Unschuld

Holger Niederhausen: Unschuld. Roman. Books on Demand, 2015. Paperback, 240 Seiten, 9,90 Euro. ISBN 978-3-7386-4898-0.


Erschienen am 28. September 2015.              > Bestellen: BoD | Amazon <              > Reaktionen und Rezensionen <

Inhalt


Die junge Studentin Saskia hat es mit ihrem tief empfindsamen Wesen schwer.

Sie sehnt sich so sehr nach einem Freund, doch an der Universität findet sie kaum Anschluss. Die gleichaltrige Freddie, bei der sie gerade noch ein Zimmer zur Untermiete bekommt, ist oft verletzend und scheinbar das genaue Gegenteil von ihr. Und dann sucht auf einmal auch noch ein Mann mittleren Alters ihre Freundschaft, der für sie zweifellos sehr viel empfindet.

Wie soll sie auf all das reagieren? Sie kann es nur mit dem ihr eigenen Wesen...



Leseprobe 1


„Saskia Reinhardt“, sagte sie.

Die Frau schaute in ihren Computer.
„Wie schreibt man Reinhardt?“
„Mit d-t.“
Warum schaute die Frau so merkwürdig? Eine leichte Unruhe befiel sie, wie immer, wenn etwas auch nur leise auf mögliche Schwierigkeiten hindeutete.
Die Frau blickte vom Bildschirm auf.
„Tut mir leid, wir haben hier keine Saskia Reinhardt.“
Saskia erstarrte innerlich.
„Aber ... aber das kann doch nicht sein? Ich habe mich doch schon letzten Monat angemeldet! Ich habe doch sogar eine Bestätigung bekommen ... warten Sie...“
In heller Aufregung öffnete sie die Seitentasche ihres kleinen Rollkoffers und holte mit rasendem Herzklopfen das Schreiben des Studentenwerks hervor.
„Hier...“
Sie reichte es der Frau und hoffte inständig, dass sich der Irrtum jetzt aufklärte.
„Hmm, ja, tatsächlich – das ist ja seltsam... Warten Sie mal...“
Sie beruhigte sich ein wenig. Die Frau ging an einen Schrank und zog eine Schublade mit Hängeregistraturen heraus. Sie blätterte ein wenig; zog dann eine weitere Schublade heraus, blätterte wieder. Dann ging sie zurück an ihren Computer und tippte und suchte dort etwas. Schließlich blickte sie wieder auf.
„Tut mir leid, da muss im System etwas schiefgelaufen sein. Es gab da offenbar sozusagen eine Doppelbelegung. Mit anderen Worten: Das Zimmer ist schon vergeben. Ich kann da leider nichts tun. Sie hätten das Schreiben gar nicht bekommen dürfen...“
Ihr wurde siedend heiß.
„Aber – aber was mache ich denn jetzt? Haben Sie nicht noch ein anderes Zimmer? Es muss doch irgendwo noch ein Zimmer frei sein?“
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Nein, leider nicht. Das gesamte Studentenwohnheim ist voll belegt. Das ist immer so.“
„Aber ich habe mich doch rechtzeitig angemeldet!“, sagte sie verzweifelt.
„Ja, das mag sein“, erwiderte die Frau. „Aber wir haben kein Zimmer mehr. Ihr Zimmer ist doppelt belegt worden. Es ist bereits jemand eingezogen. Das können wir jetzt nicht rückgängig machen.“
Sie war völlig verzweifelt.
„Und was soll ich jetzt machen...?“
Die Frau wies an ihr vorbei.
„Da vorn an der Pinnwand sind jede Menge Angebote für WG-Unterkünfte und ähnliches. Allerdings auch jede Menge Gesuche...“

Wenn sie jetzt ging,
konnte sie nichts mehr machen... Aber sie fühlte sich so oder so ohnmächtig. Die Frau am Computer konnte sagen, was sie wollte. Sie war sich sicher, dass sie sich rechtzeitig und sogar früher als der Andere angemeldet hatte, aber was nützte das nun noch?
Traurig drehte sie sich um, fühlte sich nicht einmal mehr imstande, zu grüßen – die Enttäuschung war zu groß, und ein Kloß saß ihr im Hals...
„Tut mir leid“, sagte die Frau ihr hinterher.
Ohne Antwort lassen konnte sie eigentlich niemanden. Sie drehte sich noch einmal traurig um und sagte:
„Ist schon gut...“
In Wirklichkeit war sie am Boden zerstört. Sie schämte sich, als wenn sie selbst etwas falsch gemacht hätte. Auch dieses Gefühl hatte sie sehr oft, wenn etwas schief ging. Was sollte sie jetzt ihren Eltern sagen, ihrem Vater? Wenn er hier gewesen wäre, hätte er sicher so lange Druck gemacht, bis ein Zimmer dagewesen wäre – jedenfalls ein Riesentheater. Das wollte sie auch wiederum nicht. Sie konnte das nicht, und sie ertrug es auch nicht, wenn Andere miteinander stritten – nicht einmal, wenn es für ihr, Saskias, Wohl war. Nun jedoch fürchtete sie sich, ihrem Vater zu gestehen, dass sie trotz Anmeldung kein Zimmer hatte – und dass sie dafür auch weder gekämpft noch gestritten hatte... Doppelte Scham, und dann noch immer die Frau in ihrem Rücken...

Hundeelend schaute sie die Pinnwand an. Bei den meisten Angeboten waren schon fast alle Telefonnummern abgerissen. Auch bei solchen, wo erst eine einzige Nummer abgerissen worden war, rechnete sie sich keinerlei Chancen aus – aber es gab keine anderen.
Sie schaute zu der Frau hinüber. Sie war nahezu außer Hörweite, also würde sie hier zumindest telefonieren können. Sie versuchte es mit dem ersten Angebot – schon vergeben. Das zweite – niemand da. Das dritte – vergeben. Bei dem vierten Angebot aber hatte sie Glück! Gerade hier hatte sie sich keinerlei Chancen ausgerechnet. Eine Studentin in ihrem Alter, ebenfalls neunzehn, suchte eine Mitbewohnerin für ein kleines Zimmer von vierzehn Quadratmetern.
„Wenn du dich beeilst, nehm’ ich dich vielleicht“, hörte sie die dominante Stimme am anderen Ende. „Hat gerade jemand abgesagt für heute – die Leute denken offenbar, dass das Zimmer tagelang zu haben ist! Nachher kommt noch jemand anders, den guck ich mir auch noch an. Aber ich denke, dann hab ich jemand Passenden.“
„Okay, ich bin gleich da...“, sagt sie schnell. „Ich geh jetzt vom Studentenwerk los...“
„So genau wollt’ ich’s nicht wissen...“
„Ja, also, bis gleich...“, stotterte sie.
„Bis gleich.“
Wieder schämte sie sich. Wahrscheinlich hatte sie auch dieses Zimmer bereits jetzt wieder verloren. Sicher war sie garantiert nicht die ‚Passende’. Aber sie musste unbedingt ein Zimmer bekommen!
Sie schaute auf den Stadtplan, den sie sich gekauft hatte. Man musste den Bus nehmen. Sie beeilte sich, das große Gebäude zu verlassen.
Als sie im Bus saß, fragte sie sich, wie es anderen Studienanfängern ging. Vielleicht war das Mädchen – sicher war es auch ein Mädchen –, das heute abgesagt hatte, einfach nur krank geworden. Und nun nahm sie, Saskia, auch ihr das Zimmer weg... Wieso war die Welt so? Wieso mussten immer einige zu kurz kommen? Sie fühlte sich gegenüber dem Mädchen, das sie sich vorstellte, schuldig... Und zugleich fand sie die Frau am Telefon viel zu hart. ‚Den guck ich mir auch noch an...’ Konnte man sich die Leute einfach so ‚angucken’ und dann sagen: den nehm’ ich, den nehm’ ich nicht? Ihr würde das viel zu schwer fallen, sie würde das nicht können...

...

Leseprobe 2


„Also ehrlich – zusammen in ein Café zu gehen und dann allein Milchkaffee trinken zu müssen, das ist schon hart!“
Beschämt sagte sie:
„Tut mir leid...“
„Na ja“, wiegelte Freddie ab, „vielleicht kann ich dir ja mit der Zeit noch was beibringen.“
Sie hasste es, wenn jemand so etwas sagte. Man konnte nicht anders, als sich dann sehr klein fühlen. Selbst wenn es gut war, was man lernen konnte, wurde es einem sozusagen ‚aufgepfropft’, war es ausschließlich das Verdienst dessen, der einem etwas ‚beibrachte’. Man war bloß wie ein Kind... Sie hasste es auch, wenn sie spürte, dass Kinder anders behandelt wurden, als sie es eigentlich wollten. Sie spürte das immer sehr genau... Aber sie konnte dann nie etwas sagen, weder bei einem Kind noch bei sich selbst. Es war, als wenn ihr in solchen Momenten der Mund verschlossen wurde...
„Was studierst du überhaupt?“
Freddies Frage riss sie aus ihren Gedanken. Noch immer spürte sie ihre Abwehr. Dennoch erwiderte sie, als wenn nichts geschehen wäre:
„Tiermedizin.“
Freddie pfiff leise durch die Zähne.
„Hat das nicht einen ziemlich hohen NC?“
„Na ja – ich bin im Nachrückverfahren reingekommen.“
„Kann ja auch kein viel schlechteres Abi gewesen sein.“
„Das ist doch nicht so wichtig...“
„Ich mein’ ja nur. Du bist aber nicht so wie die Pharmazeutin, von der ich gestern erzählt hab’?“
„Nein.“
„Und warum Tiermedizin? Doch nicht etwa wegen der Kleine-Mädchen-Liebe zu Tieren?“
Sie fühlte einen Stich tief in ihr Herz dringen. Wenn sie so etwas hörte, verschloss sich ihr Mund vollkommen ... für jede wahrhaftige Antwort. In einem solchen Moment wusste sie von Grund auf, dass sie mit diesem Menschen nicht von ihrer wirklichen Liebe zu den Tieren sprechen konnte. Auch ein solcher wusste dann nichts von dieser Liebe... Schmerzlich durchdrang dann das Gefühl der Einsamkeit ihre ganze Seele. Sie wusste nicht, ob sie eine ‚Kleine-Mädchen-Liebe’ hatte. Sie wusste nur, dass sie sie schon seit ihrer Kindheit hatte und dass diese Liebe, trotz aller Wandlungen, immer tiefer geworden war...

Freddie fragte stutzend:
„Was? Doch deswegen?“ Sie studierte ihre Gesichtszüge. „Oh Gott – das rührt mich jetzt echt.“
Hundeelend ... der Mund verschlossen, ein seltsames Ziehen im Magen wegen des absoluten Nicht-verstanden-Werdens, unsägliche Traurigkeit...
So schlimm hatte sie sich mit dieser Frage noch nie gefühlt. Deswegen brachte sie schließlich doch leise hervor:
„Was weißt du von der Liebe zu Tieren...“
Sie konnte in Freddies Augen genau lesen, was in dieser jetzt vorging. Sie rang gerade mit sich, ob sie das Gespräch überhaupt weiterführen wollte oder angesichts der ‚übertriebenen Dramatik’ einfach weggehen sollte, nach dem Motto: ‚Diesen Schuh zieh’ ich mir jetzt nicht an!’ – Und wieder fühlte sie sich selbst auch schuldig und zugleich noch einsamer...
Schließlich entspannte Freddie sich wieder und sagte nur leichthin:
„Stimmt – ich weiß davon eigentlich nichts. Wär’ mir ehrlich gesagt auch zu viel.“
Wie konnte man dies so fast feindselig abtun! Sie fühlte eine tiefe Verzweiflung. Es gab niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte.
Freddie musterte sie noch einmal. Dann sagte sie:
„Okay – wir können jetzt hier ein Drama draus machen, oder wir lassen es einfach. Worauf hast du Lust? Ich meine, ich kann dir noch so weit entgegenkommen, dass ich sage: War wahrscheinlich auch mein Fehler. Falsche Frage zur falschen Zeit. Also vergessen wir’s. Zurück auf Null. Kannst du das?“
Es war eine herausfordernde Frage, eigentlich wirklich eine Forderung.
Sie musste die Verletzungen einfach vergessen, wie so oft...

Noch immer tief getroffen, versuchte sie, die Forderung genau wie gewünscht zu erfüllen, und ging nahtlos zu einem anderen Thema über. Mit noch etwas belegter Stimme fragte sie:
„Und was studierst du?“
Froh, ein größeres Drama umschifft zu haben, sagte Freddie trocken:
„Islamistik.“
„Was?“
„Wieso nicht? Islamwissenschaften. Ist ein Studium mit Zukunft.“
„Aber was ... ich meine, was interessiert dich daran?“
Sie konnte es sich absolut nicht vorstellen.
„Was mich daran interessiert? Keine Ahnung. Das werde ich schon herausfinden. Mit verschleierten Frauen habe ich jedenfalls nichts am Hut. Vielleicht will ich den Laden ja nur mal aufmischen? Stell dir mal vor, wenn ich später Reiseführerin oder Professorin oder was bin und dann ... ach, keine Ahnung. Vielleicht werde ich auch Politikberaterin und erkläre dann den Jungs da oben, wo die ISIS herkam oder wie geil Burkas sind. Ich habe wirklich noch keine Ahnung.“
Sie konnte das fast nicht glauben. Wie war es möglich, ein Studium anzufangen, von dem man noch gar nicht wusste, was einen daran interessierte – oder vielleicht noch interessieren könnte?
Freddie schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn sie sagte:
„Ich mache einfach gern Sachen, die nicht so naheliegen.“
„Ein Studium ist doch keine ‚Sache’!“
„Doch – was denn sonst?“
„Es ist doch eine Art Berufsentscheidung!“
„Ja und? Dann werde ich eben Islamistin. Sagte ich doch bereits. Und wenn ich merke, dass es gar nichts ist, kann ich ja immer noch wechseln. Machen doch viele.“
Na ja, es war ja ihre Sache...

Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche gemeinsamen Themen es mit Freddie geben konnte.
„Hast du einen Freund?“
Freddies Frage ließ sie wiederum erschrecken. In einem Sekundenbruchteil erkannte sie dankbar, dass Freddie das Gespräch in Gang halten wollte, aber das Thema war wieder das falsche...
„Nein...“
„Ich meine nicht hier – überhaupt.“
„Das habe ich schon verstanden.“
Freddie musterte sie von neuem.
„Und ... aber doch schon einmal einen gehabt?“
„Nein.“
Halb beschämt, halb trotzig hielt sie Freddies Blick stand.
Diese versuchte, das Ganze wieder auf eine humorvoll-ironische Ebene zu ziehen, und fragte, das Ende offenlassend:
„Keine Lust gehabt oder...“
‚...oder keinen gefunden?’, ergänzte Saskia in Gedanken.
„Nein, ich habe keine Lust gehabt“, erwiderte sie. „Jedenfalls nicht auf den falschen...“
Freddie lehnte sich gemütlich zurück.
Das war eine coole Antwort!“, sagte sie zufrieden.
„Und du?“, fragte Saskia. „Hast du schon viele Freunde gehabt?“
„Ja“, erwiderte Freddie und musterte sie wiederum kurz. „Ja, aber dann doch auch nach einiger Zeit immer wieder die falschen.“
„Was meinst du mit ‚nach einiger Zeit’?“
Irritiert antwortete Freddie:
„Nach einiger Zeit eben. Was ist daran nicht zu verstehen?“
„Ich meine“, erklärte sie, „kann ein Freund zuerst der Richtige und dann auf einmal der Falsche sein?“

...