen. Mehrere Banken haben jedoch eine derartige Größe erreicht, dass ihr Zusammenbruch eine Kettenreaktion auslösen würde bzw. könnte („too big to fail“). Und schließlich hatten sich durchweg alle Banken mehr oder weniger an dem Geschäft mit „faulen“ hochriskanten neuen Finanzinstrumenten beteiligt, so dass letztlich keine Bank mehr der anderen traute – und der überlebenswichtige Interbankenmarkt für kurzfristige Kredite von Bank zu Bank fast völlig zusammenbrach.

Hier schlug die Stunde der „Bankenrettungsschirme“, und die Europäische Zentralbank sowie in den USA die Federal Reserve „fluteten“ die Finanzmärkte mit „billigem Geld“ (zu sehr niedrigen Zinsen), um das Vertrauen wiederherzustellen. Hierbei ging es zunächst um das grundsätzliche Vertrauen in die jederzeitige Möglichkeit, sich auf Kredit die notwendige Liquidität zu verschaffen – sonst wären die Finanzmärkte wie bei einem „Schlaganfall“ kollabiert, weil keiner keinem mehr Geld geliehen hätte.

Ein Problem war damit aber noch nicht gelöst: Ohne Liquidität kommt zwar jede Bank in eine existenzbedrohende Schieflage – doch aufgrund der spekulativen Exzesse waren viele Banken auch mit Liquidität in einer solchen. Und hier nun geht es endgültig nicht mehr nur um vorübergehende Kredite oder gar zunächst nur Garantien für mögliche Ausfälle, sondern um echte Transfer-Zahlungen, also „Sozialisierung der Verluste“.

Noch komplexer wird die Lage dadurch, dass vieles davon wiederum in die Zukunft verschoben wird – durch Auslagerung von Risiken in sogenannte „Bad Banks“ oder „Abwicklungsanstalten“. So kostete z.B. der Zusammenbruch der „Hypo Real Estate“ (HRE) den deutschen Staat bisher etwa „nur“ 10 Milliarden Euro. Doch allein die zwei „Bad Banks“ für die HRE und die WestLB umfassen für die nächsten Jahre noch weitere Risiken von bis zu 250 Milliarden Euro. Und hier geht es nur um zwei Banken!

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass die Banken ganz und gar private Unternehmen sind, deren führende Manager Millionen verdienen (teilweise pro Monat). Dieser Sektor erhielt in den letzten drei Jahren nun derart ungeheure Hilfen und Subventionen, wie sie für jeden anderen Wirtschaftssektor unmittelbar als völlig irrsinnig abgelehnt worden wären. Während die Banken Milliarden bekamen und bekommen, streitet man im Bereich der Finanzierung von Schulen, Kindergärten oder sozialen Aufgaben um einzelne Millionen!

Die indirekten Kosten der Bankenkrise sind noch ungleich höher. War das „Kundengeschäft“ der Banken schon vor der Krise mehr und mehr oft nur noch zum lästigen „Nebenerwerb“ neben den ungeheuren spekulativen Profiten herabgesunken, erhielten kleine und mittelständische Unternehmen im Zuge der Krise erst recht kaum noch Kredite – und wiederum musste der Staat einspringen und den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft mit „Konjunkturprogrammen“ verhindern.

Dies ist der Grund dafür, dass die Verschuldung der einzelnen Staaten in den letzten drei Jahren geradezu explodierte und zum Beispiel in Deutschland von 60% auf über 80% des BIP hochschnellte!

Der zweite Teil des Dramas

Und nun beginnt das eigentliche Drama: die wirkliche Sozialisierung der Verluste – und die katastrophalen Folgen der daraufhin einsetzenden Maßnahmen.

Wir erkennen zunächst: Während jetzt überall von der Staatschuldenkrise die Rede ist, handelte es sich am Anfang um eine Bankenkrise. Die Banken wurden gerettet – und nun werden die Retter gleichsam in den Untergang getrieben. Erstens dadurch, dass nun der katastrophale Sparzwang implementiert wird – und zweitens dadurch, dass die Spekulation und die dadurch verursachte Bedrohung bzw. ganz reale Schädigung der Staaten noch immer nicht unterbunden wird!

Und so kann man hier nur wiederholen, was Sarah Wagenknecht (LINKE) in der Bundestagsdebatte vom 29.6.2012 sagte:[12]

Wenn der Fiskalpakt eingehalten wird, müssen die europäischen Staaten in den nächsten Jahren über 2.000 Milliarden Euro aus ihre...n Haushalten heraushacken: bei Gesundheit, bei Sozialem, bei Bildung und bei Renten. Was soll dann denn noch von Europa übrig sein? [...]
Frau Merkel, ich sage Ihnen auch: Wenn Sie weiter die europäischen Staaten mit brutalen Kürzungsprogrammen in die Krise zwingen, statt sie endlich durch Direktkredite der Europäischen Zentralbank von der Zinstreiberei der Finanzmärkte unabhängig zu machen, dann werden Sie nicht als eiserne Kanzlerin in die Geschichte eingehen, sondern als Totengräberin des Euro. [...]

Die Gemeinden haben seit Jahren kein Geld. Für die Kinder haben Sie kein Geld. Aber endlose Milliardenbeträge haben Sie offensichtlich, um die Banken zu retten. [...] Sie nehmen den einen und geben den anderen. Das nenne ich nicht Sparen, sondern Umverteilung. [...]
Es ist doch kein Zufall, dass parallel zu den Staatsschulden auch die privaten Vermögen der oberen Zehntausend in Europa immer neue Rekorde erreichen. Holen Sie sich das Geld doch dort zurück. Da liegen die Milliarden, die uns fehlen. Sie können sie von dort holen – ohne Fiskalpakt und ohne Zerstörung der Demokratie. [...]
Sie aber tun das Gegenteil. Sie vergemeinschaften die Schulden, gerade damit die Finanzvermögen der Reichen nicht entwertet werden. [...] Sie retten nicht den Euro, sondern Sie retten die Euros der Millionäre. [...]
Sie nehmen den Armen das Brot, weil Sie zu feige sind, den Reichen das Geld zu nehmen. Halten Sie das für christlich? [...]


In dieser Rede ist zunächst eigentlich alles enthalten, was man an Kritik gegen die gegenwärtige Politik vorbringen kann. Die Bankenunion mit einer wirksamen Kontrolle und Veränderung des Finanzsektors mag in den nächsten Jahren konkrete Gestalt annehmen – von Angela Merkel wird sie eher verhindert. Was aber im Moment real geschieht, das ist eine mit der „Rettung des Bankensektors“ verbundene Vergesellschaftung der Verluste, während derselbe Sektor in den Jahren vor 2008 unvorstellbare Gewinne realisierte (und dies nach wie vor tut).

Das Problem ist, dass niemand weiß, wo genau im Bankensektor wirklich Risiken liegen und wie hoch diese sind. Der ganze Finanzsektor ist ein hoch anonymer Bereich. Die Banken lassen sich zwar helfen, aber kaum „in die Karten schauen“. Insbesondere aber sind die Gewinne und Profite unangreifbar, unerreichbar. Diese sind und bleiben privat. Macht die eine Bank Gewinn und die andere Verlust, kann man die eine kaum zur Hilfe für die andere verpflichten. Mit anderen Worten: Am Ende muss immer der Staat einspringen, wenn bestimmte Banken nicht zusammenbrechen sollen oder dürfen. Dies ist wiederum das „Too-big-to-fail“-Drama. Marktwirtschaft würde bedeuten, dass auch Banken scheitern dürfen müssten. Wenn sie dies nicht dürfen, weil dann eine katastrophale Kettenreaktion einsetzen würde, haben wir in Bezug auf die Verluste den Sozialismus, während die Profite unantastbar bleiben.

Das scheinbar unlösbare Dilemma

Hier offenbart der Kapitalismus vollkommen sein hässliches Gesicht. Die ungeheuren Profite gerade im Finanzsektor bewirken, dass die Superreichen noch reicher werden. Und die ungeheuren Verluste und Milliardenrisiken bewirken, dass von nun an die Staaten unter noch nie dagewesenen „Sparprogrammen“ leiden – und letztlich zusammenbrechen werden!

Schon jetzt hatte der deutsche Staat jährlich rund 60 Milliarden Euro allein an Zinsen zu zahlen – Milliarden von Euro, die für wichtigste Aufgaben fehlen. Durch die Explosion der Staatsverschuldung ist diese Zahl seit 2008 nochmals enorm gestiegen. Bisher entging man dem Problem zumindest teilweise durch eine immer weitere Neuverschuldung (u.a. für die Zinszahlungen!). Nun aber wird mit dem „Fiskalpakt“ endgültig eine strikte Begrenzung der maximalen Schuldenhöhe festgelegt. Es werden also mörderische Kürzungsprogramme folgen...

Die Schuldenhöhe ist auf 60% des Bruttosozialproduktes begrenzt. Man kann nun hoffen, dass nicht unbedingt radikal gekürzt werden müsse, denn wenn „die Wirtschaft wächst“, könne auch die Verschuldung noch weiter wachsen. Aber erstens wachsen damit inzwischen vor allem die Zinszahlungen. Und zweitens – und dies ist sogar noch viel wesentlicher – wird diese Möglichkeit schneller, als man es für möglich halten würde, völlig illusionär werden.

Zwar beruht die gesamte wirtschafts- und volkswirtschaftliche Theorie auf dem ewigen Wachstum, wonach dann auch die Staatsschulden kontinuierlich weiter wachsen dürften. Doch ewiges Wirtschaftswachstum ist nun einmal nicht möglich – und sobald dessen Ausmaß unter den Zinssatz für die Verschuldung sinkt, entwickelt diese Verschuldung eine Eigendynamik, die nicht mehr eingeholt werden kann. Die furchtbarste Gesetzmäßigkeit setzt aber ein, wenn man nun noch beginnt, zu sparen. Dadurch bricht man der Wirtschaft das Genick und gibt ihr den Todesstoß. Die Entwicklung kehrt sich um: Die Wirtschaft wächst nicht mehr, sondern sie bricht zusammen, ausgelöst durch die beginnenden Kürzungen.

Der Staat ist also in einem Dilemma: Entweder er selbst stürzt in die Schuldenfalle – oder er stürzt die Wirtschaft in diese hinein. Wenn aber die Wirtschaft in den Abgrund stürzt, reißt sie den Staat ebenfalls mit. Es ist so oder so ein unlösbares Dilemma.

Heute ist die Situation so, dass nahezu alle Akteure, die irgendeinen Einfluss haben, wie das Kaninchen auf die Schlange starren: Man sieht nur auf die Verschuldung und kommt aufgrund dessen zu der einen oder anderen Maßnahme. Entweder fordert man nun „Sparen und Kürzen“ – oder man fordert „Konjunkturprogramme“, aber der Blick bleibt auf die Verschuldung gerichtet. Im einen Fall konzentriert man sich auf die Verschuldung des Staates, im anderen auf die der Wirtschaft. Hilft der Staat sich selbst, zerstört er die Wirtschaft. Hilft er der Wirtschaft, zerstört er sich selbst.

Die eiserne Notwendigkeit durchbrechen

Eine Lösung ist nur möglich, wenn der Blick auf das unsichtbare Dritte gelenkt wird. Es kann nicht nur Verschuldung geben. Wir leben in nahezu dem reichsten Land der Erde. Wo, wenn nicht hier, ist echter materieller Wohlstand möglich? Wenn Staat und Wirtschaft scheinbar in der Schuldenfalle stecken, ja regelrecht in einen Schuldenabgrund stürzen, so muss das „unsichtbare Dritte“ gigantisch groß sein – und das ist es auch. Denn es geht um die realen Gewinne und Vermögen, die in genau derselben Höhe da sein müssen und da sind, wie die Verschuldung.

Die Gewinne des einen sind notwendigerweise die Verschuldung des anderen – und die Verschuldung des einen sind notwendigerweise die Gewinne des anderen. Mit anderen Worten: Gibt es irgendwo Gewinne, muss es in unserem Geld- und Wirtschaftssystem notwendigerweise anderswo Leid und Elend geben. Wenn wir sehen, um welche Milliardenbeträge es allein schon bei der Staatsverschuldung geht – von der privaten Verschuldung der Haushalte und Unternehmen ganz zu schweigen –, wissen wir unmittelbar, um welchen Reichtum es auf der anderen Seite geht! 

Oben links auf dieser Seite sehen wir an der „Reichtumsuhr“ auf einen Blick, wie reich „Deutschland“ wirklich ist [o].

Die Momentaufnahme vom 8.7.2013, 10:53 Uhr zeigt:

7.476.604.578.127 €   Nettoprivatvermögen in Deutschland
4.720.662.563.918 €   besitzt das reichste Zehntel (63%)
   - 14.043.093.807 €   "besitzt" bzw. schuldet das ärmste Zehntel.

Ein Nettoprivatvermögen von je 5.000 bis 7.000 Milliarden Euro (je nach Zählung nur Geld oder auch Immobilien bzw. auch weitere Sachwerte) – das entspricht über 60.000 Euro pro Kopf [o].

Wie wir weiter sehen, ist dies ein völlig unrealistischer Wert, denn bereits das reichste Zehntel der Bevölkerung besitzt schon zwei Drittel des gesamten Vermögens. Schon für das zweitreichste Zehntel bleibt da nicht mehr viel übrig – und für die große Mehrheit gar nichts mehr.

Dieses auf eine Minderheit konzentrierte Vermögen wächst pro Sekunde um über 6.000 Euro. Die Staatsschuld dagegen wächst pro Sekunde „nur“ um über 2.000 Euro – aber ebenfalls unaufhaltsam. Die Differenz entspricht einer ebenfalls rasant wachsenden privaten Verschuldung von Haushalten und Unternehmen! [o]

Mit anderen Worten: Das Problem der Staatsverschuldung könnte bereits dadurch gelöst werden, dass der private Reichtum ein wenig langsamer wachsen würde! Egal, ob mit oder ohne Konjunkturprogramme – der Staat hätte genügend Mittel für seine notwendigen Aufgaben zur Verfügung, wenn nur nicht in jeder Sekunde ein solch ungeheurer Reichtumsstrom zu den ohnehin schon größten Vermögensmassen stattfinden würde!

Dies ist das größte, unfassbare Problem: Die stumme, schleichende, nein rasende Umverteilung von Arm zu Reich! Die Hinterziehung eines Pfandbons im Wert von 1,30 Euro ist schon eine Straftat, die zur Kündigung einer extrem unterbezahlten Kassiererin führt [Anmerkung: Führende Ökonomen weisen nach, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung des Euro eine Angleichung der zu niedrigen deutschen Löhne nach oben ist! Dazu später]. Steuerhinterziehung in Millionenhöhe erscheint manchmal schon nur als ein Kavaliersdelikt. Aber die gigantische Umverteilung, die allein schon durch den Zins in jeder Sekunde stattfindet, wird von nahezu niemandem hinterfragt, sondern von nahezu jedem vollkommen hingenommen![13]

Dabei sagte selbst der große Ökonom des letzten Jahrhunderts, John Maynard Keynes, einmal in aller Deutlichkeit:

Denn ein wenig Überlegung wird zeigen, was für gewaltige gesellschaftliche Änderungen sich aus einem allmählichen Verschwinden eines Verdienstsatzes auf angehäuften Reichtum ergeben würden. Es würde einem Menschen immer noch freistehen, sein verdientes Einkommen anzuhäufen, mit der Absicht, es an einem späteren Zeitpunkt auszugeben. Aber seine Anhäufung würde nicht wachsen.


Das gegenwärtige Zinsgeldsystem nützt notwendigerweise und ganz real nur den obersten zehn Prozent der Bevölkerung – genauer gesagt: Es deckt deren gesamten Lebenshaltungskosten, während die unteren 90 Prozent für diese leistungslosen Einkommen der oberen 10 Prozent zusätzlich arbeiten müssen...

Der Egoismus siegt (noch)

Doch diese Erkenntnis, dass das Zinsgeldsystem nur einer ganz kleinen Minderheit nützt und diese kontinuierlich bereichert, wird gnadenlos bekämpft – denn diese kleine Minderheit sitzt nun einmal zugleich an den Hebeln der Macht. Zudem sind unsere Köpfe seit Jahrzehnten von dem Dogma durchtränkt, ein freies Wirtschaftssystem sei ohne Zins nicht möglich. Der Zins und die von ihm hervorgerufene Notwendigkeit des ewigen Wachstums erscheinen uns derart notwendig, dass er nicht eine Sekunde lang hinterfragt wird – obwohl er gerade das Widernatürlichste ist, was sich denken lässt!

Selbst da, wo wir im Grunde doch klar sehen, dass der Wachstums- und Verschuldungszwang nicht zum Wohle der Menschen wirkt, nehmen wir die „Sachzwänge“ hin – und selbst, wenn wir sie nicht mehr hinnehmen wollen, denken wir nicht an ihre eigentliche Ursache, den Zins...

Ich will den Zins hier nicht als einzige Ursache hinstellen. Reale Machtungleichgewichte wirken z.B. ebenso stark auf die fortwährende Zunahme ungerechter Verhältnisse hin. Doch während diese Machtungleichgewichte gerade auch vor dem Hintergrund der „freien Marktwirtschaft“ immer wieder zumindest ansatzweise problematisiert werden, wird der Zins wie gesagt völlig hingenommen und gilt geradezu als Prinzip, Axiom und heilige Grundlage des heutigen Wirtschaftssystems. Dies geht so weit, dass selbst hervorragende Kritiker der heutigen Verhältnisse wie die NachDenkSeiten dem Zins weitaus mehr Positives als Negatives abgewinnen und ihn vorbehaltlos verteidigen![14]

Wenn aber die Grundlagen des heutigen Wirtschaftssystems nicht hinterfragt werden, dann bleibt es bei dem Ansetzen an nachgeordneten Symptomen – zum Beispiel bei dem Konflikt zwischen „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“. Dies ist ein oft sehr harter, tragischer und hässlicher Konflikt, der sich aber vor dem Hintergrund des Zins-Wahnsinns als Nebenschauplatz entpuppt, der nur dadurch eine solche Virulenz gewinnt, dass aufgrund der Umverteilung und des Wachstumszwanges durch den Zins nahezu alle Wirtschaftsteilnehmer zum „Sparen“ gezwungen sind! Oder anders gesagt: Selbst wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder auch Staat und Bürger (!) kooperieren wollten – sie werden gezwungen, gegeneinander zu arbeiten, weil sie alle in die Knappheit gestürzt werden, indem an anderer Stelle jene Vermögen wachsen, die allen zugute kommen sollten...

Und so wird auch weiterhin der Unternehmer den Arbeitnehmer auszubeuten suchen (nicht nur aus Profitgier, sondern oft auch mit der Zinskeule im eigenen Nacken), wird der Staat seine Bürger auspressen und immer weitere Kürzungen durchsetzen (mit einem riesigen Schuldengebirge im Nacken)...

Die Lebenslüge unserer Gesellschaft

Selbst wenn man das Monstrum des Zins und Zinseszins nicht abschafft, könnte man die fortwährend durch den Zins verursachte Umverteilung ausgleichen und die wachsende Kluft zwischen den Vermögen immer wieder verringern, wenn man es nur wagen würde, die großen Vermögen und Einkommen anzutasten. Wenn man es nicht tut, geht die Umverteilung weiter. Oder mit anderen Worten: Solange die Umverteilung immer weitergeht, also die Reichen immer noch reicher werden, werden die Vermögen nicht ausreichend angetastet.

Sich vermehrende Vermögen sind ein Krebs für die Gesellschaft, denn die Selbstvermehrung durch den Zins ist leistungslos und die Vermehrung durch entsprechende Einkommensungleichgewichte ist noch immer ungerecht – und in beiden Fällen stehen diesen sich vermehrenden Vermögen auf der anderen Seite wachsende Schulden, Armut und schwere Schicksale gegenüber. Das eine ist die notwendige Konsequenz des anderen. Deshalb handelt es sich um ein soziales Krebsgeschwür: Weil es nicht nur um ein Anwachsen von Vermögen geht (das den Superreichen gegönnt sein könnte), sondern um ein unmittelbar damit verknüpftes Verarmen, das sogar noch eine Mehrheit betrifft!

Im Grunde schließt sich schon hier der Kreis zur Frage nach dem Schicksal Europas. Denn entweder wir bauen unser Wirtschafts- und auch Gesellschaftssystem auf Egoismus und Konkurrenz auf – oder auf Solidarität und Zusammenarbeit.

Wie kann Solidarität zwischen den einzelnen Staaten wahrhaft möglich sein, wenn sogar innerhalb der einzelnen Staaten unter den eigenen Landsleuten das „Zusammenleben“ auf Konkurrenz und gegenseitiger Bekämpfung beruht? „Deutschland“ wäre sogar so reich, dass das private Vermögen der (vermögenden) Deutschen ausreichen würde, um die Staatsschulden aller 17 Euro-Staaten vollkommen zu tilgen![15] Aber es reicht nicht einmal, um die bittere, wachsende Armut in Deutschland zu beseitigen.

Unsere technische Entwicklung ist so ausgereift, dass es reichen würde, wenn die Menschen 20 Stunden in der Woche arbeiten würden – aber einige arbeiten 40 oder sogar 60 Stunden und andere sind arbeitslos... Immer wieder ist es die Tatsache, dass eine Minderheit den ganzen Profit für sich allein vereinnahmt, die es verhindert, dass es gerechte Lösungen gibt.

Und zur Verdeckung der Tatsache, dass der Egoismus das eigentliche Problem ist, wird die Realität von den Füßen auf den Kopf gestellt – und werden die Armen und die Arbeitslosen als eigentlich Schuldige hingestellt. „Wer wirklich ... will, der kann auch“, heißt es, womit klar ist, dass derjenige der arm und/oder arbeitslos ist, nicht will. Er ist selbst schuld an seinem Schicksal! So denken wahrscheinlich viele, viele, bis sie zum ersten Mal selbst in die Lage kommen, arbeitslos zu werden und/oder zu verarmen... Wir leben in einer kollektiven Illusion. Unsere Gesellschaft leugnet noch immer die Tatsache, dass wir hier vor systembedingten zwangsläufigen Entwicklungen stehen!

Die Rationalisierung spart nun einmal Arbeit, und es ist geradezu schizophren, die entlassenen Arbeitslosen für ihr Schicksal verantwortlich zu machen! Das Zinssystem und die Profitgier verursachen nun einmal einen sich konzentrierenden Reichtum – und es ist ebenfalls geradezu zynisch, denen, an denen man schuldig wird, die Schuld noch in die Schuhe zu schieben!

Heute werden die Arbeitslosen dazu gezwungen, nach einer Arbeit zu suchen, die es gar nicht mehr gibt! Heute wird der Staat und die Mehrheit der Bevölkerung gezwungen, zu sparen, weil es woanders Reichtum in Überfülle gibt. Und je mehr Arbeitsplätze gestrichen werden, desto höher sind wiederum die Profite einiger weniger...

Das alles ist Kapitalismus. Das alles ist unser Alltag, unsere Wirklichkeit, unsere kollektive Lebenslüge.

Die tieferen Triebfedern des Neoliberalismus

Es ist ein Rätsel, wie bestimmte Gedanken das Denken von Menschen so prägten können, dass diese von jenen völlig besetzt sind – um nicht zu sagen besessen. Solche Gedanken besetzen und besitzen dann die Menschen – und nicht umgekehrt.

Im Menschen leben zwei Tendenzen – eine soziale und eine antisoziale. Die letztere wird in unserer Zeit immer stärker, und die erstere droht, wenn sie nicht aktiv lebendig gemacht wird, völlig zu verschwinden. Die neoliberalen Dogmen sind ein machtvoller Ausdruck der antisozialen Tendenz. Es mag dahinter das Bild des „freien Menschen“ stehen (lat. liber = frei), aber dieses Bild ist völlig abstrakt geworden, denn Freiheit im Wirtschaftlichen führt zur Tyrannei des Stärksten.

Die neoliberale Ideologie hat eine merkwürdige Anziehungskraft, sonst hätte sie sich niemals so ausbreiten können. Sie entspricht der allgemeinen antisozialen, individualisierenden Tendenz unserer Zeit. Die Individualisierung ist auch eine objektive Tendenz der letzten Jahrhunderte – und offenbar muss diese Entwicklung zunächst durch einen Zustand des Gegensatzes zwischen Ich und Welt hindurch. Offenbar hat dieses erst jetzt überhaupt wirklich sich entwickelnde Ich des Menschen (menschheitlich gesehen) erst in der Zukunft die Kraft, sich selbst nicht zu verlieren, wenn es nicht nur sich selbst in den Mittelpunkt stellt, sondern ... wahrhaft sozial wird.

Die Anziehung der neoliberalen Ideologie liegt in einer zweifachen Tatsache: Zum einen steht hinter ihr das Bild des freien, starken, völlig auf sich gestellten Menschen – ein wahres (Zukunfts-)Bild, das jedoch durch sein Herabgezogenwerden auf die wirtschaftliche Ebene völlig pervertiert und in sein Gegenteil gewendet wird, denn der wahre freie Mensch wird gerade deswegen stark sein, weil er nicht mehr sich allein in den Mittelpunkt stellen muss, um seinen eigenen Mittelpunkt in sich zu tragen...

Und die zweite Tatsache hängt unmittelbar damit zusammen: Es ist die Tatsache, dass der Mensch heute noch nicht stark genug ist, um seinen Mittelpunkt in sich selbst zu tragen. Es kann sich nur wirklich fühlen, wenn er egoistisch handelt. Je egoistischer jemand handelt, desto mächtiger, stärker und autonomer kann er sich fühlen. Und daneben und wiederum eng damit verbunden wirkt im neoliberalen Dogma noch eine tief verborgene, kraftvolle Triebfeder: Der Reiz, der „Kitzel“ von Macht und Härte, vom Sich-Durchschlagen; der Reiz einer Welt des Kampfes aller gegen alle. Dies ist nicht nur ein furchtbares Bild, es ist auch mit jenem Kitzel verbunden, der es zwar für viele furchtbar macht, für einige aber durchaus reizvoll. Einige Menschen leben erst auf, wenn sie kämpfen können – und zwar ausdrücklich gegen andere, die sie niedertreten, die als Feinde und Opfer ihren Weg pflastern...

Überall in unserer Gesellschaft, insbesondere aber in der Arbeitswelt, sehen wir antisoziale, gegen den Mitmenschen gerichtete, ja oft geradezu sadistische Tendenzen. Das unsere Arbeitswelt prägende neoliberale Dogma führt zu einer enormen Verstärkung dieser Tendenzen. Niemals aber hätte die neoliberale Ideologie umgekehrt eine solche Stärke und Vorherrschaft erreichen können, wenn diese Tendenz nicht im Menschen selbst angelegt wäre. Der Neoliberalismus, unser Geldsystem usw. – das alles ist ein System, aber es ist alles von Menschen erdacht worden und wird einzig und allein von Menschen aufrechterhalten. Und selbst derjenige, der nach oben buckelt und nach unten tritt, ist zum einen ein Opfer und zum anderen ein Träger und Erhalter des „Systems“...

Merkels Politik – vom Dogma durchtränkt

In ihrer Regierungserklärung  vor der Abstimmung zum Fiskalpakt und zum ESM sagte Merkel [o]:

Schauen Sie – wenn ich das einfach noch einmal sagen darf –: Die Welt hat 7 Milliarden Einwohner. Alle möchten in Wohlstand leben. Als Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag gesprochen hat, gab es auf der Welt 2,5 Milliarden Einwohner. Wir Europäer waren 500 Millionen. Wir Europäer sind heute noch 500 Millionen. Wir stellen inzwischen noch 8 bis 9 Prozent – genau: 8,7 Prozent – der Welteinwohnerschaft. Wir erarbeiten 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt. Wir haben ungefähr 50 Prozent der Sozialleistungen auf der Welt. Wenn wir für dieses Sozialmodell, für das wir alle bzw. mehr oder weniger alle in verschiedenen Variationen einstehen, wenn wir für die soziale Marktwirtschaft der Zukunft kämpfen wollen, dann müssen wir sehen: Wir werden ohne Wettbewerbsfähigkeit den Wohlstand unseres Landes und Europas nicht erreichen.


Wettbewerbsfähigkeit ist kein Selbstzweck. Wettbewerbsfähigkeit sagt doch nicht anderes aus, als dass unsere Unternehmen in der Lage sind, auch außerhalb Deutschlands ihre Waren zu verkaufen: Autos von VW und anderen Automobilunternehmen, chemische Produkte und vieles andere mehr. Das bedeutet Wettbewerbsfähigkeit.

Es geht um Wettbewerb. Wettbewerb ist kein Selbstzweck – aber es geht darum, dass Deutschland und Europa im globalen Wettbewerb mithalten können... Wettbewerb ist kein Selbstzweck – aber ein Sachzwang. Es geht nicht etwa um Autos und chemische Produkte, sondern darum, wer sie verkaufen kann.

Nur wer global verkaufen kann, ja vielleicht sogar Exportweltmeister ist, kann sich ein Sozialsystem leisten. Das ist Merkels Aussage. Ohne Wettbewerbsfähigkeit kein Wohlstand, für die soziale Marktwirtschaft muss gekämpft (!) werden. Jeder gegen jeden, die europäischen Staaten zwar offiziell verbündet – aber dann gegen die übrige Welt. Das ist „Merkels Welt“.[16]

War nicht früher immer die Rede davon, die Globalisierung mehre den weltweiten Wohlstand? Nun sagt Merkel selbst, sie zwingt zu Konkurrenz und Kampf – zu Konkurrenzkampf. Aus dem Segen des weltweiten Zusammenwachsens und weltweiter Arbeitsteilung ist ein Fluch geworden, denn jeder will sich auf Kosten der anderen bereichern. Die Staaten der Erde wollen (oder können) nicht zusammenarbeiten, sie arbeiten gegeneinander, in Konkurrenz. Was ich habe, gebe ich dem anderen nicht; was der andere hat, kann ich nicht mehr haben.

Konkurrenz als unvermeidbarer Sachzwang – das ist die heutige Globalisierung, das ist der Neoliberalismus, der diese Globalisierung prägt und treibt, und das ist realiter das Credo Angela Merkels und ihrer CDU.

Wie schon Vivian Forrester in ihren großartigen Büchern nachgewiesen hat,[17] ist die Ideologie und innere Logik des Neoliberalismus absolut schizophren und menschenfeindlich. Diese Logik lautet: Es muss uns schlecht gehen, damit es uns gut geht. Oder: Damit wir weiter in Wohlstand leben können, müssen wir unseren Wohlstand auf ein Minimum senken. Oder: Wir müssen in den Lohnkosten mit China mithalten... Aus Angst vor China müssen wir selbst wie China werden...

Dieser Unterbietungswettbewerb ist nicht zu gewinnen. Auf dieses Dilemma hat Merkel keine Lösung – aber ein Mantram. Offenbar ist dieser Wettbewerb doch zu gewinnen... Und was passiert, wenn man ihn gewinnt? Dann kann man die global 50% Sozialleistungen (selbst wenn diese um der Konkurrenz willen nahezu abgeschafft wurden) halten, während die übrige Welt weiterhin ganz ohne auskommen muss? Wir können nur in Wohlstand leben, wenn die anderen weiter weit unter unserem Niveau bleiben? Das Versprechen der Globalisierung war doch ein anderes!

Der Wettbewerb nach unten – unbegrenzt

Der Unterbietungswettbewerb anderer Länder bräuchte uns überhaupt nicht kümmern, wenn wir einfach so produzieren würden, wie wir es tun – und dann auch die von uns hergestellten Produkte kaufen würden. Problematisch wird es, wenn wir um der Billigpreise willen z.B. chinesische Produkte kaufen und dann hier unseren Arbeitsplatz verlieren, weil unsere eigene Firma pleite macht. Ebenso problematisch ist es aber, wenn die Globalisierung dazu führt, dass wir so oder so unseren Job verlieren... Oder wenn unser Reallohn immer geringer wird, so dass wir uns ohnehin nur noch chinesische Produkte kaufen können... Die Globalisierung bietet also viele Dilemmata!

Aufzulösen wären sie nur, wenn an die Stelle der neoliberalen Globalisierung eine ganz andere Form der Globalisierung tritt – eine, die wirklich zum gemeinsamen Vorteil ist. Dann aber müsste Deutschland zuerst einmal selbst aufhören, so aggressiv um den „Erhalt“ des eigenen Wohlstands zu „kämpfen“.

Merkel tut so – wie jeder andere –, als sei der Wettbewerb einem nur „aufgezwungen“. Man selbst kämpft, weil alle anderen (einen be)kämpfen. Zugleich aber ergibt sich die merkwürdige Tatsache, dass Deutschland einer der allerstärksten Kämpfer der Welt ist. Wer treibt und zwingt hier also wen? Die Antwort liegt in der Tatsache, dass ganz ausdrücklich Merkel auch innerhalb Europas schon die Antreiberin ist. In Merkels Welt sind z.B. die Griechen faul, haben angeblich viel zu viel Urlaub – und sie und die anderen Staaten sollen die Lohnstückkosten erst einmal so weit absenken, wie Deutschland es mit seinem rapide ausgeweiteten Niedriglohnsektor geschafft hat.

Um den Irrsinn dieser Argumentation zu erleben, muss man sich nur einmal ausmalen, was passieren würde, wenn die anderen Länder dies wirklich täten und es wirklich schaffen würden, es Deutschland gleichzutun. Was würde passieren? – Die deutsche Wirtschaft (insb. Exportwirtschaft) würde ihre unangefochtene, herausragende Stellung wieder verlieren und der erbarmungslose Unterbietungswettbewerb würde noch unerbittlicher weitergehen! Deutschland wäre auf einmal nur noch „Mittelmaß“ und müsste noch stärker kämpfen. Man müsste, um „das Sozialsystem zu erhalten“ das Sozialsystem noch mehr abbauen...

Wenn alle um Konkurrenzvorteile kämpfen, müssen alle alles aufgeben, was sie jemals errungen hatten – denn es wird immer jemanden geben, der es als erster aufgibt, und dieser wird dann einen Konkurrenzvorteil haben ... bis andere es ihm gleichtun. Es kann immer nur ein Land „Exportweltmeister“ sein – und es hat diesen Rang immer auf Kosten aller anderen... Das ist das Wesen und die notwendige Konsequenz der Konkurrenz auf wirtschaftlich-materiellem Gebiet (dieser Wettlauf nach unten hat natürlich noch ein vollkommen entsprechendes Spiegelbild in Form von aktiver Macht und Gewalt, die immer da eingesetzt werden, wo es möglich ist: Einflussnahme, unlauterer Wettbewerb, Ausbeutung, Rohstoffsicherung, Kriegsführung...).

Der Wettbewerb, den uns die neoliberale, extremistische Form der Marktwirtschaft als „ohne Alternative“ hinstellt, ist von vornherein dazu bestimmt, alle Menschen in eine absolute Verarmung zu führen – alle außer jene absolute Minderheit, die gerade an diesem Rattenrennen (rat race) sehr gut verdient... Denn wie auch immer: Ob in einer durch und durch kooperativen, solidarischen, gemeinwohlorientierten Wirtschaft oder in der unerbittlichsten Konkurrenzwirtschaft: Es werden Waren produziert, es werden waren verkauft, und es werden waren bezahlt und Umsätze und Gewinne realisiert. Nur sind diese im letzteren Falle auf eine absolute Elite einzelner Weniger konzentriert, weil sich alle übrigen im gnadenlosen Unterbietungswettbewerb mitten auf dem Weg ins völlige Sklaventum befinden... Der Unterbietungswettbewerb ist nie zuende. Selbst wenn wir wieder zur Sklavenhaltergesellschaft zurückgekehrt wären, würde sich die Konkurrenz zwischen den Staaten mit gleicher Schärfe fortsetzen – wenn kein Umdenken einsetzt.

Die Tragödie beginnt – gegen Griechenland

Hier bei diesem Konkurrenzdenken liegt auch die Bruchstelle, die zur „Eurokrise“ geführt hat. Nach der offiziellen Lesart liegt sie bei den realen Unterschieden in der Wirtschaftskraft der einzelnen Länder. In jedem Falle ist die Krise nur durch folgendes Geschehen möglich:

Die einzelnen Staaten können Kredite nur auf den Kapitalmärkten aufnehmen. Dies geschieht über Staatsanleihen mit verschiedenen Laufzeiten. An den Kapitalmärkten bilden sich nun für verschiedene Anleihen verschiedene Zinsen aus, die „die Märkte fordern“. Der deutsche Staat musste für seine „soliden“ Anleihen schon immer weniger Zinsen zahlen als andere Staaten. Dennoch hielten sich auch für die anderen Staaten die erhöhten Zinsen – der sogenannte „Risikoaufschlag“ – in Grenzen. Das ganze war nie ein katastrophales Problem, auch wenn die Staatsverschuldung insgesamt – für alle Staaten – immer mehr ein ungeheures Problem wurde. Irgendwann aber geriet die Situation „außer Kontrolle“, und zwar am stärksten in Bezug auf Griechenland...

Es mag sein, dass Griechenland in Bezug auf bestimmte wirtschaftliche Parameter das relativ „schwächste Glied in der Kette“ der EU-Staaten gewesen ist – aber ein Staat ist immer in dieser Position. Das Problem ist, dass die Geschehnisse an den Finanzmärkten nicht rational sind, sondern spekulativ. Die „Rationalität“ besteht in dem bewussten Handeln, um durch Spekulation Profit zu erzielen. Die Akteure an den Finanzmärkten sind keine Wohltäter, die den Staaten Geld leihen, so wie ehemals die Großmutter ihr Geld in Pfandbriefen anlegte, um einen kleinen Ertrag zu haben, sondern die Finanzmärkte sind heute der Schauplatz einer ungeheuren Jagd nach dem größtmöglichen Profit in der kürzestmöglichen Zeit. Und sie verursachen die Entwicklung, die sie erreichen wollen – die Geschehnisse an den Finanzmärkten entwickeln eine Eigendynamik, gegen die ganze Staaten völlig machtlos sind.

Scheinbar rational und „objektiv“ sind die Bewertungen der Ratingagenturen, die in diesem Geschehen eine zentrale, machtvolle und zutiefst zweifelhafte Bedeutung haben.[18] Als sie die griechischen Staatsanleihen herabstuften und damit eine geringere „Bonität“ bzw. ein höheres Risiko signalisierten, begann der unaufhaltsame Anstieg der von „den Märkten“ geforderten Zinsen. Schließlich waren diese so hoch, dass der griechische Staat sich nicht mehr am Kapitalmarkt refinanzieren konnte, ohne in eine finanzielle Katastrophe zu geraten. Das ist ein Aspekt der hier gemeinten Eigendynamik: Staaten, die laut den Ratingagenturen angeblich „Probleme“ haben, bekommen diese Probleme durch das schlechtere Rating auch ganz real!

Es ist nichts anderes als die berühmte „Vertrauenskrise“, die auch den ganzen Bankensektor erfasst hat und an dem selbst Großbanken wie Bear Stearns zugrunde gingen.[19] Ihr Zusammenbruch binnen weniger Tage war die Folge einer unglaublich skandalösen „Berichterstattung“ durch den Sender CNBC, der Gerüchte über „mangelnde Liquidität“ der Bank aufgriff und aggressiv verbreitete. Der Fall von Bear Stearns zeigt drastisch, wie empfindlich das Finanzsystem und seine Akteure heute sind: Ein paar Gerüchte, und innerhalb einer Woche kann es „vorbei“ sein...

Gerade aus diesem Grund wurden die milliardenschweren Rettungsschirme aufgespannt – um den massenhaften Zusammenbruch von Banken zu verhindern. Der Hauptzweck der Milliardenkredite und -garantien war dabei ganz einfach, das völlig verlorene, so schwer fassbare, flüchtige Vertrauen zwischen den Banken wiederherzustellen!

Für Staaten galten diese Rettungsschirme jedoch zunächst nicht. Monatelang konnten die Ratingagenturen und in ihrem Gefolge die Spekulanten („die Märkte“) ihr böses Spiel mit Griechenland treiben – bis die Zinsen auf griechische Staatsanleihen so hochgetrieben waren, dass der griechische Staat sich an den Finanzmärkten definitiv nicht mehr refinanzieren konnte.

Ein Land bricht zusammen

Nach viel zu langem Zögern schlägt die Stunde der „Griechenlandhilfen“ – die in Wirklichkeit das Todesurteil für die Wiege der Demokratie sind. Nachdem Griechenland bei irrsinnig hohen Zinsen keine Kredite mehr aufnehmen kann, greifen die anderen Staaten dem Land „unter die Arme“ – doch nur gegen drastische Auflagen, gegen mörderische „Strukturreformen“, um – Orginalton! – „Griechenland Anreize zur Rückkehr zur Marktfinanzierung zu bieten“,[20] ganz so als wäre der gesamte Staat ein böser Faulenzer, der keine Lust hätte, sich an den Finanzmärkten zu finanzieren, die ihn gerade in den Ruin trieben! Man erinnere sich hier auch an die ebenso unsägliche Debatte um die angeblich unzähligen „Sozialschmarotzer“, die ebenfalls durch ein „Fördern und Fordern“ dazu angehalten werden sollen, sich wieder den „Arbeitsmärkten“ zur Verfügung zu stellen...

Die furchtbare „Troika“ aus EU-Kommission, EZB und IWF forderte von Griechenland die härtesten Kürzungsprogramme, die es in der jüngeren Vergangenheit überhaupt gab, und die – wie wir inzwischen wissen: notwendige – Folge war ..., dass das Land völlig zusammenbrach. Ich habe diese Katastrophe in Band I meines Werkes „Zeit der Entscheidung“ ausführlich geschildert. Und es ist wichtig, dass möglichst viele Menschen die Wahrheit kennenlernen:

Dass Angela Merkel die Hilfen für Griechenland monatelang verzögerte, um den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen nicht zu gefährden.[21] Dass extreme Armut und in ihrem Gefolge Rechtsradikalismus in Griechenland sprunghaft angestiegen sind.[22] Dass die Selbstmordrate in Griechenland ebenso sprunghaft um 17% zugenommen hat.[23] Dass auf deutsche Verhältnisse übertragen das Kürzungsprogramm bedeutet hätte, innerhalb von zwei Jahren 300 Milliarden Euro oder fast den gesamten Sozialetat zu streichen.[24] Dass jemand wie Außenminister Westerwelle angesichts all dessen nur von einer „manchmal bitteren“, dafür aber wirksamen Medizin sprach.[25] Dass führende Volkswirte  und Wirtschaftswissenschaftler immer wieder darauf hinweisen, jedes Prozent staatlich „gesparter“ Ausgaben ein halbes Prozent Einbruch der Wirtschaft nach sich zieht.[26]

Die schockierenden Tatsachen ließen sich weiter und weiter vermehren. Der Wahnsinn abstrakter Rezepte ist nicht mehr zu fassen. Er ist nur dadurch möglich, dass kaum jemand wirklich von diesen furchtbaren Tatsachen weiß und in der Realität erlebt, was sie bedeuten. Stattdessen überschlagen sich die Mainstream-Medien und Talkshows in theoretischen, toten Kommentaren und Analysen, die mit der Lebenswirklichkeit der Menschen in Griechenland (und natürlich den wirklichen Ursachen der Krise) nicht das Geringste zu tun hat!

Der Brand der Spekulanten erfasst Europa

Die „Griechenlandhilfen“ waren allenfalls ein Bekämpfen der Symptome – und die Nebenwirkungen der mit den „Hilfen“ verbundenen Auflagen waren tödlich. Vor allem hat all dies nichts geholfen, denn die Spekulation entdeckte notwendigerweise die nächsten Opfer: Wenn es möglich war, mit der angeblichen oder wirklichen Schwäche der griechischen Volkswirtschaft Profit zu machen, dann muss es doch auch mit Portugal und Spanien funktionieren – und als nächstes dann mit Italien... Und so stiegen auch hier die Zinsen bzw. Risikoaufschläge auf die Staatsanleihen dieser Länder immer weiter.

Deshalb musste der „Eurorettungsschirm“ am Ende doch geschaffen werden. Zunächst für weitere Kredite an Griechenland und Portugal, in Zukunft wahrscheinlich auch für direkte Hilfen an kriselnde Banken. Aber selbst die rund 500 Milliarden Euro an möglichen Garantien bzw. Krediten des permanenten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ ESM würden nicht reichen, wenn das große Italien „unter den Schirm“ müsste, d.h. sich nicht mehr an den Finanzmärkten finanzieren könnte – und diese Gefahr besteht ebenso wie die Gefahr, dass z.B. Griechenland schon in allernächster Zeit vollkommen zahlungsunfähig wird.

Dann beginnt der Euro auseinanderzubrechen, denn dann steht das Szenario an der Wand, dass Griechenland zur Drachme zurückkehren und diese gegen den Euro abwerten muss, um mit diesem neuen Wechselkurs wieder eine konkurrenzstärkere Exportwirtschaft zu haben. Dieser Weg jedoch würde das Land nur um so schneller in den volkswirtschaftlichen Ruin treiben: Unter anderem würden sich im Gegenzug die Importe verteuern, die Kapitalflucht ins Ausland würde noch mehr als jetzt explodieren, und die heimische Wirtschaft könnte vom starken Euro regelrecht aufgekauft werden.

Die unglaublichste Tatsache aber ist, dass diese furchtbaren Szenarien ganz und gar verhindert werden könnten, wenn man sich nur zu Maßnahmen durchringen würde, die einem schon der gesunde Menschenverstand nahelegt:

1. Herausgabe von „Eurobonds“, d.h. gemeinsamer Staatsanleihen aller EU-Staaten, so dass Spekulanten nicht mehr unterscheiden können und dadurch nicht mehr einzelne Länder isolieren und in den Ruin spekulieren können. Oder noch radikaler (an die Wurzel gehend):

2. Abschaffung der Spekulation z.B. dadurch, dass Staatsanleihen oder Risikopapiere usw. nicht einfach innerhalb von Sekunden ge- und verkauft werden können, sondern wenn gekauft, auch gehalten werden müssen. Und genauso radikal:

3. Eine direkte Finanzierung der Staaten nicht über die „freien Finanzmärkte“, sondern über die Europäische Zentralbank – die bisher nur privaten Banken direkte, unglaublich günstige Kredite gewährt, während die Staaten sich zu viel höheren Zinsen an den Finanzmärkten, d.h. über ebendiese privaten Banken zu finanzieren haben!

Die Politik der deutschen Härte

Gegen „Eurobonds“ wehrt sich vor allem Angela Merkel – denn sie will den deutschen „Zinsvorteil“ (also die extrem niedrigen Zinsen auf deutsche Staatsanleihen) für sich behalten. Zudem steht sie offenbar auf dem Standpunkt, dass mit Eurobonds diejenigen Staaten „belohnt“ würden, die ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht haben und – so die notwendige Logik – von den Finanzmärkten ganz zu recht „abgestraft“ würden. (Und die Punkte 2 und 3 würden von Merkel wahrscheinlich zu völlig wahnwitzigen, unmittelbar in den Kommunismus führende Absurditäten erklärt werden).

Soviel Widersinn und nationaler Egoismus ist unfassbar. Denn entweder man will den Euroverbund retten, oder man will es nicht. Man kann ihn nicht sowohl retten wollen, als auch die angeblich „faulen“ Länder bestrafen wollen – denn die „Anpassungsmaßnahmen“, um die es geht, führen gerade in den Untergang!

In Merkels Welt jedoch sind diese Dinge vereinbar. Merkel stellt Deutschland als den starken Stabilitätspol Europas hin, dessen „Solidität“ alle anderen Staaten zu übernehmen hätten – durch harte Anpassungsmaßnahmen, die die Deutschen auch durchgemacht und nun schon hinter sich hätten. Und das bedeutet: Hartz IV, Flexibilisierung der „Arbeitsmärkte“, Zwang zur Annahme jedweder Arbeit, Niedriglohnsektor, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und, und, und...

Auf diese Weise ist die emotionslos, visionslos, gleichsam völlig amorph regierende Angela Merkel ganz und gar zur Erfüllungsgehilfen von Interessen geworden, denen es nur um den maximalen Profit geht und die das wahre Europa gerade vernichten und absolut unsichtbar machen.

Und diese deutsche Härte, die in der Geschichte schon unzählige schlimme Vorbilder hatte (man denke nur an Preußen und den Nationalsozialismus, aber auch die DDR-Diktatur und den radikalen westdeutschen Antikommunismus sowie in jüngster Vergangenheit das von Rot-Grün eingeführte menschenverachtende Hartz-IV-System) ist nun ausgerechnet ... eine wesentliche Ursache der Eurokrise!

Wie ist das möglich? Der „Musterknabe“ als Verursacher der Krise? Nun, der Mechanismus ist eben ein ganz ähnlicher wie der, der in der Schule „Musterknaben“ und „Versager“ verbindet. Der eine bedingt den anderen. Je mehr der eine sich heraushebt und hervortut, desto mehr stößt er den anderen in die Tiefe... In bezug auf die EU hat dies ganz handfeste volkswirtschaftliche Zusammenhänge. So wie jedem Vermögen notwendigerweise irgendwo anders Schulden gegenüberstehen, ebenso stehen jedem Exportüberschuss notwendigerweise Leistungsbilanzdefizite gegenüber. Der Exportweltmeister bedingt unmittelbar die Länder am anderen Ende, die sozusagen auf ihren Exportgütern sitzengeblieben sind – und so das schwächste Glied der Kette darstellen, an denen dann wiederum die Spekulanten angreifen...

Selbstverständlich gibt es in Griechenland auch viel Korruption, ist die Steuereinziehung ganz mangelhaft und der Arbeitsmarkt vielleicht noch nicht so flexibilisiert wie in Deutschland. Aber ebenso selbstverständlich haben deutsche Konzerne die Korruption in ihrem Sinne ausgenutzt und regelmäßig Schmiergelder gezahlt;[27] gibt es auch in Deutschland massive Steuerhinterziehung und wird von höchsten Stellen ein wirksames Vorgehen dagegen sogar verhindert;[28] ist sogar Merkels Ziehvater Helmut Kohl über eine ungeheure Parteispendenaffäre gestürzt ... und ist und bleibt der flexible, menschenverachtende, die Profite maximierende deutsche „Arbeitsmarkt“ gerade der Kern des Problems. Man verabschiede sich also von jedweder Verlogenheit und sehe den Tatsachen ins Auge!

Die tödliche deutsche Konkurrenz

Inzwischen haben immer mehr Fachleute erkannt, dass die Europäische Union ohne eine Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit nicht funktionieren kann, weil jeder Unterschied von Spekulanten in der Weise genutzt wird, wie es im Falle Griechenlands geschah: Das schwächste Mitglied der (europäischen) Gemeinschaft wird auf dem Altar des Profits geopfert...

Das ist auch der Kern dessen, was Merkel fordert: Die Wettbewerbsfähigkeit muss sich angleichen. Sie fordert, alle anderen Staaten müssten so „gut“ werden wie Deutschland. Wieder einmal also soll „am deutschen ‚Wesen’ die Welt genesen“. Dass es auch umgekehrt sein könnte – und nur so möglich ist –, kommt Merkel nicht in den Sinn. Als neoliberale Fundamentalistin kann sie nur in Konkurrenz-, Kampf- und damit Blut-und-Tränen-Kategorien denken. Unmöglich ist ihr der Gedanke, dass all dies – die ganze deutsche Konkurrenztreiberei – geradezu die Ursache für die Krise sein könnte und dass es darauf ankäme, dass sich die deutschen Verhältnisse wieder an den europäischen Durchschnitt angleichen!

Und es kommt noch schlimmer: Die uneinholbare deutsche Vorsprung in der „Konkurrenzfähigkeit“ ist nicht nur die Ursache für die Not der Länder an der „Peripherie“, der heute so oft verächtlich genannten „Südländer“, sondern in derselben Weise und kausalen Ursachenkette die Not für die deutsche Binnenwirtschaft selbst!

Was zunächst ganz paradox klingt, beruht nur auf einer weiteren unauflöslichen Entsprechung: Ein starker Wettbewerbsvorteil im Export führt zu einer Schwächung der Binnenwirtschaft. Warum? Weil der ungeheure Exportüberschuss auf extrem niedrigen Lohnstückkosten beruht und dies wiederum nichts anderes bedeutet, als dass (neben einer hohen Produktivität) eben auch die Löhne in Deutschland sehr niedrig sind, d.h. in den letzten zehn Jahren mit dem ununterbrochenen Produktivitätsanstieg überhaupt nicht mithielten, vielmehr in vielen Fällen real, d.h. inflationsbereinigt, sogar noch gesunken sind!

Das ist ja gerade der Kern der Wettbewerbsfähigkeit! Profite für wenige, Stagnation und Senkung der Löhne für viele. Die zynischen neoliberalen Ideologen nennen das dann „Lohnmoderation“ (von moderat = bescheiden, beschränkt)... Wenn also Deutschland Exportweltmeister ist und BILD und andere reaktionäre Medien uns weismachen wollen, dass „die deutsche Wirtschaft brummt“, so ist dies alles nur darauf zurückzuführen, dass es der großen Mehrheit der Menschen immer schlechter geht und diese Mehrheit an dem erarbeiteten Wohlstand gar keinen Anteil mehr hat, weil die ganzen Profite sowohl aus dem „Exportweltrekord“ als auch aus der Binnenwirtschaft bei den arbeitenden Menschen gar nicht mehr ankommen! Dies aber bricht ebendieser Binnenwirtschaft das Genick, denn wenn die Menschen kein Geld haben, die hergestellten Waren und angebotenen Dienstleistungen auch zu kaufen, dann kommt es volkswirtschaftlich zur Implosion – man kann auch Deflation sagen.

Die Unfähigkeit, einfache Grundwahrheiten zu erkennen

Deutsche Überschüsse und griechische Defizite entsprechen sich also wirklich spiegelbildlich. Die Griechen werden die deutsche „Wettbewerbsfähigkeit“ niemals erreichen. Schon die bisherigen „bitteren Medizinen“, „Rosskuren“ und „finanziellen Chemotherapien“ haben das Land, das einst die Wiege der Demokratie war, in eine Katastrophe getrieben. Die Wirtschaft wird nicht leistungsfähiger, sondern sie bricht zusammen! Wie soll eine Wirtschaft konkurrenzfähig werden, wenn die Unternehmen pleite machen und die Menschen obdachlos werden?

Die reale Logik realer Lebensverhältnisse will den neoliberalen Ideologen nicht in den Kopf. Sie können nur in abstrakten ökonomischen Maßstäben denken: Man senke die Löhne, man flexibilisiere den Arbeitsmarkt, man entrechte die Arbeitenden, und die Wirtschaft wird leistungsfähiger. Die letzten fünfzig Jahre haben in unzähligen Fällen gezeigt, dass diese Gleichung in unzähligen Fällen nicht stimmt. Das kann die Ideologen aber nicht daran hindern, mit eiserner Entschlossenheit daran festzuhalten. Wenn die Medizin nicht wirkt, dann ist nicht die Medizin fehlerhaft, sondern der Patient, das heißt die Wirklichkeit...!

Alle Ökonomen, die auch nur annähernd einen Bezug zur realen Wirklichkeit haben, weisen jedoch auf ebendiese Tatsache hin: Dass es unmöglich ist, dass Griechenland je das deutsche Niveau an „Konkurrenzfähigkeit“ erreicht, und dass es in Bezug auf das Ziel der Angleichung vor allem darauf ankäme, dass sich Deutschland wieder auf ein vernünftiges Maß zubewegt – und das bedeutet zuallererst: Die jahrelange „Lohnmoderation“ ausgleicht und die ungeheuren Produktivitätsanstiege auch an die arbeitenden Menschen weitergibt.

Wohlstand entsteht nicht aus dem Export, Wohlstand entsteht aus dem gesamten wirtschaftlichen Zusammenhang – Wohlstand entsteht vor allem dann, wenn die Menschen das Geld haben, den erarbeiteten Wohlstand auch erwerben zu können!

Diese unglaublich einfache Grundwahrheit ist etwas, was zwar schon Grundschulkinder begreifen könnten, aber offenbar nicht neoliberale Ideologen! Sofern diese nicht ohnehin ganz bewusst den Interessen des „Kapitals“ dienen, scheinen sie demselben Fehlschluss zu unterliegen wie jener Mensch, der die absolute Sicherheit suchte und darüber das Leben vergaß. „Wenn wir auf allen Wohlstand verzichten, dann können wir es sogar mit China aufnehmen – und dann wird es uns gut gehen und wir können unseren Wohlstand halten...“. Das können wir eben gerade nicht – sondern dann werden wir genauso arm sein wie China...

Man sollte diese unglaubliche Un-Logik, diese furchtbare Paradoxie immer wieder durchdenken, um sie immer tiefer erleben zu können. Und man sollte zugleich immer mehr die wirkliche Lebensrealität unseres Landes und großer Teile seiner Bevölkerung zur Kenntnis nehmen – z.B. mit Hilfe der teilweise erschütternden Artikel in meiner Linksammlung zur sozialen Frage [o]. 

Was ist zu tun?

Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte und die Tatsache, dass diese durch unproduktive Spekulation in Profite verwandelt werden können, während ebendiese Spekulation für die realen Staaten und Wirtschaftsverhältnisse katastrophale Folgen hat, ist der Kern des Problems. Mögliche Gegenmaßnahmen müssen sich auf diesen Kern des Problems beziehen. Ein hervorragender Artikel der Volkswirtin Friederike Spiecker, ehemalige Schülerin von Heiner Flassbeck, dem Chefvolkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf, richtet den Blick genau auf diesen Punkt. Spiecker schreibt:[29]

Wieder ist ein EU-Gipfel vorbei und wieder reibt sich der Beobachter verwundert den Sand aus den Augen, der dort verstreut wurde. Eine Bankenunion mit gemeinsamer Aufsicht und gemeinsamer Einlagensicherung und eine leichtere Rekapitalisierung klammer Banken durch die Rettungsfonds sollen die Euro-Krise beenden helfen? Wenn das die Mittel der Wahl sind, warum kommt man erst jetzt darauf? [...]
Was mit dem Gipfel allerdings erreicht wurde, ist das Eröffnen eines neuen Nebenkriegsschauplatzes, der Medien und Publikum von den zwei eigentlich zentralen Themen ablenkt und dadurch verhindert, dass sie sinnvoll bearbeitet werden: die Regulierung der Finanzmärkte und die nicht-deflationäre Wiederangleichung der Wettbewerbsfähigkeit der EWU-Mitgliedsstaaten. Das erste Thema würde die Debatte um die Bankenunion obsolet machen, [...] die Abgründe zuschütten, in die derzeit Banken ganze Staaten und sich gegenseitig reißen können. Dann müsste man sich auch nicht mehr darüber unterhalten, ob und welche einfachen oder doppelten Netze unter derlei ökonomisch unproduktive Drahtseilakte gespannt werden sollen, um Abstürze zu verhindern. Würde die Politik den von ihr so oft angebrachten Satz, die Finanzmärkte müssten der Realwirtschaft wieder dienen und dürften sie nicht mehr beherrschen, ernst nehmen, wären hier längst die Weichen in Richtung Ende des Finanzkasinos gestellt worden.


Und auch Spiecker betont in Bezug auf die „Sparprogramme“:

Doch stellt sich diese Krisentherapie immer mehr als Irrweg heraus, weil Sparmaßnahmen und Strukturreformen kurzfristig die Rezessionen in allen Krisenstaaten so verschärfen, dass sich die angeblich langfristig winkenden Früchte dieser Durststrecken als ökonomisch unerreichbar  [...] erweisen.


Dann benennt sie klar die unheilvolle Wechselbeziehung im Außenhandel:

Wer die Währungspartner beim Preisniveau insgesamt dauerhaft unterbietet, der baut ihnen gegenüber Wettbewerbsvorteile auf, die die Partner in eine anhaltende Auslandsverschuldung treiben. [...] Und eine Begrenzung und erst recht eine Reduktion dieser Schulden- und Vermögenspositionen erfordern, dass sich die Wettbewerbsverhältnisse zugunsten der Schuldnerländer und zuungunsten der Gläubigerstaaten verschieben müssen. 

Das heißt nichts anderes als: Deutschland muss seine Spitzenposition bewusst und freiwillig aufgeben, damit sich die zwischenstaatlichen volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte überhaupt wieder abbauen können!

Spiecker kritisiert die bisherige Politik scharf und verweist auf enorme Gefahren:

Es leiden nicht nur die Bürger der Krisenstaaten unter der verheerenden Krisenpolitik der Regierungen, die die EZB mitgetragen und aktiv mitbetrieben hat, sondern die EZB bringt sich auf diese Weise selbst um ihre Daseinsgrundlage, den Euro. Dass bei dieser Gelegenheit auch die Marktwirtschaft als das Wirtschaftssystem und die Demokratie als das politische System Europas in einem oder mehreren Ländern schweren Schaden nehmen können, ist nicht mehr auszuschließen.


Dann wird sie noch deutlicher. Die Alternative zu starken deutschen Lohnerhöhungen ist das Auseinanderbrechen der Eurozone. Dies aber würde die deutsche Exportwirtschaft erst recht massiv schädigen, weil die starke deutsche Währung deutsche Exporte für andere Staaten erst recht sehr teuer machen würde.

Ganz zu schweigen von den katastrophalen Folgen der durch einen Euro-Crash höchstwahrscheinlich ausgelösten weltweiten Finanzkrise für die Realwirtschaft, im Vergleich zu der die Finanzkrise nach der Lehmann-Pleite ein Spaziergang gewesen sein dürfte. Die überraschende Einmischung des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble in die Tarifverhandlungen der Metallindustrie zugunsten der Arbeitnehmer zeigt, dass ein Einlenken auf höchster Ebene möglich ist.[30] Der vereinbarte Lohnabschluss selbst [+4,3%, H.N.] macht dagegen weniger Hoffnung, dass eine zügige Anpassung gelingen wird.


Zuletzt kommt Friederike Spiecker zu einem absolut schockierenden Resumée, das hier in Gänze zitiert werden soll:

Leider ist es [...] nicht wahrscheinlich, dass die Rettung des Euro noch gelingt. Zu langsam und zaghaft und damit zu unverständlich für Medien, Wähler, Regierungen und Tarifpartner kommen die überfälligen Kurskorrekturen. Sie werden nicht nur von den Zinsspreads [d.h. den „Risikoaufschlägen“, H.N.] an den Finanzmärkten und den Arbeitslosenzahlen in Südeuropa überholt, sie werden vor allem von den politischen Prozessen in Europa überrollt, die die katastrophale Krisenpolitik heraufbeschworen hat. Da helfen auch Diskussionen über Wachstumspakete mit und ohne öffentliche Ausgabenprogramme, Investitionsförderung oder Einlagensicherungsfonds mit supranationaler Bankenkontrolle nicht mehr. Sie kommen zum einen viel zu spät, als dass sie die Schäden auch nur ansatzweise ausgleichen könnten, die inzwischen im Privatsektor der Krisenländer entstanden sind und das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zerstört haben. Zum anderen befassen sie sich alle sozusagen mit Nebenkriegsschauplätzen, es fehlt ihnen allen der Ansatzpunkt an der Wurzel der Eurokrise, dem Problem divergierender Wettbewerbsfähigkeit. Das wird besonders dort deutlich, wo von der zu steigernden Wettbewerbsfähigkeit Europas insgesamt gegenüber dem Rest der Welt als Ausweg aus der Misere die Rede ist.[31] Wer sich das zum Ziel setzt, der will die deutsche Unterbietungsstrategie auf europäischer Ebene, sozusagen eine Nummer größer, wiederholen. Derjenige hat also nichts aus der Euro-Krise gelernt. Er übersieht obendrein, dass diese Strategie wegen – man ist versucht zu sagen: dank – der Wechselkurse nicht so einfach wiederholbar ist wie im Fall Deutschlands innerhalb der EWU.
Nur mit dem Mut zu einer offensiven öffentlichen Kehrtwende hat die EZB [Europäische Zentralbank] noch eine kleine Chance, den Euro retten zu helfen. [...] Die EZB muss kämpfen – um ihr eigenes Überleben und damit für ein friedliches Europa.


Man kann es auch in den Worten von Peer Steinbrück sagen, mit denen er schon vor drei Jahren auf die Krise von Lehman Brothers reagierte:[32]

Diejenigen, die mit Blick auf die Finanzkrise voreilig von Licht am Ende des Tunnels gesprochen haben, müssen nun feststellen, dass das in Wirklichkeit der entgegenkommende Zug war.

Zusammenfassung und Ausblick

Durch die letzten Abschnitte sollte ganz deutlich geworden sein, dass die „Eurokrise“ eine Krise der Lohnungleichgewichte ist – dass dieses Ungleichgewicht zu einem Ungleichgewicht in der Leistungsbilanz der EU-Staaten führt, und dass an diesem Ungleichgewicht wiederum die Ratingagenturen und die Spekulanten ansetzen. Durch die Eurokrise wird deutlich, dass eine „Europäische Wirtschaftsunion“ eben weit mehr bedeutet als eine Freizügigkeit von Waren und Dienstleistungen. Sie würde bedeuten: Eine Zusammenarbeit in Bezug auf die „Lohnpolitik“.

Das oberste Ziel der Europäischen Zentralbank war die Stabilität des Euro, indem die Inflationsrate unter 2% gehalten wird. In Deutschland wurde dieser Wert jahrelang unterboten, weil die Löhne sich trotz wachsender Produktivität nicht erhöhten. Niedrige Löhne und niedrige Preise führen aber gerade zu Konkurrenz- und damit Handelsungleichgewichten – nämlich zu Defiziten anderer Länder. Es ist also sehr wichtig, dass von der gemeinsamen Inflationsrate auch nach unten hin nicht abgewichen wird – und noch wichtiger wäre eine zusätzliche direkte Koordination der Lohnverhältnisse bzw. der richtigen Verhältnisse zwischen den Löhnen und der Produktivität. Mit anderen Worten: Es müsste in allen Staaten dafür gesorgt werden, dass der Produktivitätsanstieg den arbeitenden Menschen zugute kommt – auch in Deutschland.

Aber selbst dies ist noch nicht die volle Lösung der Probleme. Es ist zusammen mit einer Regulation der Finanzmärkte (Abschaffung der Möglichkeiten schädlicher Spekulation) die Lösung für die unmittelbaren Ursachen der Eurokrise, nicht aber für die Ungerechtigkeiten des gegenwärtigen Geld- und Wirtschaftssystems. Ich habe in diesem Aufsatz auf weitere Aspekte hingewiesen: Auf die wirtschaftliche Macht des Geldes und auf die unfassbare Selbstvermehrung von Vermögen.

Die strukturelle Macht des Geldes wird immer wieder dazu führen, dass der gemeinsam produzierte Wohlstand nicht in gerechter Weise aufgeteilt wird. Dem wird man nur begegnen können, wenn Kapital kein Machtfaktor mehr ist. Dies wiederum ist nur möglich, wenn menschliche Arbeit ihren Warencharakter verliert. Solange der Mensch faktisch gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, wird Kapital immer Macht haben und einer menschlichen Gestaltung der Gesellschaft entgegenwirken.

Dieser ganze Zusammenhang kann hier nicht weiter ausgeführt werden, aber man wird hier in Zukunft zu ganz anderen Gedanken über die Frage des Eigentums und der Nutzung von Produktionsmitteln kommen müssen – nicht im Sinne kommunistischer Ideologien, aber im Sinne von Rudolf Steiners Dreigliederungsimpuls: Im Sinne von das Kapital verwaltenden Organen eines realen freien Geisteslebens, wie es im Keim in der heute sich bildenden Zivilgesellschaft angelegt ist.

Die Selbstvermehrung von Vermögen arbeitet ebenfalls der gerechten Verteilung des gemeinsam erarbeiteten Wohlstandes entgegen. Die Tatsache, dass heute tatsächlich die reichsten 10 Prozent unserer Gesellschaften allein schon durch Zinseinnahmen einen außerordentlich hohen Lebensunterhalt realisieren, für den alle übrigen 90 Prozent arbeiten müssen, ist eine derart unglaubliche Realität, dass man sich geradezu weigert, sie für wahr zu halten und wirklich zu erfassen, was damit eigentlich gesagt ist. Es ist aber eine Wahrheit, und diese Wahrheit besagt, dass diese reichsten 10 Prozent eigentlich überhaupt nicht arbeiten müssen, weil andere es für sie tun! Und dies sogar so umfassend, dass enorme monatliche Einkünfte zustande kommen.

Ein neoliberales Lieblingszitat zum Abschluss

Auf der Blogwebseite der neoliberalen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ [o] stand ganz oben am 7. Juli das folgende Zitat des ehemaligen FDP-Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff:

Unsozial sind öffentliche Verschwendung, das Setzen von Fehlanreizen und Leistungsversprechen zulasten unbeteiligter Dritter.


Dies ist eine Aussage, mit der Lambsdorff am 18.9.1999 [o] vor einem ausufernden Sozialstaat warnte, der den Menschen die Eigenverantwortung abnimmt. Die Problematik ist deutlich, doch das Hauptproblem in unserer Zeit ist nicht die mangelnde Eigenverantwortung, sondern die versagende gesellschaftliche Verantwortung, den gesamten Bereich der Arbeitswelt vollkommen anders zu gestalten. Angesichts der heutigen Demütigungen und Schikanen und dem eklatanten Mangel an Erwerbsarbeitsplätzen ist es eben zynisch, vor allem auf die Eigenverantwortung zu verweisen. Unzählige Einzelne sind heute Opfer eines Systems, für das wir alle Verantwortung tragen – insbesondere aber diejenigen Politiker, die von der Gesellschaft das Mandat erhalten haben, die gesellschaftlichen Strukturen so zu gestalten, dass sie dem Menschen dienen und nicht umgekehrt...

Das Problem von Sätzen über die Selbstverantwortungsfähigkeit des Menschen ist, dass sie von neoliberalen Denkern furchtbar missbraucht werden können. In einem System, in dem der Stärkere siegt und in dem es unzählige Opfer gibt, bedeutet der Satz von der Eigenverantwortung, dass die Opfer selbst schuld sind. Der Zusatz von der „Hilfe in Notlagen“ kann den Missbrauch absolut nicht verhindern. Denn die entscheidende Frage ist: Was sind Notlagen und was ist ein ausufernder Sozialstaat? Wir haben in den heutigen Staaten mit ihrer enormen strukturellen Arbeitslosigkeit einen enormen Sektor struktureller Notlage – dadurch wird die Eigenverantwortung des Einzelnen etwas sehr Relatives...

Das Lambsdorff-Zitat kann aber durchaus auch in ganz anderem Sinne verstanden werden – nämlich unmittelbar bezogen auf die Finanzkrise als eine scharfe Kritik an allen Bankenrettungsschirmen! Mit Recht haben viele Experten auf den „moral hazard“ aufmerksam gemacht – auf die Tatsache, dass jeder Rettungsschirm die Banken ermutigen wird, ihre hochriskanten Spekulationsgeschäfte fortzuführen. Es handelt sich also um klare Fehlanreize und ganz offensichtlich um Leistungsversprechen zulasten unbeteiligter Dritter, nämlich der Bürger, die für die „zockenden Banken“ bürgen dürfen... Und in ebendiesem Sinne hat Lambsdorff selbst im Zuge der Bankenkrise am 1.12.2008, ein Jahr vor seinem Tod, gesagt:

Individuelles Zockertum ist jedem unbenommen, aber es darf nicht sein, dass der Staat diesen Zockern bei Verlusten unter die Arme greift: Der Markt kann Gier belohnen, der Staat darf es nicht.

Und schließlich kann man sein Zitat auch noch voll und ganz auf das heutige Zinssystem übertragen und nochmals sagen: Unsozial sind öffentliche Verschwendung, das Setzen von Fehlanreizen und Leistungsversprechen zulasten unbeteiligter Dritter.

Die öffentliche Verschwendung besteht darin, dass der Staat heute bereits viel, viel mehr an Zinsen gezahlt hat, als er jemals in der ganzen Nachkriegsgeschichte an Krediten aufgenommen hatte. Die Schulden wurden niemals zurückgezahlt, aber Jahr für Jahr immer höhere Zinssummen. Mit anderen Worten: Der Staat hätte in den letzten Jahrzehnten insgesamt mehr Geld für gemeinnützige Aufgaben ausgeben können, wenn er niemals Kredite aufgenommen hätte! Und nebenbei wäre er dann heute auch noch schuldenfrei. Stattdessen zahlt er jährlich 60 Milliarden Euro an Zinsen – welch eine öffentliche Verschwendung!

Die Fehlanreize bestehen darin, dass der Zins das Signal setzt, es würde sich lohnen, Vermögen anzuhäufen, um selbst nicht damit zu wirtschaften, sondern andere für sich arbeiten zu lassen – denn nichts anderes ist der Zins. Zins ist leistungsloses Einkommen, selbstverständlich ohne Notlage (vielmehr aus der Notlage anderer Profit schlagend), und damit eindeutig ein Fehlanreiz!

Das Leistungsversprechen zulasten unbeteiligter Dritter besteht darin, dass der Zins heute in sämtlichen Preisen, Mieten etc. enthalten ist. Wir allen zahlen die ungeheuren Zinseinkünfte der reichsten 10 Prozent – nicht nur die unmittelbaren Kreditnehmer, denn diese legen ihre Verschuldung ja auf die Preise ihrer Produkte um (sofern sie Produzenten sind). Selbst wenn wir also keine Kreditnehmer sind, sondern unbeteiligte Dritte, gibt das Geldsystem dem Vermögensbesitzer auch zu unseren Lasten das Versprechen stetiger Geldvermehrung. Ja, es braucht im Grunde überhaupt keinen Kreditnehmer geben – die Vermögen der Vermögenden müssten sich trotzdem vermehren, zu Lasten aller anderen, unbeteiligten Menschen, die diese Vermehrung irgendwie erarbeiten müssen.

Nehmen wir also die Neoliberalen ernst und fordern mit ihnen: Keine falschen Leistungsanreize! Stoppt die Rettung maroder Banken! Stoppt die leistungslosen Einkommen der Spekulation! Stoppt die drastisch überhöhten leistungsverzerrten Profite durch ungerechte Lohnverhältnisse! Stoppt die leistungslosen Vermögenstransferleistungen von Arm zu Reich durch den Zins!

Anmerkungen


[1] Ein Symptom dafür ist die konkurrenzlose Popularität der „Kanzlerin“: Herdenstimmung: Die Deutschen lieben Angela Merkel (Florian Rötzer, Telepolis, 6.7.2012). [o]

[2] Der offene Brief der Ökonomen im Wortlaut. FAZ.net, 5.7.2012. [o]

[3] Siehe Wikipedia [o], aber z.B. auch: Der Einzelkämpfer. DIE ZEIT, 30.3.2006. [o]

[4] Hans-Werner Sinn, die Euro-Krise und der Stammtisch. FTD.de, 6.7.2012. [o]

[5] "Der Text ist ein richtiges Ärgernis"  (Rudolf Hickel im Interview, jW, 7.7.2012). [o]

[6] Wird 2012 ein Super-Lohn-Jahr? BILD.de, 3.1.2012. [o]

[7] "Der Text ist ein richtiges Ärgernis", siehe oben.

[8] Rudolf Hickel: Zerschlagt die Banken: Zivilisiert die Finanzmärkte. Econ Verlag, Februar 2012, 224 S., 15 €. [o]

[9] siehe mein Buch „Zeit der Entscheidung“, S. 225-239. 

[10] Rede am 17.8.2009 in Berlin. Merkel deutet Verschwörung der Finanzelite an. Youtube-Video. [o]

[11] siehe mein Buch „Zeit der Entscheidung“, Band I, insb. S. 149-186.

[12] Bundestagsdebatte am 29.06.2012 über den Europäischen Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt. Text | Video.

[13] Siehe ausführlich mein Buch „Zeit der Entscheidung“, Band II, insbesondere S. 441-514 zur Verteilungsfrage und S. 611-646 zur Frage des Zinsgeldsystems und der Alternative.

[14] Siehe meine Kontroverse mit Jens Berger vom August/September 2011. [o]

[15] Vermögen der Deutschen entspricht Europas Schulden. manager magazin, 15.2.2012. [o]

[16] Jens Berger: Merkels Welt. NachDenkSeiten, 3.7.2012. [o]

[17] Siehe meine Buchbesprechung zu „Die Diktatur des Profits“. [o]

[18] Siehe mein Buch „Zeit der Entscheidung“, vor allem S. 171ff und 263ff., sowie zum Beispiel Werner Rügemer: Rating-Agenturen: Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart. Transcript-Verlag, April 2012, 200 S., 18,80€. Derselbe: Ratingagenturen – ein zutiefst korruptes System. NachDenkSeiten, 12.7.2011. [o]

[19] Siehe „Zeit der Entscheidung“, S. 129-134.

[20] Statement on the support to Greece by Euro area Members States vom 11.4.2010. [o]

[21] Stephan Kaufmann: Deutsche Politik treibt Misere voran. FR online, 13.7.2011. [o]

[22] Siehe z.B. Niels Kadritzke: Brief aus Athen. Le Monde diplomatique, 8.7.2011 [o], auch wenn starke Zivilcourage offenbar erfolgreich Widerstand leistet [o].

[23] Finanzkrise treibt Menschen in den Selbstmord. FTD, 8.7.2011. [o] | Stuckler D u.a.: The public health effect of economic crises and alternative policy responses in Europe: an empirical analysis. Lancet 2009, 374: 315-323. [o]

[24] Interview mit Peter Bofinger: „Die Griechen haben genug gespart“. Süddeutsche.de, 21.6.2011. [o]

[25] Euro-Staaten drängen Athen. n-tv, 20.6.2011. [o]

[26] Stefan Kaiser: Sparfluch schadet Europa mehr als den USA. Spiegel.de, 3.8.2011. [o]

[27] Siehe z.B. Griechenland, das Diktat von IWF und EU und die deutsche Verantwortung. Positionspapier des Wissenschaftlichen Beirates von Attac Deutschland, 7.5.2010 [o]. Dabei war Bestechung im Ausland bis 2002 nicht nur zulässig, sondern sogar steuerlich abzugsfähig, also „unternehmenspolitische Realpolitik“!

[28] Siehe z.B. Inside Steuerfahndung (Rezension von Jens Berger, NachDenkSeiten, 8.6.2011). [o]

[29] Friedericke Spicker: Die wilde Debatte der Professoren lenkt ab vom Wesentlichen. NachDenkSeiten, 6.7.2012. [o]

[30] Schäuble für klares Lohnplus. Süddeutsche.de, 6.5.2012. [o]

[31] Originalfußnote: EZB-Präsident Draghi wies auf diese Möglichkeit in der Pressekonferenz am 5.7.2012 selbst hin: “We agree that (…) structural reforms to boost competitiveness remain key economic priorities.” (siehe hier). Vgl. dazu etwa auch die an die Lissabon-Strategie anknüpfende Wachstumsstrategie EUROPA 2020 der EU-Kommission, in der es heißt: „Die Europäische Union arbeitet intensiv und entschlossen daran, die Krise zu überwinden und die Grundlagen für eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft mit mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu legen.“ (siehe hier)

[32] Zu grelles Licht am Ende des Tunnels. Süddeutsche.de, 14.9.2008. [o]