Der lebendige Rudolf Steiner

Wer sich dem Wesen Michaels nähern will, muss sich im Grunde auch mit Rudolf Steiner selbst beschäftigen. Die Anthroposophie gibt ja so konkrete Schilderungen der geistigen Wirklichkeiten, dass man sich vielleicht zunächst scheinbar vor die Wahl gestellt fühlt, diese „Dinge“ glauben oder abweisen zu müssen. Dies ist aber nicht so. Rudolf Steiner hat selbst immer wieder betont, man solle alle seine Schilderungen unbefangen an den Erfahrungen der eigenen Lebenswirklichkeit prüfen. Nun ist es natürlich so, dass man zunächst nur hier und da prüfen und erkennen kann, dass eine Schilderung von Rudolf Steiner sogar plausibler ist als das bisherige Weltbild, was man hatte.


Trotz einer oder gerade für eine selbstständige Beschäftigung mit der Anthroposophie ist es wichtig, auch eine richtige Vorstellung in Bezug auf ihren Gründer zu gewinnen. Viele Menschen erleben beim Lesen seiner Texte sofort: „Hier spricht jemand mit absoluter Wahrhaftigkeit; an dem was dieser Mensch sagt, muss etwas dran sein.“ Andere fühlen sich bereits von der „merkwürdigen, komplizierten Sprache“ abgestoßen, von der Rudolf Steiner mehrmals sagte, er spreche bzw. schreibe absichtlich so, damit es nicht einfach konsumierend und ohne eigenes Urteil hingenommen wird, sondern die eigene seelisch-geistige Aktivität aufgerufen ist. Aber auch, wenn man möglichst unbefangen an Rudolf Steiner herangeht, lauern viele Fallstricke. Vielleicht hat man schon Erfahrungen mit der „real existierenden“ Anthroposophie gemacht, vielleicht hat man irgendwo schon über Anthroposophie oder Rudolf Steiner gelesen... All dies prägt natürlich die eigene Vor-Erfahrung, formt ein Vor-Urteil, das man dann kaum wieder loswird. Damit aber kann auch die eigene Vorstellung von der Anthroposophie selbst nur verfälscht werden. Gibt es eine Möglichkeit, Rudolf Steiner als den kennenzulernen, der er wirklich war?

Es ist im Sommer 2008 ein Buch erschienen, das sich in – wie ich meine – einmaliger Weise sowohl dem Wesen Rudolf Steiners als auch dem der Anthroposophie nähert: „Der lebendige Rudolf Steiner“, geschrieben von der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller. Schon zuvor hatte diese Autorin mehrere Romane verfasst, in denen ebenfalls mehr Anthroposophie lebt, als in vielen Büchern über Anthroposophie (zu empfehlen ist in deutscher Sprache zum Beispiel „Mutter eines Königs“), und 2007 das Buch „Der heilige Gral“, in dem sie in erschütternder Weise schildert, zu welchen ganz konkreten Erfahrungen man kommen kann, wenn man den auf dem reinen Denken basierenden anthroposophischen Schulungsweg wirklich betritt.

Ich kann das Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ nur jedem empfehlen, der ein unbefangenes Interesse an Rudolf Steiner aufbringt. Da das Buch in den Kern der Anthroposophie hineinführt, ist es stellenweise eine Herausforderung an das eigene (mutige) Denken, was aber nicht abschrecken sollte! Zugleich ist es in der „Anthroposophenschaft“ selbst nicht unumstritten, im Gegenteil. Mieke Mosmuller übt nämlich in einigen Kapiteln eine radikale Kritik an dem, was sich heute als „Anthroposophie“ herausgebildet hat. Sie vergleicht es im Grunde mit dem Verhältnis von toter Theologie zu lebendiger Christus-Wirklichkeit bzw. von Kunstwissenschaft und Kunst. Also ein Buch, das Rudolf Steiner und die Anthroposophie auch gegen die heutige Form der Anthroposophie verteidigen muss... Wie auch immer man sich zu diesem Buch stellt, es ist außergewöhnlich. Einige Zitate möchte ich hier anfügen.

Zitate aus "Der lebendige Rudolf Steiner"

„Das Aufnehmen-Können oder Abweisen-Müssen der Inhalte der Geisteswissenschaft hängt im Anfang stark mit der Beschaffenheit der Seele zusammen, die sie schon immer hatte.“

„Kein Wort der Geisteswissenschaft sollte je Dogma werden, denn dies ist ihr so fremd wie der Tod dem Leben. Todeskeime gibt es allerdings in der Geisteswissenschaft, überall da, wo nur der Verstand aufnimmt. Zuviel Leben kann es auch geben: wenn der Verstand zu Gunsten des Gemüts zurücktritt. Der Verstand selbst soll lebendig werden, dann wird die ganze aufgenommene Geisteswissenschaft lebendig. Sie kann dann im Menschen weiterwachsen, auswachsen, erblühen, fruchten, keimen...“

„Wie einem völlig unbekannten Mann sollten wir uns ihm nähern und einmal ganz neu erleben, was sichtbar wird. Auch der Anthroposoph, der ‚alles bereits weiß‘, könnte so einmal miterleben, wer eigentlich erscheint, wenn man Rudolf Steiner neu begegnet.“

„Wer sich tatsächlich meditierend mit den Geist-Erkenntnissen Rudolf Steiners einlässt, wächst in ein lebendes, webendes, vielgestaltetes, sich immer tragendes Weltenwort hinein. Man fragt sich dann höchstens erstaunt, wie es möglich ist, dass ein solches Wissen durch einen Menschen hindurchgegangen ist.“

„Die innerlichen Anstrengungen, die man machen muss, um zum reinen Denken zu gelangen, werden viel zu sehr unterschätzt. Es wird schnell gemeint, man habe etwas erreicht, während man erst einen Zehntelschritt gemacht hat. Dann aber kann man auch Rudolf Steiner nie in seiner Lebendigkeit erfassen, denn man formt sich keine hinreichenden Vorstellungen seiner ungeheuren innerlichen Aktivität – und meint gar, es ebenso gut oder noch besser zu wissen und zu können.“

„Ohne Wahrhaftigkeit gibt es keine Möglichkeit, sich zur geistigen Welt zu erheben, und wer bewusst über die Schwelle zur geistigen Welt geschritten ist, konnte das dank seiner Wahrhaftigkeit.
Unter Wahrhaftigkeit verstehe ich ein Verhalten, das das Wesen oder das Wesentliche so vollkommen wie möglich in Erscheinung bringt. [...] Die Wahrhaftigkeit im Denken tritt erst ein, wenn es zwischen dem Denker und dem Gedachten keine Distanz mehr gibt. Gibt es diese Distanz, dann hat man es entweder mit Abstraktion zu tun, oder mit Unwahrheit (bewusste oder unbewusste Lüge oder Irrtum). Im Denken ist man nur wahrhaftig, wenn man den Gedanken völlig durchschauen kann, und das ist nur dann der Fall, wenn man selbst – mit seiner vollständigen Menschlichkeit, mit seinem vollen Denker-Sein – im Gedanken leben kann, anwesend sein kann. [...]
Die Unwahrhaftigkeit [...] beginnt schon da, wo Anthroposophie vom Abstrakten her ‚behandelt‘ wird, statt sich von innen nach außen wahrhaft zu entfalten [...] Das Denken der anthroposophischen Wahrheiten muss immer mit dem Innersten der Menschenwesenheit verbunden bleiben, darf sich nie davon loslösen. [...] Die Gedanken dürfen nie Phrase werden, werden es jedoch, die aus den Gedanken geschöpften Verhaltensweisen nie zur Konvention, es besteht aber ein ganzes System ‚anthroposophischer‘ Konventionen, und die Taten, welche auch immer, nie zur Routine, diese findet sich jedoch im ganzen ‚anthroposophischen‘ Tatenleben (Vorbereitungsgruppen, Jahresfeste, Tagungen, Konferenzen, Zweigabende, usw.).

„Für mich war das seit dem ersten Satz Rudolf Steiners, den ich las, klar: Dies ist nicht nur eine Erkenntnisaufgabe, man muss sich selbst verwandeln wollen, und im Werk Rudolf Steiners liegt der Leitfaden dazu. [...] Erst im Tun der Anthroposophie bekommt man eine Ahnung der Geistgestalt Rudolf Steiners.“