Der Welt Anfang

von Jakob Streit, 1956, aus: Jakob Streit: Und es ward Licht. / Ineke Verschuren: Der Drache mit den sieben Köpfen.


In früher Zeit, da gab es keine Erde, keine Wolken und keine Sterne, nicht einmal eine Sonne. Da war es finster um und um. Kein Tierlein ist gesprun­gen, kein einziger Vogel geflogen. Wie hätten sie fliegen wollen, da doch weit und breit keine Welt war. Was hat es denn da gegeben? - Einen Him­mel, ja, den hat es gegeben, eine obere Welt, hoch und weit über unseren Sternen. Und Gottes Auge leuchtete im Himmel wie eine Sonne. Die kleine­ren Engel konnten gar nicht in Gottes Auge hineinschauen; das war ihnen viel zu hell. Es leuchtete stärker als unsere Sonne, und da hätte es sie geblen­det. Die großen Engel aber durften ein wenig in Gottes Auge schauen und auch in die Nähe seines Thrones treten, wenn sie Gott Vater etwas sagen wollten. Im ganzen Himmel war eine schöne Musik; das neigte und flötete und harfte, und die Engel sangen ganz lange Lieder, und wenn ein Konzert zu Ende war, fing ein anderes gleich wieder an. Da gab es Engel, die wirkten auf Gott Vaters blauen Mantel goldene Sterne. Andere Engel fingen Licht­strahlen auf und kneteten sie zu Edelsteinen ... und so war alles eine Pracht und ein großes Wunder.

Einmal beteten zwei große Engel vor Gottes Thron. Als sie sich erhoben, stiegen sie gemeinsam abwärts durch den Himmel; denn Gottes Thron war zuoberst, wie auf dem Berg die Bergspitze. Auf einmal blieb der eine Engel, namens Luzifer, stehen. Er schaute all die Pracht des Himmels, und er be­trachtete sein leuchtendes Himmelskleid und dachte dabei: „Wie ist es doch schön, so ein Gott zu sein! Mein Kleid ist fast so hell wie Gottes Kleid. Mit meinem Lichtkleide könnte auch ich auf einem Throne sitzen.“ Wie Luzifer so dachte, kam ein kleines, finsteres Wölklein vor seine Stirne wie ein Spin­nengewebe. Das Wölklein ging gegen sein Herz und machte auf seinem Her­zen einen Fleck ins Kleid. Luzifer erschrak, als er dies sah; aber schnell deckte er mit einem Flügel den Flecken zu. Wie er wieder weiter durch den Himmel flog, begegnete ihm Michael und fragte: „Luzifer, was ist mit dir? Bist du krank? Du hast so einen dunklen Flecken im Kleide.“ Luzifer ant­wortete: „Es drückt mich da ein wenig auf dem Herzen; es ist weiter nichts.“ Und dann schwebte Luzifer schnell hinweg zu den kleineren Engeln und sagte zu ihnen: „Fertigt mir ein feuerrotes Mäntelchen, ich muß da etwas zudecken.“ Er erhielt das Mäntelchen und deckte damit den Herzflecken zu. Da sah man nichts mehr davon. Luzifer blieb bei den kleinen Engeln und fragte sie: „Wollt ihr mir helfen einen Thron bauen? Ich setze mich darauf und bin euer Gott! Zum höchsten Throne dürft ihr ja nicht aufsteigen. Zu meinem Throne dürft ihr immer kommen.“ Viele Engel erschraken über diese Worte; andern aber gefiel Luzifer so gut, daß sie mit ihm einverstanden waren. Diese hörten auf zu singen, hörten auf zu musizieren und wirkten nicht weiter an Gottes Himmelskleid.

Da kam Michael schauen, was bei Luzifer sei, und voll Schreck brachte er die Botschaft vor Gottes Thron, daß Luzifer einen eigenen Thron baue. Gott Vater sprach: „Geh und sage Luzifer, er solle sein Herz zerreißen, dann will ich ihm ein neues, helles Herz geben. Will er es tun, so bringe ihn zu mir. Will er es nicht, so soll er seinen Thron haben, aber nicht im Him­mel. Greife zum Schwert und kämpfe ihn zum Himmel hinaus!“ - So hat Gott Vater gesprochen.

Das alles sagte Michael dem Luzifer; aber der hatte schon viele Engel auf­gewiegelt und er wollte kein neues Herz. Da sangen die Engel nicht mehr. Laute Stimmen riefen wirr durcheinander. Es wehte ein feuriger Wind und donnerte durch die Himmel. Michael ergriff sein Himmelsschwert. Blitze zuckten aus ihm. Mit mächtiger Stimme rief er: „Wer Gott Vater treu bleiben will, der trete auf meine Seite!“ Luzifer aber rief: „Wer mit mir in den neuen Himmel will, komme zu mir!“ Da schieden sich die Geister in zwei Gruppen, Michaels war die obere, Luzifers die untere. Jetzt schlug Michael mit dem Blitzesschwert in die Himmelswand. Das krachte und krachte und gab einen tiefen Spalt! Luzifer und seine Engel kämpften und wehrten sich; sie woll­ten nicht hinaus ins Finstere. Aber Gott Vater ließ sein Himmelslicht nicht mehr auf sie scheinen. Da erbleichten die schönen Farben in ihren Kleidern und Flügeln. Finster und häßlich wurden ihre Gesichter. Aus ihren Fingern wuchsen Krallen hervor. Sie heulten laut auf und stürzten vor Michaels Schwert zum Himmel hinaus in die Tiefe, Luzifer mit ihnen. Seither gibt es eine untere, finstere Welt. Die bösen Geister machten dort aus eigenem Licht ein Feuerchen; denn es fror sie an den Pfoten. Sie tanzten um das Feuerchen herum; da wuchs es zum großen Feuer. Den Thron aber, den sie für Luzifer schmiedeten, stellten sie auf das Feuer, daß er immer warm habe. Oben schloß Michael die Himmelsspalte wieder zu. Wo sie gewesen, blieb seither eine Narbe.