06.06.2013

Auszug aus "Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe"

Mieke Mosmuller: Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe. Erziehen von Kindern in den ersten sieben Jahren. Occident, 2013 (176 S., 17,95€). | Buchbesprechung | Bestellen.


Wir werden in dem Maße bessere Erzieher, wie wir für das Wesentliche in der Entwicklung des Kindes aufmerksam werden und sind. Statt zahllose Ratschläge zu geben, will ich in diesem Buch gerade hierauf hinweisen, und darum gebe ich Beispiele für Besinnungsübungen, durch die man diese Aufmerksamkeit entwickelt. Die Übungen haben einen meditativen Charakter, weil sie in einem langen, konzentrierten Stillstehen bestehen, einer konzentrierten Besinnung auf bestimmte Aspekte des Kindseins, an denen im gewöhnlichen Dasein mit Kindern vorbeigelebt wird. Es sind selbstverständliche, bekannte Bilder, die jedoch durch die im Leben herrschende Eile ungenügend zu Bewusstsein kommen.

Man richte seine Andacht auf seine Erinnerung an das Baby, das gerade wach geworden ist und nicht unmittelbar beginnt, zu weinen, sondern das wach daliegt, schaut, Geräusche macht. Man ist in das Zimmer gekommen, und das Kind reagiert natürlich unmittelbar auf einen, doch zuvor, bevor es einen sah, hat man die Hingabe in der Aufmerksamkeit des Kindes wahrgenommen, und man sah die Ruhe, etwas, was nicht durch Worte ausgedrückt werden kann; etwas, was sich in der Besinnung darauf erweitert, wie eine Art Aura um das Kind, mit der es kommuniziert, die für einen selbst unsichtbar ist – in der Besinnung aber zunehmend erlebbar werden kann.

Dann sieht das Kind einen, und die Hingabe richtet sich nun auf einen selbst – das Leben nimmt seinen Lauf. Doch in einer Besinnung – zu einem anderen Zeitpunkt – kann man diese Wahrnehmung wieder zur Vorstellung machen. Man wird sehen, dass man eine Erweiterung seiner Erlebnisse entwickelt. Und gerade solche Erlebnisse lassen einen auf die richtige Weise in Verbindung mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren des Kindes kommen: Man weiß, was gut ist und was nicht, immer mehr, immer besser.

Wenn das Kind sich aufrichtet, sei es zum Sitzen, sei es zum Stehen, dann schaue man einmal nicht auf das Resultat, nicht darauf, ob es gelingt oder nicht. Man versuche, den Impuls zum Sich-Aufrichten mitzuempfinden – und später in der Besinnung von neuem zu fassen und zu intensivieren. Immer mehr wird man gewahr werden, dass es eine Willenskraft ist, die von außen kommt, so als ob das Kind eine unsichtbare Hand gereicht bekäme. Wenn man Fotos und Filme macht, ist es gerade dies, was verschwindet, was nicht mit fotografiert oder gefilmt werden kann. Zwar kann man es aus seiner Erinnerung hinzufügen – aber der Film oder das Foto selbst zeigen es nicht mehr.

Fast alle Menschen empfinden in bestimmten Augenblicken tiefe Rührung, sie sind tief berührt von dem ‚Sein’ des kleinen Kindes. Zärtlichkeit und Liebe nennt man dieses Berührtsein, diese Rührung. Sie entsteht nicht nur durch das Sehen und Empfinden dieses jungen, winzigen Leibes in all seiner Vollkommenheit. Dies ist sicherlich auch ein tief berührendes Erleben. Doch unbewusst nimmt jeder Mensch, der ein Baby anschaut, der es hochnimmt, festhält, dasjenige wahr, was Inhalt dieses Buches ist: das Imponderable. Es ist die unschuldige Hingabe, der Impuls zur Nachahmung, und über alledem diese übersinnliche Aura, die noch nicht menschlich, sondern göttlich ist. Zwar dämmert darin schon das Persönliche, aber es lebt noch in Ruhe, eingebettet in Gott. Dies erweckt unerschöpfliche Liebe in dem Erwachsenen, vorausgesetzt, er ist nicht gehetzt oder überreizt. Es erweckt die Sehnsucht nach dieser Vollkommenheit, die jeder Mensch gehabt hat, die jeder Mensch verlieren muss, um eine frei entscheidende und selbstbewusste Persönlichkeit zu werden. Doch in allen Menschen lebt eine zarte Sehnsucht nach einer Verbindung zwischen der Freiheit und der heiligen Unschuld des Kindes. Es ist uns ein Vorbild. Nicht als Individuum, sondern als Kindsein.

(S. 75-77).