Das Bild des Widersachers

von Martin Beheim-Schwarzenbach, aus: Das Mirakel, 1980.


Über dem Portal der Michaeliskirche im Herzen der Stadt Hamburg vollzieht der Erzengel auf einem riesenhaften Monument aus Erz die Unterwerfung des Abtrünnigen und setzt ihm den Fuß auf den Nacken, und seine sieghaft erhobene Kreuzeslanze kündet seinen Triumph. Übel ist das der Hingestreckte dran, um ihn ist es geschehen.

Obwohl man ihn seit vielen Jahrhunderten in immer der gleichen Weise mit erlesenen Künsten als den Gedemütigten und Gestürzten, auch wohl als den jämmerlich Übertölpelten darstellt und er, den man den Widersacher nennt, keinen besonderen Groll daran verschwendet, vielmehr hochmütig darüber gelacht hatte, mag wohl doch eines Tages seine Aufmerksamkeit auf jene Drachentötergruppe überm Kirchenportal gelenkt worden und wie ein Stachel in seinem Sinne steckengeblieben sein. War das in der Ordnung der Welt zu spüren gewesen? Wahrlich einen elenden Anblick bot der Hingestreckte, der sich unter der Lanze des Hochmächtigen wand, und glich mit seinen kraftlosen Flügeln mehr einer Fledermaus als dem Fürsten dieser Welt. Das ließ dem Fürsten dieser Welt keine Ruhe, so daß er sich zornig in der Gegend umtat, und da fiel sein Blick auf einen Bildhauer, der in einer Kellerwerkstatt über seiner Arbeit hockte und sich um die Vorgänge dieser Welt nicht kümmerte. Der Fürst dieser Welt fand, der Mann sollte sich um die Vorgänge draußen kümmern und eine Arbeit beiseite tun, um die es nicht zum besten zu stehen schien, denn er plagte sich weidlich.

Dem Mann waren schon Bedenken gekommen, wie er die schlanke Lanze ausführen sollte. Er hatte ein breites Stück des Holzes dafür vorsorglich ausgespart, aber er zögerte, es immer schmaler zu schnitzen. Die Eiche war fest und ganz ohne Risse, aber wenn die Lanze, und nun erst das Kreuz darüber, so werden sollte, wie es dem Vorbild entsprach, konnte es leicht splittern oder gar abbrechen, und dann war das Ganze verdorben und guter Rat teuer. So entschloß er sich, auf die Lanze zu verzichten und dem Sieger dafür ein breites Schwert, das er vielleicht zu einem Flammenschwert machen konnte, in die Hand oder auch in beide Hände zu geben, so daß die kraftvolle kämpferische Gebärde erhalten blieb. Er zögerte noch lange, nachdenklich und unschlüssig, ob dies der rechte Weg sei, und ließ den Meißel immer wieder sinken. Das Künstlerische seiner Aufgabe hielt ihn so gefangen, daß der Sinn und das Geheimnis seiner Arbeit ihm längst entglitten waren – und ohnehin war ihm nie daran gelegen gewesen, denn er war kein Gottesgelehrter und Philosoph, und mit deren Nachdenklichkeiten mochten Berufenere sich abgeben.

Er hatte auch das Gesicht des Gedemütigten noch nicht angetastet, denn seine Vorstellungen davon schwankten; doch mußte er sich wohl mit der Nachahmung des Vorbildes überm Kirchenportal zufriedengeben und jedenfalls auf eine Tierfratze, die ihn eigentlich mehr locken würde und die viele andere Künstler schon höchst widerlich und abschreckend dargestellt hatten, verzichten. Und war die Präsentierung des Fratzenhaften nicht auch allzu billig?

Seine Werkstatt war ein Kellergewölbe unter einem Speicher, mit einer Luke, die auf das Fleet hinausging, und einem Eisenofen an der Wand, dessen wackliges Rohr zur Luke hinführte. In einer Ecke lag ein Strohsack mit einer Wolldecke auf einer Schlafstelle, in einer anderen Ecke türmte sich ein Haufen roher Eichenkloben, und nahe der Luke, die nur ein blasses Tageslicht durchließ, stand eine stark zerschrammte Hobelbank mit einem Schraubstock, alles wie in einer Tischlerei. Der mit Pflastersteinen belegte Fußboden war mit Haufen von Schnitz- und Hobelspänen bedeckt, und hier und da standen und lagen fertige und halbfertige Schnitzarbeiten an die Wände gelehnt.

Der Bewohner dieser asketischen Wohn- und Arbeitsstätte saß auf einem Schemel vor der Hobelbank, in deren Schraubstock seine Arbeit eingespannt war. Er stark in einem groben Werkkittel: Ein ältlicher Mann von dürrem Wuchs, mit einer faltenreichen Stirn, borstigen grauen Haaren und einem Rundbart nach Art der Kapitäne und Seebären. Er holte, angestrengt und vorgebeugt, abwechselnd mit einem Schnitzmesser, Hammer und zweierlei Meißen kleine und große Späne heraus, darunter der Kotz sich allmählich verändert hatte und deutlichere Umrisse hervortreten ließ. Ein unkundiger Zuschauer hätte in diesem Augenblick schwerlich sagen können, was aus dem Werke werden sollte.


Aber der Besucher, der die schmale Treppe herunterkletterte, die unverschlossene Tür, an die er flüchtig pochte, aufstieß und hereinkam, schien mit allem, dem alten Raum, dem alten Mann und seiner Arbeit gut vertraut zu sein. Er grunzte einen kurzen Gruß, der aber nicht erwidert wurde, raffte seinen weiten Regenmantel hoch und ließ sich schnaufend auf einer Kiste nieder, die gegenüber der Hobelbank an der Wand stand. Hier saß er mit gespreizten Beinen und rieb seine Hände auf den Knien hin und her. Obwohl es noch hell war, denn die blasse Herbstsonne spielte draußen auf der öligen Wasserfläche des Fleetes, konnte der Bildhauer, der nur flüchtig hochblickte, das Gesicht des Mannes nicht erkenne, weil es von dem allzu großen Schirm seiner Mütze verdeckt war, kehrte sich aber auch nicht darum und brummte nur: „Um Verzeihung, das Licht schwindet, ich muß es nutzen.“

Der Besucher nickte und machte es sich auf der Kiste bequem. Er lehnte sich mit dem Rücken an die kalkige Wand, aber schauderte vor ihrer feuchten Kälte zurück. Schließlich schlug er ein Bein über die Kiste, so daß er nun rittlings auf ihr saß, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Fäuste, und sah der Arbeit des Schnitzers zu. Das dauerte längere Zeit, das Knirschen des Messers im Holz hörte nicht auf.

Eine Turmuhr schlug fern, keiner der Männer zählte die Schläge. Endlich ließ der Besucher sich vernehmen, und seine Stimme knarrte ein wenig: „Es ist eine althergebrachte Sitte, nicht wahr, daß man ihn so aussehen läßt, wie Sie es da machen? Ich meinte: der da bäumt sich unter dem Tritt des Siegers wie eine Natter unter der Hacke des Wanderers.“ Der Bildhauer sah hoch und erwiderte erstaunt: „Woher wissen Sie denn, wohin die Arbeit geht? Wären die Formen nicht in meinem Kopf, so könnte ich selber kaum erkennen, was daraus werden soll.“

Der andere sagte leichthin, und es klang halb bescheiden, halb prahlerisch: „In der einen und anderen Sache kennt man sich aus.“ Dann fügte er hinzu: „Sie müssen wissen, das Übliche in allen Ehren, aber es hat auch seine Haken.“

Der andere sagte darauf nichts, sondern wandte sich wieder dem Holzklotz zu, musterte ihn, gab ihm in der Zwinge eine andere Lage und zögerte noch, den Meißel wieder anzusetzen, aber inzwischen war es dunkler geworden, und er sah, daß es ohne Licht nicht mehr ging. Er entzündete mehrere Kerzen, darunter den Rest einer dicken Altarkerze, die er alle rings um den Schraubstock am abtropfenden Wachs festklebte, so daß die Arbeit von allen Seiten etwas Licht bekam. Auch jetzt noch war es für einen Unkundigen kaum möglich, aus den Umrissen des Holzes zu erkennen, was daraus werden sollte. Endlich richtete er sich auf, reckte die steifen Glieder und sagte: „Sie müssen einen scharfen Blick dafür haben.“ – „Mag sein“, war die Antwort, „aber sehr schwer ist es wohl nicht. Das hier soll dasselbe werden, was man den Kampf mit dem Drachen nennt, genau wie drüben über dem Kirchenportal zu sehen. Hab´ ich recht?“

„Es stimmt. Aus dem Klotz hier soll der heilige Michael werden, der mit dem Teufel kämpft, in ähnliche Art wie drüben in Erz. Ich sollte meinen, es wäre noch kaum zu erkennen.“

Der Besucher sagte trocken: „Kämpft? Hat ihn gar schon niedergekämpft?“ Über den Grund seines Kommens hatte er noch kein Wort fallengelassen. Er sah dem Fortgang der Arbeit aufmerksam zu. Endlich äußerte er, mehr wie im Selbstgespräch: „Der mit dem Teufel kämpft. So was hat es dem Vernehmen nach schon mal gegeben. Jedenfalls steht es geschrieben: Als Moses tot war, gab es einen Streit zwischen Michael und dem Teufel um den Leichnam des Moses. Sollte wohl heißen: um seine Seele. Wie das ausgegangen ist, weiß man nicht. Es war wohl auch nur ein Wortwechsel. Nicht setzte der Engel seinen Fuß auf den Nacken des Teufels. Nun ja, das ist schon sehr lange her. Übrigens, Teufel. Komisches Wort unter etlichen anderen. Der, hm, wohlgeformte Zwitter, der sich da in Todesnot krümmt und wohl keine Chancen mehr hat, heißt bei euch Teufel, wenn ich recht gehört hab. Er sieht aber eher aus wie ein Reptil als wie der Fürst dieser Welt, so nennt man ihn doch auch, wie? Hat er nicht sogar einen Schwanz?“

Er bekam keine Antwort. Der an der Hobelbank hatte sich wieder über seinen Klotz hergemacht, es war nichts weiter zu hören als das Klopfen des Hammers und das Schaben der Klinge. Allmählich traten Umrisse deutlicher hervor. Der uralte legendäre Vorgang, den das Werk darstellen sollten, nahm, ungefügig noch, Gestalt an.


Der Mann auf der Kiste ließ sich nach einer Weile wieder vernehmen: „Gut, gut. Es ist also üblich.“ Und leise, eindringlich: „Aber die Frage ist, ob es auch richtig ist. Ja, seid Ihr da so sicher?“

Der Meister sah hoch und furchte die faltige Stirn. Seine Brauen standen verschieden hoch und buschig über den Augen, was seinem Gesicht einen unruhigen Ausdruck verlieh. Er griff sich an den Kinnbart, senkte den Kopf und sagte abweisend: „Das ist nicht meine Sache. Aber es wird so wohl richtig sein.“

„Ihre Sache ist also“, brachte der Fremde lauernd hervor, „das Übliche?“

„Nicht das. Aber das Tröstliche und Einleuchtende.“

„Da haben wir´s!“ rief der Fremde. „Es ist ihnen, ist euch allein einleuchtend und tröstlich, daß der Engel den – den Aufbegehrenden unter seine Füße tritt?“

„Ihnen nicht?“ fragte der Meister kurz.

„Oder“, war die Gegenrede, „wie es da auf Ihrem Vorbild zu sehen ist, ihn mit seiner Lanze aufspießt wie ein Insekt – ein unaufhörlicher, unüberwindlicher Sieger?“

„Ihnen nicht?“ wiederholte der Meister ungeduldig.

Der andere schwieg eine Weile. Dann hub er ruhig an und wechselte dabei die Anrede unvermittelt, als fiele er in ein ganz anderes Zeitalter zurück: „Lieber Freund, habt Ihr in Eurem Herzen schon einmal das Böse triumphieren gefühlt?“

Diese Worte waren in einem Tone so bezwingenden Ernstes gesprochen, daß es den einsamen Mann, der den Austausch verschwiegener Gedanken nicht gewohnt war, kalt überlief. Er suchte mit einem Achselzucken anzudeuten, daß dies ihm ein Zuviel des Gefrages sei, dem er sich nicht zu stellen gedächte, aber die düstere Bedeutung der Frage ließ ihn nicht los, und so entgegnete er schließlich leise, ja, das Böse habe schon oft und oft in ihm triumphiert zum Schaden seiner Seele und seines Werkes.

„Und sagt mir auch“, bekam er weiter zu hören, „ob das, was Ihr von der Welt kennt und erfahrt, denn wirklich auf den glorreichen, unstreitigen Sieg des Himmlischen über den Drachen schließen läßt, sagt mir, aber bedenkt es wohl, ob denn in den Seelen und den Taten der Menschen zu lesen ist, daß es den Teufel, wie ihr ihn so nennt, nicht gibt, weil ihn der Spieß Michaels durchbohrt hat wie eine wehrlose Schlange, die ihm just in den Weg kriecht, und daß also nur noch die da droben Macht über die Welt haben... Sagt mir, ob das so ist oder wie es denn sonst ist, sagt es doch, dann wollen wir weiter disputieren.“

Der alte Mann am Schraubstock hatte seine Werkzeuge beiseite gelegt und die Arme auf der Bank ruhen lassen. Seine Blicke verweilten auf den noch rohen Umrissen seiner Arbeit, dem erhobenen Arm und dem Schwert des Streitbaren – denn er hatte die Lanze des Vorbildes zu einem Flammenschwert gemacht – und er antwortete ausweichend: „Ich bin kein Theologe und kein Gelehrter und weiß nicht, wie das zusammenhängt und wie die Welt gefügt ist und was Gott mit ihr vorhat. Aber ich weiß, daß es so, wie wir es von alters her sehen und abbilden, sein muß und nicht anders, damit wir aufrecht bleiben und den Mut zum Leben und dem Glauben behalten.“


„Ist es so oder nicht so, wie ich gefragt habe?“ wiederholte der Fremde fast tonlos und doch gebieterisch, ohne seine Stimme zu erheben. „Sieht die Welt danach aus, daß der Gegner Gottes am Boden liegt und im Staube verreckt, oder sieht sie nicht danach aus, daß er und die Seinen die Welt besitzen und die Arme zum Himmel recken mit lustig Gejauchz und Geklingel und die Heerscharen des andern schreien und flüchten vor ihrem Nahen?“

Nun verbarg er nicht mehr seine Erregung, die ihm in der Stimme zitterte, und dem andern war, als ob seine Augen unter dem Mützenschirm her flackerten, obgleich er sie doch gar nicht sehen konnte. „Ist es so oder ist es nicht so?“ wiederholte er heiser und streng.

Auch diesmal blieb ihm der Meister des Holzes, der Schöpfer so vieler Apostelgestalten, Muttergottesbilder und Kruzifixe die Antwort schuldig.

„Gut“, fuhr der Besucher ruhiger fort. „Wer hat gekündet, daß der da, der mit dem Schwert oder dem Spieß und seinem Heiligenschein euch vor dem Widersacher in Schutz nimmt, daß der da dieses Getümmel für euch alle ausficht und es siegreich und ohne allen Zweifel beendet glorios und als Triumphator?“ Und auf das Schweigen des Meisters: „Wer? Wer? Wer?“

„Es ist uns durch Offenbarung verheißen“, war die zögernde Antwort.

„Die Offenbarung steht hart neben dem Blendwerk“, sagte der Besucher so rasch, als hätte er die Antwort im voraus gewußt.

„Der uns geheißen hat zu hoffen“, entgegnete der Meister, „hat gewußt, warum. Gewiß ist unsere Hoffnung und unser Vertrauen nötig, damit alles zum guten Ende kommt.“

Der Mann auf der Kiste lachte ein wenig durch die Nase: „Zum guten Ende!“ Und nochmals: „Zum guten Ende. Die Menschen sagen also: Es sei das Ende des Widersachers ein gutes Ende... Nun, mag das so sein, wie die Menschen es sich denken, oder auch nicht, aber sagt mir eins, verehrter Meister: Ist es denn so ganz und gar ausgeschlossen, daß dieser Kampf anders, o ja, ganz anders ausläuft, als ihr es euch denkt? Sagt mir eins: Gibt es unter den Menschen jemals einen Kampf, dessen Ausgang von vornherein feststeht?“

Er hatte sich aufgerichtet, streckte die Hand beschwörend gegen seinen Zuhörer aus, und seine Augen flackerten: „Ich aber sage euch“, rief er, „einen solchen Kampf gibt es nicht auf der Welt noch über der Welt noch unter der Welt. Glaubt ihr denn, der Abtrünnige sei törichter als ihr und wüßte es nicht, wenn dieser Kampf für ihn aussichtslos wäre? O nein, er kämpft ihn, weil er ihn zu gewinnen trachtet, und wie der Kampf steht, das mögt Ihr daraus ablesen, wie die Welt aussieht. Lies, Mann, und es wird dir Bescheid!“

Dieser Befehl war in so gebieterischem Ton erteilt, daß der Bildhauer sich ihm widerspruchslos fügte. Er versank in Grübeln. Zwar war er nicht viel in der Welt herumgekommen, denn er verbrachte sein Leben in der Werkstatt, ganz seinen Bilder und Figuren hingegeben, den Heiligen und Bischöfen, den Märtyrern und Propheten, aber doch kannte er nach Art der Einsamen vieles von dem, was er nie erlebte, und kannte es besser als manch ein anderer, der sich den Wind um die Nase wehen ließ, und alles in allem sah er die Welt genauso wie ein alter umgetriebener Abenteurer, der sie durchmessen hat nach allen Richtungen der Windrose. Und während er nun auf diese Welt blickte, mußte er sehen, daß sie im argen lag, daß immer die edlen Herzen brachen, aber die wüsten weiter hämmerten in unbeirrbarem Gleichmaß, und ehe er noch in Worte zu fassen wußte, was er da fand, nahm es ihm sein Gegenüber vorweg: „Ihr seht, verehrter Mann, die Welt ist ein getreues Abbild des Streites zwischen Michael und dem anderen, und es ist an ihm, zu erkenne, daß die Sache des anderen nicht schlecht steht.“

Der Bildhauer wußte sich nicht mehr zu helfen in diesem Gespräch, dergleichen er noch nie geführt hatte, darum nahm er aufs neue sein Kerbmesser zur Hand und arbeitete stumm weiter mit tief gerunzelten Brauen.


Es dauerte lange, daß die beiden Männer schweigend so saßen, es dauerte Stunden, und der Meißel ruhte nicht. Der ihn handhabte, war ohnegleichen an Ausdauer, und sein Besucher ließ es an Geduld nicht fehlen. Zuweilen brannte eine der Kerzen herab und wurde durch eine neue ersetzt. Im Kopfe des Arbeitenden aber ging das Aussehen der Welt um und wurde beklemmend deutlicher, aber doch führten seine Hände den Triumph des Himmlischen in der Art, die er sich vorgenommen hatte, zu Ende. Als er innehielt und die Gruppe aus dem Schraubstock löste, war nur noch das Gesicht des Widersachers nicht zu erkennen, war wie von einem Schleier verhüllt, nur die Andeutung eines zum Wutschrei – oder war es ein Angstgestöhn? – geöffneten Mundes war sichtbar, alles andere nicht, eine leere Maske.

Der Fremde stand von seiner Kiste auf, trat näher und besah sich das Werk, die Knie gebeugt, die Hände darauf gestützt. Wirklich war die Gruppe derjenigen überm Kirchenportal mit einiger Ähnlichkeit nachgebildet, nur war der lange einer Lanze gleichende Stab mit dem Kreuz zu einem Schwert geworden.

„Nicht übel“, meinte der Betrachter kennerisch. „Sicher soll das in einer der Dorfkirchen des Landes seinen Platz haben?“

„Vermutlich. Mehrere der vernachlässigten Gotteshäuser brauchen eine Ausschmückung.“

Er drehte die Statue in den Händen. Der andere sagte ein Zitat her: „Und er sah, daß es gut war.“ Es war aber kein Hohn dabei, nur ein bedächtiges Lächeln. Und sein Gesicht war immer noch nicht zu sehen gewesen, denn die Mütze verbarg es. Jetzt schob er sie einen Augenblick nach hinten, wie es einer tut, der sich die Stirn wischen will, und der Bildhauer, der kurz hochsah, gewahrte ein Gesicht, an dem nichts fesselte, alltägliche Züge, die gleich wieder im Schatten verschwanden. Er fing an, müde zu werden, als sein Besucher sich vernehmen ließ: „Ich will das Ding kaufen. Es scheint mir delikat gelungen, wenn man über seinen Sinn auch argumentieren könnte. Aber Kunst bleibt Kunst, alles, was recht ist. Ich nehme es gleich mit, um ... nun, ich weiß noch nicht. Ich biete Ihnen dreihundert. Ja, dreihundert Taler in Goldstücken.“

Der Meister schrak auf. Es war eine Summe, wie er sie noch nie bezahlt bekommen hatte. Der andere aber fuhr fort: „Halt! Es ist eine Bedingung dabei. Man hat auch seine Wünsche. Ihr sollt mir für den gleichen Preis ein zweites Werk schaffen aus ebensolchem Holz, und es soll den gleichen Vorgang darstellen, nur mit umgekehrten Rollen, nach meinem, ja meinem Sinn und Geschmack.“

„Ich weiß, was Sie wollen“, sagte der alte Meister verdrießlich.

„Sehr gut. Wir verstehen uns. An die Arbeit denn, und in sieben Tagen.“

„Warum? Warum nur? Was soll es?“

„Nun, ich hab meine Freude dran. Mich reizt das Umgekehrte. In sieben Tagen hol´ ich mir´s ab.“

„Teufelswerk. Das mach´ ich nicht.“

Der Mann tat einen Pfiff. „Teufelswerk, was für ein Wort für ein Kunstwerk. Das neue Bild soll darstellen, was zu Unrecht noch nie gemacht worden ist, was aber notwendig zu machen ist, damit, was ihr das Übliche nennt, ergänzt wird. Es soll die Macht des Abtrünnigen darstellen, der den Engel unter seine Füße tritt oder ihn sonstwie abtut nach Eurem Gutdünken.“

„Kein Mensch“, sagte der Meister, „wird von einem solchen Machwerk was wissen wollen. Man wird sich mit Abscheu davon wenden, kein Kirchspiel wird mir einen Auftrag mehr geben.“

Der Besucher stieß die Luft durch die Nase. „Ketzerei? Gibt es das noch? Ja, früher wurde einer, der was Ungehöriges machte, verbrannt. Im Namen des Erlösers. Welch´ Zeiten! Nein, da seid unbesorgt, heute feiert man so was als was Exquisites. Und wenn nicht – überlaßt das mir.“ Und er fügte gleichsam bescheiden hinzu: „Man hat seine Verbindungen.“

„Mein Gewissen“, war die Gegenrede, „wird zwischen mir uns solcher Arbeit stehen und sie so schlecht werden lassen, wie sie´s verdient.“


„Laß auch das meine Sorge sein, dein Gewissen in die richtigen Bahnen zu lenken. Gewissen ist lenkbar, das weiß jeder Tölpel. Du sagst selber, du seist kein Gelehrter. Hast aber in dein Herz geschaut und gefunden, daß das Böse darin schon oft triumphiert hat zum Schaden deiner Seele und deines Werkes. Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, daß dieser Kampf ein Teil von dem ist, was du im Holz abbildest, und daß füglich dieser Kampf seinen Schauplatz in deiner Brust hat und seine Entscheidung in deine Hände gelegt ist?“

„Das ist eine furchtbare Last“, murmelte der Bildhauer.

„Ja! Ihr alle tragt sie. Nur ihr wißt es nicht. Wenn ihr es wüßtet, ihr würdet sie besser tragen, und eurem Engel wäre ein wenig geholfen. Vielleicht sogar viel. Aber weil ihr Gottesgespinst es nicht wißt, es nicht wissen wollt, darum steht es so ungewiß in diesem Gerangel.“

„Was sollen wir tun?“

Es war eine verstört klingende, zergrübelte Frage.

„Daran denken, daß auch das andere könnte geschehen. Nur daran denken, und damit ihr es nicht vergeßt, es auch in Holz schneiden und in Marmor hauen und in Erz gießen. Es euch vor Augen halten. Denn überlegt doch, wie die Zukunft der Welt sein wird, wenn ihr vor lauter Blindheit und Gleichmut euer geliebtes Idol laßt im Stich. Dann stehen alle eure Monumente und Gemälde, die zu früh frohlockt haben, nur noch da als Gespött des Siegers, Abfall, Wurmfraß, Pfaffenkram.“

Nach diesen Worten erhob er sich mit der Umständlichkeit eines älteren Herrn und trat an die Hobelbank. Griff unter seinen zu weiten Mantel und holte eine Handvoll Geldstücke heraus, die er nicht hinzählte, sondern wie es eben kam aus der Faust auf die Bank legte. Es mochten dreihundert sein oder mehr oder auch weniger. Der Meister warf einen mißmutigen Blick darauf.

„Aber die Arbeit ist noch nicht fertig“, wandte er ein. „Das Gesicht des Unterworfenen steckt noch im Holz, und das Holz gibt´s nicht her.“

„Das macht nichts“, war die unvermutete Antwort. „Was soll das Gesicht solch eines Gesellen. Es gibt gar keins. Keins, das man könnte im Holz nachmachen. Es ist so gut wie ein Geheimnis. Der Beschauer kann daraus machen, was er will. Alle Gesichter, die ihm bisher gegeben wurden, waren falsch, ein Trug. Die Leere dieser Fläche ist bloß Schein. Auch ohne das Gesicht habt Ihr ein superbes Untier daraus gemacht.“

Damit faßte er die Statue und tat sie sorgsam unter den Mantel. Als er damit zur Tür ging, blieb er vor einem Kruzifix stehen, das an der Wand hing. Er betrachtete es kennerisch, obwohl es so im Schatten war, daß es sich kaum erkennen ließ. Wandte sich halb um und sagte: „Kompliment!“ Und als ihn ein fragender Blick traf: „Vollkommen richtig. Es ist von Euch gemacht? Der Nagel durch die Handwurzeln, nicht durch die Handmitte, wie es immer irrtümlich gemacht wird. Ja, durch die Handwurzel getrieben. Nun denn – nach sieben Tagen, abgemacht.“ Und verschwand über die Kellertreppe nach oben.


Der Alte blieb in einiger Bekommenheit zurück. Er starrte auf den Haufen der Geldstücke. Obgleich sie ihm auf gute Zeit die Existenz sichern konnten, waren nicht sie es, die ihn verwirrten. In seinen Gedanken spielte sich das ganze Gespräch wieder ab, und so angestrengt er auch den Punkt zu finden suchte, wo jener geirrt hatte, es wollte ihm nicht gelingen. Und sosehr er sich auch mühte, das Gesicht des Besuchers vor seine Erinnerung zu rufen, es blieb ihm verborgen, da es immer im Schatten und unter dem Mützenschirm geblieben war, verschleiert, ein leeres Phantom.

Erst am anderen Tag machte er sich seufzend, aber doch von einer Neugier getrieben, ob ihm dies würde gelingen können, an die Arbeit. Wie sehr ihm auch jeder Neubeginn immer eine Hürde war, ein steiler Berg, den es zu erklimmen galt, hatte er doch die Gewohnheit angenommen, den Aufstieg fast blindwütig in Angriff zu nehmen. Es ging ihm von Anfang an nicht schlecht von der Hand, schon die Wahl des Holzstücks war schnell und glücklich getroffen, die ersten groben Umrisse der zwei Figuren schienen sich wie von selber aus dem Klotz ans Licht zu drängen, und von Stunde zu Stunde schritt die Arbeit leichtfüßiger fort. Seine geübten Hände, die knotig und alt waren, aber mit eisernen Sehen versehen, arbeiteten sieben Tage hintereinander, an denn die Goldstücke achtlos beiseite geschoben waren, ohne daß er sich die Mühe nahm, sie zu zählen.

Als der siebte Tag sich neigte, begann er zu erlahmen. Die kämpfende Gruppe war fast bis zur Vollendung gediehen. Michael lag am Boden, die Schwingen wie Tücher zerfaltet, sich krümmend unter der Ferse des Widersachers wie ein Wurm, Satan aber hielt das stoßbereite Schwert an die Brust gepreßt. Nur ein Geringes war noch an seinem Gesicht zu vollenden. Da ermattete die Kraft des Schaffenden. Traurigkeit überkam ihn, er stützte den Grauen Kopf in die Fäuste und grübelte vor sich hin, seine Gedanken ginge im Kreise. In dieser Haltung traf ihn der Besucher, der wiederkam, das bestellte Werk entgegenzunehmen. Er stand so plötzlich vor dem Sinnenden, als wäre er lautlos zu seinem Schläfer getreten, und dem Emporschreckenden schien es, als hätte er das im Schraubstock festgeklemmte Werk schon lange und gierig betrachtet.

„Das Gesicht ist noch immer nicht fertig“, sagte er sanft. Und bekam zur Antwort: „Die Arbeit lockt mich nicht.“

„Quält nicht das Unfertige den Künstler?“

„Vielleicht. Aber noch ärger quält das Verkehrte.“

„Das Verkehrte, das Verkehrte. Haben wir nicht lange genug darüber disputiert?“

„Da liegt das Geld. Ich hab´ es nicht einmal gezählt. Sie können es wieder mitnehmen, wenn Sie unzufrieden sind.“

„Ich bin nicht unzufrieden. Ich bin hoch zufrieden. Ich ästimiere Eure Kunst, lieber Freund, wäre ich sonst hier? Die Arbeit ist bestens gelungen. Nur wäre ich neugierig, wie Ihr Euch das Mienenspiel des Siegers vorstellt. Es kostet Euch nur noch eine Stunde, und das Werk ist getan.“

„Ich bin seiner müde. Es muß so bleiben, wie es ist.“

„Stückwerk also? Das will mir nicht gefallen. Was ist in Euch gefahren? Noch nie habt Ihr die Hand von einem Vorhaben gelassen, ehe es fertig getan war.“

„Dies kann nicht fertig werden. Es ist uns nicht gegeben, das Gesicht des Abtrünnigen zu formen.“

„Wer verbietet es euch denn?“

„Keiner. Aber wir kennen es nicht.“

„Kennt es nicht! Natürlich kennt ihr es nicht, wie solltet ihr es wohl kennen! Ein Gesicht, wie ihr es euch vorstellt, gäbe es das denn? Wir sprachen schon davon. Und wie denn, kennt ihr das Gesicht eures Engels? Habt ihr das jemals gesehen?“

„Es ist in unseren Herzen. Das des andern ist es nicht.“

„Es wird sein. Es ist immerfort um euch. Nur tut ihr die Augen nicht auf. Fanget an!“


Diese Worte waren so gebieterisch und beschwörend, daß eine schmähliche Regung des Gehorsams den Meister überkam. Er nahm den Meißel willenlos zur Hand und versuchte sich an dem Gesicht eines Wesens, das er nicht kannte und das doch die Züge eines Siegers tragen sollte. Der Besucher hatte sich wieder auf die Kiste gesetzt und sagte nichts. Plötzlich hielt der Meister inne und fragte: „Was ist aus der anderen Arbeit geworden?“ Der Gefragte sagte gleichmütig: „Es liegt da ein See im Lauenburgischen nahe dem Städtchen Mölln. Man nennt ihn den grundlosen Kolk, weil er so tief ist, daß er keinen Grund hat. Sein Wasser ist schwarz und totenstill. Ich habe dein Werk darein versenkt.“

„Es kann nicht gesunken sein. Es ist ja aus Holz.“

„Mein Unwille wiegt schwer. Es ist in die Tiefe gefallen wie ein Stein.“

Der Meister legte den Meißel beiseite und stand auf. „Es ist genug“, sagte er heiser. „Das Gesicht des Teufels ist nicht in meinem Herzen. Mag es im Holz bleiben und unseren Blicken entzogen.“

In der Tat wies die sieghafte Gestalt, wohin das Gesicht des Abtrünnigen gehörte, seine Züge nur undeutlich auf, auch diesmal hatte die Hand des Alten vor Unschlüssigkeit gezögert, es zu formen, als wäre sie gelähmt. Es war dunkler geworden. Nur ein paar Kerzen beleuchteten den Schraubstock und das Werk, alles andere war m Zwielicht. Der Besucher schickte sich ein wenig schwerfällig an, sich zu erheben. Dabei sagte er kennerisch: „Sie haben ihm nicht die Lanze mit dem Kreuz, die das Vorbild hat, in die Hand gegeben, auch keine erhobene Klinge, sondern das Schwert wie zu einem Dolchstoß bereit an die Brust gedrückt?“ Es klang wie eine Frage.

„Ein hochgereckter Stab“, war die Antwort, „müßte dünn ausgeführt werden, desgleichen ein gezücktes Schwert, und bricht allzu leicht ab. Dies ist kein Erz, sondern Holz.“

„Richtig, das leuchtet ein. Ein jedes Handwerk hat nun seine Grillen, sagt euer Goethe. Auch ist es gleichgültig und soll mir recht sein.“ Jetzt stand er von seiner Kiste auf und trat näher. Er schien eine Weile noch unschlüssig. Dann griff er an seine Mütze, als wollte er grüßen, und sagte mit unvermittelt verwandelter Stimme: „Es wird Zeit, daß das Antlitz, vor dem du so schauderst, dir vertraut wird. Sieh her und behalt es gut.“

Er schob die Mütze, die jetzt eher wie ein Helm aussah, vom Kopf, so daß das matte Kerzenlicht sein Gesicht traf, und da war es, als ob ein fahler Schein von weit her aus einer Lampe darauf fiele. Es war aber nun dieses Gesicht nicht, wie es vordem gewesen war, sondern kalkweiß, aber von herrlicher, ja herrischer Schönheit wie das Werk eines Meisters der Antike, der aus Marmor etwas Erhabenes hatte meißeln wollen, voller Kraft und voller Zorn, die harte Stirn mächtig über die Züge herrschend, die Lippen straff und Strenge darüber gegossen, so daß der alte Mann hingerissen darauf starrte wie vor einer fast überirdischen Erscheinung. Aber das dauerte nur um das Zeitmaß eines Blitzes, dann geschah etwas Greuliches, denn das Marmorgesicht verzerrte sich zu einer Fratze und tat den Mund auf, der jetzt ein Tiermaul war, aus dem Raubtierzähne gegen den Arglosen bleckten, und dazu stieß er eine hechelnde Hundezunge hervor, ein Zerrbild und Albdruck, auch dies nur um die Dauer eines Blitzes, so daß der Mann auf dem Schemel vor der Hobelbank tief verwundet aufsprang und sich abwendete, von Ekel übermannt, mit Übelkeit kämpfend und dem Ersticken nahe. Er stellte sich vor die Fensterluke und starrte auf das Fleet, riß sie heftig auf und sog gierig die nasse Luft ein.

Dann, von einer Ahnung gepackt, wandte er sich um und sah nach dem Schraubstock, der war leer, das Standbild war verschwunden. Die Werkstatt war leer. Schritte verhallten auf der Treppe. Auf der Holzbank lagen die Münzen. Da kam Zorn über ihn, er fegte sie in die Hand, und als er sie alle beisammen hatte, warf er sie in das ölige Fleet.

Danach dauerte es nicht lange, bis er den Schock und den Ekel von sich geschüttelt hatte. Er warf sich auf das Lager, aber fand keinen Schlaf, und der Tag brach an. Er machte sich auf den Weg zur Michaeliskirche, die die Einwohner kurzweg den Michel nannten, der Weg dorthin von seiner Werkstatt am Herrengraben war nicht weit, und starrte auf das Portal zu dem Monument hinauf, wie er schon oft, den Zeichenblock in der Hand, getan hatte. In seiner Brust pochte der Wunsch, den Sieger, den er verhöhnt hatte, zu versöhnen. Auch wohl hoffte er in seinem kindlichen Gemüt, ein Zeichen, eine Botschaft zu empfangen, eine Erkenntnis, einen Trost. Doch nichts geschah. In einsamer Größe, schweigend, verharrte das riesenhafte Bild des Kampfes, in seiner heftigen Bewegung verewigt.

Gegen Abend ging er noch einmal dorthin, als die untergehende Sonne auf das herrscherliche Monument fiel, was ihm zu neuem Gegrübel geriet. Und dann kam leise anrauschend ein Regen, und dann die Nacht.

Ein Jahrzehnt oder mehrere danach entdeckte der Küster in einer der alten Dorfkirchen des Landes Holstein das Blendwerk des Teufels, denn so und nicht anders nannte er vom ersten Augenblick an seinen absonderlichen Fund. Als er eines Morgens die Kirche aufgeschlossen hatte und sich an das Abstauben des Gestühls machte, fiel sein Blick auf das hölzerne Standbild, das über dem Dach der Kanzel stand und ihn in Verwunderung, auch in Beschämung setzte, weil er es, wie ihm schien, noch nie beachtet hatte. Um das Bild vom Staub zu reinigen, mußte er auf eine Leiter steigen, die er aus der Sakristei holte, und als er die Statue, die beinahe die Größe eines neugeborenen Kindes hatte, nun dicht vor Augen hatte, sah er zu seinem Schrecken, daß die beiden Gestalten, aus denen sie bestand, die eine aufrecht und die andere liegend, ihm deutlich wurden, indem die eine, die oben war, offenkundig den leibhaftigen Satan darstellte, während die andre wohl ein Engel sein mußte; aber sie waren verkehrtherum angeordnet, anders, als es sich doch gehörte, und wie es der Lehre widersprach, und dergleichen hatte er noch nie gesehen noch sich je vorgestellt, denn schändlich war das Ganze anzusehen. Überhaupt hatte er in dem ganzen Jahr, das er hier als Küster waltete, das lästerliche Machwerk nie wahrgenommen, und auch alle die Gemeindemitglieder, die sich jeden Sonntag hier zusammenfanden, hatten ihm nie Beachtung geschenkt, was wohl daran gelegen hatte, daß es von unten nur schattenhaft zu erkennen war.

Das Gesicht des Leibhaftigen war nur unvollständig ausgeführt, dennoch war ein triumphierendes Gelächter darauf zu spüren, was aber vielleicht nur an der Maserung des Holzes lag. Nun war dieser Küster kein Hasenfuß, sondern Manns genug zu handeln. Er langte entschlossen hin und rüttelte an dem ärgerlichen Gegenstand, um ihn herunterzuholen, aber da hatte er nichts Rechtes in der Hand, es zerfiel unter seinen Fingern zu Staub, denn die Holzwürmer hatten ihre zierlichen Gänge kreuz und quer hindurchgefressen und es von innen ganz zerstört. Als der Küster das sah, brach ein heftiges Gelächter aus ihm hervor, und er wußte nicht, warum, er war doch sonst ein ernster und trockener Mensch. Das Holz rieselte zu Mehl herab und ihm auf den Kittel und den Fußboden der Kanzel und ließ sich ohne Mühe wegfegen.

Aber das Wiederauftauchen des ersten, nach alter Sitte ausgeführten Michaelbildes des verstorbenen Meisters vom Herrengraben war einem Zufall zu verdanken, wenn es einen solchen denn gibt. Eines Tages sahen zwei Tippelbrüder, die durch die Wälder des Herzogtums Lauenburg zogen und am Rande eines Teiches rasteten, auf der stillen grün schillernde Wasserfläche über einem Gewirr von Schlingpflanzen ein Holzstück reiben, das ihre Neugier erregte. Sie wateten an den Uferrand, was nicht leicht war, denn der Wiesenboden war sumpfig und der Teich war, wie es hieß, schier bodenlos tief. Aber es gelang ihnen, das Ding mit Stöcken ans Ufer zu holen, und da hatten sie eine ellenhohe Statue, die aus zwei Figuren bestand, einer großen und aufrechten und einer kleineren liegenden, woraus sie nicht klug wurden, in den Händen. Der eine sagte, das müsse sich um eine Spielfigur aus dem Kasperletheater vom Spielbudenplatz handeln, aber der andere, der ein bißchen Bildung mitbekommen hatte, redete dagegen, indem er die Gruppe hin und her drehte: „Unsinn, Mann, so große Figuren gibt es beim Kasperletheater nicht. Nee, das´ was Frommes! Der eine muß ein Engel sein, hat ja Flügel, und der Kleine darunter, das weiß ich nun auch nicht, der kann Wunder was sein, hat auch solch Flügel, aber hat kein richtiges Gesicht und ist übel dran, so platt wie er da liegt, der hat nichts zu lachen.“

Sie zeigten ihren Fund im nahe gelegenen Städtchen herum, beim Tragen wechselten sie sich ab, und da wurde viel Wesens daraus gemacht. Es mußte sich um ein Werk eines sicherlich alten Meisters handeln, um ein Meisterwerk also, da ja Werke unbekannter und verschollener Künstler immer für Meisterwerke von besonderem Rang gelten, und war wert, in einer Kirche zu stehen, in deren Stille sich die Gemeinde zum Gottesdienst zusammenfand. Dorthin wurde es denn auch gestellt, nachdem man die Tippelbrüder angemessen belohnt hatte, und manchmal, wenn auch wohl nicht oft, kam bei seinem Anblick ein nachdenklicher Betrachter auf den Gedanken, in der Unruhe seines Herzens nach dem Gegenbild zu suchen und zu erwägen, ob der Kampf mit dem Drachen auch wirklich so abläuft.