Lähmungen im Leben der Gesellschaft und des einzelnen –

eine Herausforderung michaelischen Geistes

Vortrag von Friedrich Benesch von 1974, in: Christliche Feste. Johanni und Michaeli. Urachhaus, 1994.


Woran denken wir, wenn wir von Lähmungen sprechen? Wenn man ein körperliches Gebrechen hat, wenn man alt geworden ist und die Glieder nicht mehr richtig funktionieren, dann hat man davon eine Erfahrung, wenn man im Laufe seines Lebens dieses und jenes probiert und merkt, es geht nicht. Es ist mir oft passiert, daß Menschen mir gesagt haben: „Ich bin faul.“ Man muß sich zunächst ja wundern darüber, daß der Mensch den Mut hat, so etwas festzustellen. Ist das nun Ohnmacht oder Schwäche, ein Unvermögen, eine Schicksalshemmung, oder eben die zahllosen Lähmungen in den Menschenverhältnissen, wo man plötzlich vor Tatsachen steht und den Eindruck hat: das geht nicht vor- und nicht rückwärts. Kaum versucht man, etwas daran zu reparieren, dann kommt dieselbe Sache in die nächste Schwierigkeit, und man muß feststellen, daß es irgendwie zunächst unlösbare Probleme sind. [...]
 

Wie vollzieht sich das menschliche Leben? Es sind im wesentlichen bei dem einzelnen Menschen diese drei Grundvorgänge: seine Gedanken, sein Vorstellen, es ist dann das, was wir als Empfindungsleben, als Gefühlsleben, haben; und schließlich unser Wille. Man kann leicht meinen, diese ganze Frage mit den Lähmungen sei rein eine Frage der Willenssphäre in uns. Sieht man aber genauer hin, merkt man, es ist nicht ganz so.

Wir fangen zunächst einmal beim Gedankenleben an, weil es der Teil in uns Menschen ist, der am ehesten durchschaubar wird. Es ist selbstverständlich, daß wir heute alle über eine Denkfähigkeit verfügen, die man den Intellektualismus, das intelligente Denken eines jeden Menschen nennen kann. Wir bringen die Fähigkeit dazu mit, und wir sorgen dafür, daß sie auch entsprechend durch die ganze Erziehung gefördert wird. Wir können nicht sagen, daß nur die Gelehrten au den Universitäten, insbesondere die Naturforscher, über die Fähigkeit, intellektuell zu denken, verfügen. Jedes Kind, das in der Schule lesen, schreiben und rechnen lernt, wird intellektuell erzogen. Diese Fähigkeit, intellektuell zu denken, verhilft uns allen dazu, daß wir Gedanken haben, die ihrer ganzen Natur nach so sind, daß sie die äußere Welt mehr oder weniger rein spiegeln. Am reinsten tun das natürlich die mathematischen Gedanken: zwei mal zwei ist vier. Das ist eine ganz saubere Angelegenheit. Aber auch sonst bemühen sich die Menschen, möglichst mit ihren Gedanken so umzugehen, daß darin Begriffe, Gedankenfolgen, Gesetzmäßigkeiten entwickelt werden, die ganz rein die äußere Welt wiedergeben.

Man soll nicht meinen, daß das von Grund auf verkehrt wäre, sondern das bringt in jede Menschenseele einen wichtigen Zustand herein. Das ist der, daß der Mensch mit seinen intellektuellen Gedanken frei schalten und walten kann. Man beobachte einmal den fünfzehn-, sechzehn-, siebzehnjährigen jugendlichen Menschen, sei es ein Junge oder ein Mädchen. Mit welchem Wohlgefühl, mit welchem Freiheitsgefühl denkt dieser jugendliche Mensch! Das führt dann dazu, daß er gerne diskutiert und dieses freie Gedankenspiel mir einem anderen oder anderen zusammen übt. Nichts macht ihn freier, als wenn es ihm gelingt, in diesem Gedankenspiel so tüchtige Argumente vorzubringen, daß er den andern irgendwo überwindet.

Auf der einen Seite dürfen wir sagen: diese Denkfähigkeit ist eine Enthemmung und nicht eine Lähmung.


Indem der Mensch sich daran gewohnt und lernt, es so selbstverständlich zu benützen, wendet er es natürlich nicht nur auf die Welt an, für die das zutrifft, wo eben etwas fertig ist, über das man denken kann. Er meint wie selbstverständlich, daß diese Art zu denken die einzig richtige und sachgemäße, die einzig exakte und einzig wissenschaftliche ist.

Der Mensch merkt also nicht, wie er plötzlich in diesem selben Punkt, wo er die Freiheit entwickelt, fixiert wird. Er merkt gar nicht, daß hier eine Hemmung aufgebaut wird in dem ganz normalen gegenwärtigen Bewußtsein, die dazu führt, daß wir wie von selber diese Art des Denkens anwenden, zum Beispiel auf das menschliche Innere, und so Psychologie betreiben. Oder man wendet sie instinktiv auf den Umgang mit seinen Mitmenschen an und betreibt dann Beurteilung seiner Mitmenschen. Wer tut das nicht? Oder man benützt sie für die gesellschaftlichen Verhältnisse, dann betreibt man Soziologie. Und so fort.

Der Mensch merkt nicht, daß er das intellektuelle Gedankenleben aus der Welt aufgenommen hat in das menschliche Innere und sich selber an diese ganz bestimmte Art zu denken fesselt und dadurch sich lähmt. Es gilt, dieses Gedankenleben nun selber zu befreien in der Richtung, daß man nicht nur das in der Welt Fertige, das Beurteilbare und Mathematisierbare in diese Gedanken hereinnimmt, sondern diese klaren, sauberen Gedanken, die man sich gebildet hat, immer wieder hinausströmen läßt in die Welt. So kann man beispielsweise dasjenige in einen solchen Gedanken aufnehmen, was da draußen nicht fertig ist, sondern was sich verwandelt, was im Werden begriffen ist.

Man kann das an einfachen Dingen machen: zum Beispiel den ganz sauberen Begriff „Blatt“, „Pflanzenblatt“, der also eine abstrakte Zusammenfassung ist von allem, was ich draußen an Blättern sehen kann, wieder hinausgehen lassen und sehen, wie dieses Blattgebilde in einer wachsenden, blühenden und fruchtenden Pflanze sich verändert. Man nimmt so die realen Vorgänge der Welt in seine Gedanken auf. Was in der Welt draußen geschieht, erfüllt einen Gedanken mit Wirklichkeit: man wächst mit der Pflanze gewissermaßen denkend mit und nimmt einen solchen lebendig gewordenen Begriff wieder in das eigene Innere zurück. Und ich erlebe mit einem Mal, wie dieser Begriff im eigenen menschlichen Inneren Leben bekommt und ich so allmählich das Wesen einer Pflanze erfassen kann. So befreit man den Gedanken aus einer Lähmung, aus einer ganz bestimmten Anwendungsform, und läßt in diesem Gedanken das Wesen der Welt aufleben. Ich bekomme dadurch Anteil an den schöpferischen Kräften, an den realen Weltgedanken, ja an dem wirkenden Wesenslicht in der Welt. [...]

Ich werde dabei erleben, daß [...] ich dann auch das gewöhnliche alltägliche Leben viel lebendiger auffasse und zum Beispiel viel bessere Gedanken habe in bezug auf das, was zwischen den Menschen geschieht. Ich kann viel eher begreifen und verstehen, was in einem Menschen neben mir vorgeht. Habe ich an ganz einfachen Naturwesenheiten gelernt, dieses intellektuelle Denken zu beleben, indem ich es zur Verfügung stelle für einen Weltgegenstand, dann das wieder in mich hereinnehme, so daß das Wesen in meinem Bewußtsein aufzuleuchten beginnt, dann wende ich das auch auf meinen sozialen Zusammenhang an und bemerke, wie mir das oftmals Rätselvolle und Widersprüchliche des menschlichen Daseins vollständig anders erscheint als bisher. [...] Die Lähmung steckt eben in dem Intellektualistisch-Werden des Denkens, das so die ganze Welt in Abstraktionen fassen will, aber in Wahrheit nur dort hingehört, wo die Welt tot ist, wo sie eine Maschine ist. Aber überall dort, wo schon lebendiges Leben ist, wo Seele und Menschendasein ist, geht das nicht.


Sehr viel schwieriger ist das zweite, die Frage, wie das mit unseren Gefühlen steht. Wir merken zwar die Lähmung im Gedankenleben nicht so schnell; werden wir aber darauf aufmerksam, dann ist alles, was im Gedankenleben sich vollzieht, so durchsichtig und klar, daß man auch langsam die Wiederbelebung und Überwindung der Lähmung lernen kann. Das Gefühlsleben aber hat die Eigenschaft in uns Menschen, daß es nicht ganz wach ist, daß wir es infolgedessen auch nie ganz zur Verfügung haben. Bedenken wir, zwischen welchen Grenzen unser Gefühlsleben eingespannt ist. Auf der einen Seite erleben wir die Welt. Wer würde nicht irgendeine Gefühlsregung haben beim Anblick eines leuchtenden Sternenhimmels oder eines blühenden Sommertages oder einer schönen Landschaft oder eines Kristalls oder eines Schmetterlings? Sofort regt sich dieses merkwürdige Empfinden und Gefühl in uns und verbindet sich mit dem, was wir wahrnehmen. Wir haben dabei seelische Erlebnisse. Ich erlebe etwas, wenn ich in den Ferien eine schöne Landschaft sehe. Aber - ich durchschaue es nicht ganz.

Oder wenn wir an all das denken, was wir aufnehmen durch die Kunst. Wir haben sofort gefühlsmäßige Erlebnisse daran, nicht nur bei der Kunst, die wir gegenwärtig erleben - Musik oder Architektur oder Malerei -, sondern auch, wenn wir uns mit der Kunst der Menschheit aus vergangenen Zeiten beschäftigen. Man gehe nur in ein Museum und betrachte einmal eine griechische Statue oder eine ägyptische Skulptur. Wir erleben irgend etwas von dem, was die Menschen, die das geschaffen haben, vielleicht auch daran erlebt haben. Aber ist das ganz bewußt? Darum ist es so schwer, das zu beschreiben, was da vorgeht.

Denken wir noch an das dritte, wie wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen fortwährend die Zustände unseres eigenen Leibes wahrnehmen: ob wir uns wohl, ob wir uns frisch oder müde fühlen. Auch wie das, was wir in der Welt erleben, bis in die Leiblichkeit, bis in Atem und Blut und Stoffwechsel herunter wirkt - auch daran haben wir fortwährend Gefühlserlebnisse. Also die Naturerlebnisse, die Kunsterlebnisse, die Erlebnisse der eigenen Leibeszustände.

Und viertens: die Gefühlserlebnisse, die wir aneinander haben. Ich brauche nur die Worte Sympathie und Antipathie auszusprechen. Was geht alles vor, wenn ich auch nur eine Minute oder fünf Minuten mit einem anderen Menschen zusammen bin und mit ihm spreche und ihn anschaue! Ich kann das nicht ohne Gefühl. Ich habe irgendein Erlebnis dabei.

Wieder muß man sagen: Ich kann vielleicht an den Gefühlserlebnissen dort Lähmungen haben, wo ich irgendwie gehemmt bin in meinem Gefühlsleben. Doch ich komme sehr viel schwerer dazu, mir klarzumachen, daß schon allein in der Dumpfheit und Traumhaftigkeit meines ganzen Gefühlslebens - im Zusammenhang mit der Welt, im Zusammenhang mit Kunstwerken, im Zusammenhang mit dem eigenen Leibe und vor allem im Zusammenhang mit meinen Mitmenschen - irgendwie etwas von Lähmung steckt. Wir können es nie ganz erfassen, wir können es nie ganz durchschauen. Fortwährend spielt da Unbewußtes hinaus und hinein.


Gibt es denn keine Möglichkeit, so, wie das Gedankenleben frei zu machen und zu verwandeln, auch unser Gefühlsleben tatsächlich frei und hell zu machen, so daß es auch einen anderen Charakter bekommt als den dieser halb gelähmten Dumpfheit? Wie kann ich das, was in Liebe und Haß, in Sympathie und Antipathie fortwährend in mir vor sich geht, so ergreifen und verwandeln, daß es aus dem selbstbezogenen, gehemmten Zustand wirklich befreit wird? Daß ich nicht nur fühle, daß ich fühle, sondern daß ich lerne, mit der Welt, mit der menschlichen Gesellschaft, mit dem anderen Menschen wirklich mitzufühlen?

Hier liegt nun im Menschenwesen eine ganz ungeheuerliche Schwierigkeit, weil es beim Gefühlsleben nicht so wie beim Gedankenleben geht, wo wir einen Begriff haben, den wir fassen und durchleuchten können, und dann entweder in der Abstraktion behalten und darin gelähmt bleiben, oder ihn tatsächlich verlebendigen, ja durchgeistigen können. Das Gefühlsleben schwankt immer in der merkwürdigen Polarität von Zuneigung und Abneigung, von Liebe und Haß und so weiter. Gibt es eine Möglichkeit gegenüber der eigenen Sympathie und Antipathie, das eigene Bewußtsein wie herauszulösen aus seiner Gebundenheit an dieses halb traumhafte Gefühlsleben und eine Art Kraft des Gleichmutes ihm gegenüber zu entwickeln? Ich sage mit voller Deutlichkeit „Gleichmut“, nicht „Gleichgültigkeit“. Letzteres würde ja nur dazu führen, daß das Gefühlsleben abgestumpft wird und daß es erst recht in eine Lähmung verfällt, in der es sich gar nicht mehr regen kann.

Ich muß sowohl die Sympathie- wie die Antipathiekraft nicht so sehr daraufhin innerlich abspüren, was sie für mich bedeutet, sondern daraufhin, was ich mit ihrer Hilfe und Vermittlung an dem anderen Menschen wahrnehme. Dadurch komme ich zunächst in eine Art Bewußtseinslage, wo ich ungefähr dasselbe Verhältnis zu gut und böse, zu angenehm und unangenehm, zu sympathisch und antipathisch habe wie der große Künstler, der in seinem Drama den Bösewicht genauso liebt wie den Helden, denn sonst könnte er ihn nicht darstellen. Das heißt: Ich suche eine innere Verfassung zu ergreifen, die mich frei macht aus der Dumpfheit der Gefühlslähmung, so daß ich mit Hilfe der eigenen Freuden und Leiden, der eigenen Sympathie und Antipathie die Taten und Leiden der Welt wahrnehmen lerne. [...] Ich sage nicht nur: „Wie ekelhaft unsympathisch ist dieser Mensch, der dies oder jenes macht!“, sondern ich sage mir: „Wie ist diese Seite seines Wesens für ihn und in sich?“ Damit befreie ich das dumpfe, halb träumerische und auf das eigene Wesen bezogene Gefühlsleben aus seiner Gebundenheit. [...]


Noch schwieriger ist es, wenn wir nun auf das dritte Gebiet des menschlichen Seelenlebens hinschauen, nämlich auf unser Willensleben. In ihm stehen wir eigentlich in Aktion und Reaktion. Besonders unangenehm dabei ist, daß das gesamte Willensleben in bezug auf unser Bewußtsein schläft. Wir wissen also von dem, was unser Wille eigentlich ist, gar nichts, sondern wir merken nur, daß er sich regt und sich betätigen will, und kennen den Zustand, wenn ihm Widerstand entgegenkommt. Oder wir beobachten, wenn er sich nicht recht regen kann, bei Schwächen, Lähmungen, Unentschlossenheit, Unfähigkeiten und wir eigentlich dabei auch wieder nicht wissen: warum bin ich so entschlußunfähig? Das hat einen sehr realen Grund. Dieser Grund ist, daß wir bei unserer Verkörperung auf der Erde ein Paket mitbringen, in dem wir unser Schicksal verborgen tragen. Wir ziehen gewissermaßen die Hauptlinien unseres Schicksals wie zusammen und machen daraus so etwas wie ein Paket. Das ist aber unser Wille. Das heißt, wir haben in uns selber unser Karma, unsere Schicksalsverhältnisse.

Nun passiert das eigenartige zweite, daß dem, was da von innen so herauskommen will, fortwährend von außen etwas entgegenkommt, das genau darauf paßt und entweder das, was aus dem Paket herauskommen will, anerkennt, entgegennimmt, akzeptiert oder zurückweist. Und man hat plötzlich die merkwürdige Frage: Wer macht denn das, daß etwas, das da in mir darinnen ist und aus mir heraus will, um Schicksal zu werden, Widerstand erfährt, und zwar von ganz bestimmten Menschen, nicht nur durch bestimmte Verhältnisse? Mit einem Mal tritt mir der andere entgegen, und ich komme gar nicht auf den Gedanken, mir zu sagen, daß er ja auch ein Schicksalspaket verborgen mit sich trägt. Wenn man sich mit dem einen trifft, kommt alles wunderbar zustande, mit einem anderen gibt es die größten Schwierigkeiten! Ich kann machen, was ich will: es geht nicht. Das ist das Schwierige, daß wir gegenüber unserem Willen fortwährend erfahren müssen: Er ist gewissermaßen von vorneherein gehemmt, auch dort, wo er scheinbar hemmungslos sich betätigt. Er ist von vornherein verschlüsselt, denn er bleibt vollständig im Unbewußten.


Wieder muß man fragen: Kann ich denn da nichts machen? Kann ich da etwas unternehmen, um dieses Dunkle, Unbekannte ein wenig zu durchleuchten und in das Licht der Handhabungsfähigkeit des Bewußtseins heraufzuholen? Wir kommen erst auf die Idee, das Entsprechende zu unternehmen, wenn wir wirklich verstehen lernen, daß unser gesamter Wille, dieses verborgene Etwas in uns, das immer nur in seinen Effekten zum Bewußtsein kommt, in Wahrheit unser Schicksal selber ist. Der umfassendste Wille des Menschen ist sein Schicksalswille, das heißt sein Wille, aus einer geistigen Welt heraus sich auf Erden zu verkörpern, um dann das auszuleben und weiterzuführen, weshalb er heruntergekommen ist. An diesem Punkt gilt es, um weiterzukommen, den heroischen Entschluß zu fassen, dieses total Unbekannte restlos zu bejahen. [...]

Zu empfinden: ich kann genauso gut „Nein!“ sagen zu meinem Schicksal, wie ich „Ja!“ dazu sagen kann, dieses Grundgefühl der Freiheit enthemmt. Dieses „Ja“ zu der in unserem Willen tiefverborgenen Schicksalssubstanz, man kann auch sagen, zu der Karmasubstanz, dieses „Ja“ befreit. Es versetzt mich in die Lage, etwas von dem Allerwichtigsten tagtäglich zu versuchen: nämlich herauszubekommen, ob das, was mir begegnet als Schicksal durch andere Menschen, durch den anderen bewirkt wird oder, ob in dem, was der andere tut, mein eigener Schicksalswille darinsteckt. Das ist etwas, was nicht so einfach zu denken ist, daß man sich vorstellen soll: da kommt mir ein Mensch entgegen, und in dem soll nun mein Wille stecken. Das ist eigentlich sehr merkwürdig. Also nicht nur dessen Wille soll in ihm sein, sondern auch mein eigener! Was er mir antut, kann nicht nur er wollen, sondern auch ich. Es ist oft sehr schwierig, das auseinander zu halten. Doch man kann es lernen, wenn man zuerst die vollständig freie Schicksalsbejahung vollbracht hat. [...]

Dadurch befreie ich wirklich die Grundlage dessen, was im tiefsten Sinne das eigentlich Soziale ist. Denn ich fühle mich jetzt mit dem anderen Menschen nicht einfach dadurch verbunden, daß ich mitfühle und vielleicht die gleichen sozialen Interessen habe, sondern er gehört zu mir, und ich gehöre zu ihm. Indem ich das tue, nehme ich nicht nur die Taten und Leiden des Mitmenschen wahr, sondern ich bin damit einverstanden, jetzt auch sein Wesen in mir und an mir mitwirken zu lassen. [...]


Man muß nur ein bißchen den Mut haben, die Dinge ex fundamento zu betrachten. Das Denken: indem wir das Licht der wirklich waltenden Welt in uns aufnehmen und aufleben lassen, befreien wir unser Denken zum Geist. Das Fühlen: Wir lernen, unser Gefühlsleben zum Wahrnehmungsorgan zu entwickeln für das Wesen des anderen, wir befreien unser Fühlen aus der Subjektivität. Das dritte: Wir lernen, unseren Willen als nicht nur zu uns selber gehörend, in uns selber steckend zu empfinden, sondern auch in unseren Mitmenschen uns begegnend; wir befreien unseren verborgenen, dunklen, schlafenden Willen zum Schicksalswillen.


Nun gibt es noch ein viertes. Wer lebt denn in all dem, was als Denken, Fühlen und Wollen dargestellt wurde? Wer tut das in Wirklichkeit? Das bin ich. Wie steht es damit? Ist dieses Ich schon ganz frei, oder stecken auch in unserem Ich-Dasein bestimmte Lähmungen, die zu den Gedanken-, Gefühls- und Willenshemmungen hinzukommen? Die Lähmungen, von denen ich am Anfang gesprochen habe als Schwächezuständen und dergleichen, sind die äußeren Symptome für die eigentlichen Lähmungsvorgänge im Menscheninneren.

Es gibt kein größeres Problem als das Ich-Problem. Das ist zunächst einmal verborgen in der goldenen Naivität, mit der wir von Kindesbeinen an mit unserem eigenen Ich umgehen. Es ist eine goldene Naivität, wenn der kleine Bub oder das kleine Mädchen etwa zwei-, dreijährig zum ersten Mal anfängt, zu sich „Ich“ zu sagen, Wenn der heranwachsende Mensch bis zum 14. oder 21. Lebensjahr „Ich“ sagt, bleibt es doch immer bei einem Ich-Gefühl. In dem Moment aber, wo ich anfange, aus diesem ganz naiven, natürlichen Ich-Gefühl eines jeden Menschen langsam herauszukommen, komme ich in die Ich-Problematik hinein. Das kann bei manchen Menschen sehr früh anfangen, bei anderen sehr spät.

Es ist zunächst dieser Vorgang, daß ich aus dem Ich-Gefühl ein Ich-Bewußtsein zu entwickeln versuche. Ich meine jetzt nicht das Selbstbewußtsein, sondern das Ich-Bewußtsein. Ich nehme dann meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinem Willensleben und damit natürlich meinem ganzen Leibesleben gegenüber eine gewisse Distanz ein, und löse mich mehr oder weniger los von den Hüllen, in denen ich gefühlsmäßig gelebt habe. Wenn ich das tue, muß etwas von dem Natürlichen, Frischen, das wir zum Beispiel beim kleinen Kind noch in voller Deutlichkeit sehen, wenn es „ich“ sagt, absterben. Jetzt meint der Mensch, er hätte in dem Moment, wo er sich mit seinem Ich-Bewußtsein absetzt von seiner Hüllennatur, wo er also eine innere Befreiung vollzieht, das in Wirklichkeit ergriffen, was er meint, wenn er „ich“ sagt. Stimmt das? Das würde stimmen, wenn unser Ich ein Wesen wäre, welches aus Gedanken bestehen würde. Das trifft aber nicht zu. Es wäre auch noch so, wenn unser Ich ein Wesen wäre, das aus Gefühlen bestehen würde; das trifft aber auch nicht zu. Wir können zwar unser Ich denken, wir können auch unser Ich fühlen, aber unser wesenhaftes Ich, das eine vollgültige Wirklichkeit in der Welt ist, ist eben weder Gedanke noch Gefühl, sondern das ist gerade Wille. Dasselbe, was ich vorhin von der einen Seite beschrieben habe als das Paket an Schicksalskräften, das wir aus dem Vorgeburtlichen auf die Erde mit herunterbringen, das ist von der anderen Seite her gesehen dasselbe: das Wesen meines Ich wirkt in dem dunklen verborgenen Innersten, aber nicht in meinem Bewußtsein.

Auf dieses Geheimnis hingewiesen zu haben, ist eine der bedeutendsten Taten Rudolf Steiners. Er macht uns nämlich darauf aufmerksam, daß wir unser wirkliches Ich in unserem gewöhnlichen, irdischen Bewußtsein niemals darin haben, sondern immer nur seine Wirkungen, seine Spiegelungen und sein Erleben im Gefühl. Er hat die schwerwiegende Frage aufgeworfen: Warum ist das so? Und die Antwort ist: Würden wir Menschen hier auf der Erde unser wahres Ich wesenhaft in unserem Bewußtsein tragen, dann wäre unser Bewußtsein damit erfüllt, und wir wären völlig außerstande, das Ich eines anderen Menschen überhaupt wahrzunehmen. [...]

Wie nehme ich in Wirklichkeit das Ich eines anderen Menschen überhaupt wahr? Ich nehme das dadurch wahr, daß, während mir ein Mensch gegenübersteht, ich für einen Moment mit meinem Willen in seinen Willen hineinschlafe und dadurch mich mit ihm wesenhaft verbinde. Im nächsten Moment aber erschrecke ich, daß ich mich an das andere Ich verliere, ziehe mich sofort zurück und werde wach, doch jetzt nicht in meinem Ich - denn mein Ich war mit dem anderen schlafend verbunden für einen Moment -, sondern in meinem Ich-Bewußtsein, in meinem Ich-Gefühl. Solange ich einem anderen Menschen gegenüberstehe, schlafe ich fortwährend in ihn hinein. [...]

Indem wir schlafend in den anderen Menschen untertauchen, sind wir jetzt - sozial. Im nächsten Moment ziehen wir uns wieder heraus, kommen wach zu uns selbst und sind - antisozial! Das heißt, wir behaupten uns selbst gegen den anderen und können gar nicht anders, dürfen gar nicht anders! Sonst würden wir niemals an uns selber anknüpfen können. Das ursoziale Phänomen ist ein Schlafprozeß, der darin besteht, daß das eigene Ich-Wesen sich hingibt, schlafend, an das andere reale Willenswesen, um im nächsten Moment wieder zu sich selber zu erwachen und in sich selber das eigene Bewußtsein, aber nicht das eigene Sein zu haben. [...]


Damit kommen wir jetzt erst zum Verständnis der Lähmung. Die Lähmung besteht nicht darin, daß ich in den anderen hineinschlafe und dann zu mir wieder erwache, daß ich da ganz sozial hingegeben bin an das andere Ich-Wesen mit meinem eigenen Willen und dann wieder mich selbst behaupte dem gegenüber, sondern sie besteht darin, daß ich fortwährend, um mein Ich gesteigert zu behaupten, anfange, den anderen Menschen zu beurteilen. Nicht mit unseren Gedanken urteilen wir. Das meint man nur, da wir mit ihrer Hilfe logisch schließen; aber ob man diesem logischen Schluß innerlich zustimmt oder nicht, das macht das Ich. Und darum ist in jedem Urteil, das ich über meinen Mitmenschen bilde, mein Ich darinnen. Wenn ich aber diese Urteilsbildung so vollziehe, daß ich in mein Bewußtsein nichts von dem hineinkommen lasse, was ich vorhin schlafend wahrgenommen habe, sondern nur meine Selbstbehauptung, dann kommt ein intellektuelles Urteil über den anderen Menschen zustande. [...] Dieses Bestreben der Selbstbehauptung nennt man schlicht und einfach Egoismus. Darum ist die Wirkung des intellektuellen Urteils über den anderen Menschen immer eine Kränkung seiner Würde, auch wenn es stimmen kann. [...] Kann ich aber beurteilen, was in ihm sein wahres schöpferisches freies Wesen ist, das heute so, morgen so und übermorgen ganz anders in Erscheinung treten kann? Das kann ich nicht beurteilen. Das heißt, ich wende mich mit meinem kleinkarierten, analysierenden und vielleicht ganz richtig stimmenden Urteil über den anderen Menschen an das in ihm, was das Gewordene, das Fertige ist, und komme nicht an sein Wesen heran. Das heißt aber, ich kränke ihn.

Nicht nur dies. Indem ich nun mein eigenes Selbstgefühl steigere - zum Beispiel in Eitelkeit oder Ehrgeiz oder Eifersucht oder Neid, was also aus der emotionalen Sphäre heraus sich hineinmischt in mein Urteil über einen anderen Menschen -, webe ich Todeskräfte in die sozialen Verhältnisse. Es ist nichts leichter, als den anderen Menschen schlecht zu machen. Ich merke aber nicht dabei, daß diese Ich-Schädigung des anderen im Grunde genommen fortwährend auf mich zurückschlägt. Sie hindert mich daran, aus dem Schein-Ich, aus dem Ref1ex-Ich, das ich in meinem gewöhnlichen Bewußtsein habe, zu meinem wahren tieferen Wesen zu kommen. [...]


Der Mensch kann sich davon nicht selber befreien, und das ist das Tragische an der Sache. [...] Zu meinem wahren Wesen und zu dem meines Mitmenschen kann ich selber kein anderes Verhältnis bewirken als dies, was ich eben beschrieben habe. Diese Situation ändert sich überhaupt nur dann, wenn ich bemerke, daß es außer seinem Ich und meinem Ich noch ein anderes Ich gibt, und zwar dasjenige Ich, das in seinem Ich und in meinem Ich verborgen, jetzt kann man vielleicht sagen - schlummert, man kann auch sagen verborgen lebt und webt und wirkt. Dieses verborgene Ich sowohl in ihm wie in mir selber kann das heraufholen, was sein Ich und mein Ich in Wahrheit ist, nämlich der Wille, der wahrhaft Liebe ist. Ich kann nur dann diese peinliche Hemmung, der wir alle unterliegen, solange wir unsere Mitmenschen entsprechend behandeln, und das tun wir in unserer Gewohnheit, ich kann nur dann dies überwinden, wenn [...] eben dieses Menschen-Ich eine Verbindung bekommt mit dem Christus, das heißt mit dem Träger der wahren Ich-Natur. In diesem Moment würden die sozialen Verhältnisse, die im Grunde immer Kommunikationsverhältnisse sind, anders. [...]


Zwei Hauptthemen spielen im Menschenleben jeden Tag eine große Rolle: das eine Hauptthema ist das Wetter, das zweite Hauptthema ist der Mitmensch. Wir beurteilen uns nicht nur gegenseitig, sondern reden auch übereinander und tragen Informationen über den einen zum anderen und empfangen selber fortwährend Informationen. Wie gehen wir damit um?

Ich höre, daß der das und das gesagt haben soll. Ich habe noch nicht die Empfindlichkeit entwickelt, von vorneherein zu sagen: ich glaube es nicht! Ich habe diese Empfindlichkeit noch nicht entwickelt, weil ich nämlich nicht geprüft habe, ob das, was mir gesagt wurde und was ich dann weitersage, auch wirklich stimmt, aber [...] auch geprüft habe, mit welchen inneren Motiven ich das entgegennehme, was von dem über den anderen an mich gesagt wird. Ich rühre damit an etwas, was auch heutzutage so ziemlich im Halbschlafzustand vor sich geht, nämlich an die Art und Weise, wie wir übereinander berichten, wie die Information läuft, die von Mensch zu Mensch geht, wie der eine über den andern zu dem dritten spricht oder nicht. Fange ich aber an zu prüfen, ob das, was ich erfahre, auch den Tatsachen entspricht, muß ich in den meisten Fällen sagen: es stimmt entweder gar nicht, oder nur zum Teil. Wer kennt nicht dieses, daß einem von einem dritten gesagt wird, daß man das und das gesagt haben soll, und man erkennt sich überhaupt nicht wieder in dem, was da gesagt wird!

Aber auch das andere, daß man anfängt, ein bißchen zu prüfen: mit welchen inneren Intentionen höre ich das, was von dem gesagt wird? Wenn zum Beispiel etwas sehr Gutes gesagt wird über ihn, höre ich das gern oder nicht sehr gern? Oder wenn etwas Schlechtes über ihn gesagt wird, höre ich das gern oder nicht gern? Es ist ja beides möglich. Wie sind also die inneren Empfindungsvoraussetzungen, mit denen ich die Nachricht empfange, bei mir? Man wird bei einiger Selbstprüfung bemerken, daß man als normaler natürlicher Mensch das so macht. Man wird aber bei genauer Selbstprüfung bemerken, daß, wenn man es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, man eigentlich immer ein klein wenig etwas von seiner aufrichtigen, freien Menschenwürde verliert, und daß es in einem so wirkt, daß man eigentlich innerlich ein bißchen wie gebeugt herumgeht, auch wenn man äußerlich noch so steif dasteht. Nicht nur dies, sondern man hat auch gewissermaßen wie in sich selber eine Art Ablagerung von Nicht-ganz-Wahrheit, eine Art Sklerotisierung, eine Art Lähmung, die dadurch entsteht, daß man im eigenen Bewußtsein Nicht-ganz-Wahrheiten abgelagert hat. [...] Das Nicht-ganz-Wahrhaftige, das Nicht-ganz-innerlich-Ehrliche unserer inneren Verhältnisse zu unseren Mitmenschen bewirkt eine Lähmung in unserem innersten geistigen Sein, nämlich in unserem Verhältnis zur geistigen Welt selber.


So können wir versuchen, eine Menschenkunde zu betreiben, mit der wir genau sehen, wie in dem Menschen gewisse Schwächen veranlagt sind, wie die Schwierigkeiten im Gedankenleben sind, wie sie im Gefühlsleben sind, wie sie im Willensleben sind, wo die Ansätze liegen, das zu bewältigen und zu überwinden, wie aber vor allein in der Ich-Sphäre, also in der Sphäre von Ich und Du, das eigentliche gesellschaftliche Problem liegt, sowohl in bezug auf die Art, wie Mensch mit Menschen urteilend umgeht, wie auch in bezug auf die Art, wie Mensch mit Menschen kommunizierend umgeht.


Das Wesen des michaelischen Geistes ist einmal die Bewußtseinswachheit. Diese Bewußtseinswachheit erarbeiten wir, wenn wir unser Gedankenleben enthemmen zum Geistigen. Die zweite michaelische Grundkraft ist Seelengleichgewicht, das Mysterium der Waage. Dieses Seelengleichgewicht erarbeiten wir, wenn wir mit unseren Empfindungen, mit unseren Gefühlen, richtig umgehen.

Das dritte michaelische Grundprinzip, das ist die Selbstlosigkeit, die aber nicht darin besteht, daß das eigene Selbst ausgelöscht wird, sondern das eigene Selbst zum Anreger des anderen Selbst wird. Die vierte michaelische Eigenschaft ist, daß nicht nur hingeblickt wird auf das fertig Gewordene, sondern immer neu hingeblickt wird auf das Zukünftige, auf das Werdende, auf das aus der Freiheit sich Entfaltende.

Lassen Sie mich zusammenfassen. Das erste ist, zunächst einmal solches überhaupt zu denken und zu sehen: wie das alles eigentlich ist. Zum zweiten, dann anzufangen, diese Gedanken auch mit anderen Menschen auszutauschen und dadurch in dem Licht der Erkenntnis der Menschen untereinander erst ein Stückchen weiterzukommen. Zum dritten diese eigentlichen Menschengeheimnisse in sich reifen lassen, bis allmählich aus diesem neuen Empfinden heraus der Wille keimt, es auch zu tun. Nur aus Einsicht kann Gutes kommen. Wenn etwas urmichaelisch ist, dann ist es dieses. Was aus Einsicht und aus Verständnis geschieht, führt in die Zukunft. [...]