Das Buch der zweiundsiebzig Zeichen

Hebräische Legende, aus: Micha Josef bin Gorion: Die Sagen der Juden. Rütten & Loening. Zit. nach Nora Stein von Baditz: Aus Michaels Wirken, 1967.


Ein heilig Buch von zweiundsiebzig Schriftzeichen ward Michael, dem obersten Fürsten gegeben, welcher Herr ist über die sieben Fürsten, die den König aller Könige bedienen. Und Michael gab daraus Adam, dem ersten Menschen, die Grundlage des Wissens, und Adam ward weise und wußte allen Tieren Namen zu geben und auch allen Vögeln, allen Fischen und allem Gewürm; er vertiefte sich in das Buch, und seine Weisheit ward größer denn aller, die der Herr in den sechs Tagen geschaffen hatte.

Und von der Stunde, da Adam in dem Buche las und die heiligen Schriftzeichen aussprach, lernte er es verehren mit all seiner Kraft und all seiner Heiligkeit und übte sich in Reinheit und in Keuschheit und in Demut. Und so drang er auch ein in den Geist der Weisheit und begriff die goldenen Worte des Buches und glühte alles in Feuer zweimal durch und schrieb darin die Zeichen des Buches in Heilig­keit und in Reinheit. Alsdann tat er das Buch in eine Felskluft gegen Morgen vom Garten Eden, denn nicht war die Erde imstande, des Buches Wucht zu tragen.

Und allerorten, wo immer Adam das Buch hervornahm und daraus las, erbebte die Erde und wankte, wie ein Schiff auf dem Wasser. Sprach er daraus vor einem Berge, so schmolz der Berg hin wie Wachs. Sprach er daraus vor dem Meere, so trat das Meer aus seinen Grenzen, gleichwie eine Schale Wassers überläuft. Wenn er vor einem Feuer aus dem Buche sprach, so wurde aus dem Feuer Asche, und wenn er vor Löwen, Panthern, Bären und bösen Tieren daraus sprach, so standen sie da wie verstummt. Sprach er daraus vor Schlangen und vor giftigem Gewürm, so konnte er mit ihnen spielen wie mit Vöglein. Wenn er vor dem Himmel daraus las und den heiligen Namen aussprach in allen seinen Zeichen und in all seiner Heiligkeit vor Sonne, Mond, Orion und allen Himmelslichtern, so war er Herr über sie, wie der Gerechte Herr ist durch seine Gottesfurcht. Auch die Geister, die Dämonen, die Plager und den Satan hatte er in seiner Gewalt; er nahm von ihnen Männlein und Weiblein, sprach vor ihnen die heiligen Namen aus, und sie hörten auf seinen Wunsch und auf seinen Willen. Wenn er vor einem hohen Turme aus dem Buche sprach oder vor einer Festungsmauer, so stürzten sie plötzlich ein. Sprach er im Kriege daraus, so flohen die Feinde davon; sprach er vor einem Baume daraus, so gab der Baum seine Frucht vor der Zeit.

Jegliches Ding ward ihm be­kannt, und alles begriff er durch des Buches heiligen Geist; er wußte von Tod und von Leben, von Gut und von Böse. Er erkannte das Geheimnis der Stunden, der Augenblicke und der Zeiten, sowie die Zahl aller Tage. Er erfaßte die Lehre von den Zeitabschnitten und von den Jubeljahren bis zum Ende der Welt.