Die Zeit des Erzengels Michael

von Anne-Monika Glasow, aus: Zwischen Traum und Tag, 1956.


Es waren nur zwei Kinder, die in dem alten Gutshause lebten, in diesem großen, weitläufigen Hause mit seinen Prunksälen, in denen so manches Mal auch die Zaren zu besonderen Festlichkeiten erschienen waren, mit seiner Ahnengalerie, seinen vielen Fremdenzimmern. Nur zwei Kinder waren übrig geblieben von einem alten glänzenden Geschlecht. Sie lebten unbekümmert in dem einsamen Hause, das ihnen von kleinauf lieb und vertraut war. Zu diesem Hause gehörte eine alte Kapelle, die weit und breit im Lande bekannt war durch die große Michael-Ikona, die über dem Altar hing, und durch die Erzählungen, die sich an diese Ikona knüpften. Ein Vorfahr des Grafengeschlechts hatte sie in grauer Vorzeit auf einer Reise in die dichten Wälder des Nordens, wo er einen heiligen Einsiedler aufsuchte, von diesem erhalten und nach Hause gebracht. Es war eine rechte Ikona, voll heiligen Lebens und im Geiste geschaut. Sie zeigte den heiligen Michael mit seinem ehernen Schwert als Bezwinger des Drachens. Ein Pilger im Bettlergewand hatte einst vor der Ikona betend gekniet und dann – des Geistes voll – geweissagt: „Wer aus dem Geschlecht des Grafen das Schwert des Michael ergreifen wird, der wird eine neue Welt finden und für sein Volk gewinnen.“ Diese Worte lebten fort in de Familie des Grafen und wurden nicht vergessen, aber recht verstanden hatte man sie nicht. 

Die beiden Kinder waren ein Knabe und ein Mädchen. Der Knabe am Michaelstage geboren, und wie alle erstgeborenen Knaben Michael getauft, war der jüngere. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Das erste Kind, dem sie das Leben schenkte, war ein Mädchen, zur großen Enttäuschung des Vaters und Großvaters. Diese Enttäuschung, die sie nie verbargen, legte sich wie ein grauer Schleier über die Kindheit des kleinen Mädchens, trotz der zärtlichen Liebe der Mutter. Es war am Tage des heiligen Georg geboren und konnte als Mädchen den Namen seines Heiligen nicht tragen. Die Mutter gab ihm den Namen Sophia „es ist der schönste und heiligste Name für ein Mädchen.“ „Warum nicht Maria, wie unsere Gottesgebärerin?“ murrte die alte Kinderfrau. „Ach meine Teuere, das verstehst du nicht. Es ist ja der wahre Name der Gottesmutter, die Trägerin der Weisheit Gottes ist. Heute wissen es nur einige heilige Ikonenmaler, und der mir diese Ikona schenkte, erklärte es mir. Siehe, die Gottesmutter trägt hier ein purpurnes Gewand und nicht ein blaues, wie sonst beinahe immer auf den Bilden. Daran kannst Du erkennen, daß der Maler etwas anderes geschaut hat.“

Dieses Gespräch mit der Mutter, und noch Vieles andere erzählte die alte Kinderfrau in späteren Jahren der kleinen Sophia und fügte oft hinzu: „Sie war so fromm und gottesfürchtig, daß Gott ihr Worte schenkte wie aus dem Evangelium. Werde wie sie, und denke an Deinen Namen – sei liebevoll zu Deinem Bruder.“ Sophia bemühte sich, die Eifersucht zu bezwingen und begann wie eine kleine Mutter für ihren Bruder zu sorgen. Der dankte es ihr mit überströmender Zärtlichkeit, und die Geschwister wurden unzertrennlich. Oft saßen sie bei der Kinderfrau, die ihnen alte Märchen und Sagen erzählte. Aber immer wieder wollte Michael die Legenden von den Drachentötern Michael und Georg hören. „Ich will werden wie mein Schutzpatron, dessen Namen ich trage“, rief er mit strahlenden Augen, „wenn es doch noch Drachen gäbe!“ „Drachen gibt es auf Erden genug, wenn sie auch eine andere Gestalt tragen“, sagte die Kinderfrau, „wünsche Dir nicht, ihnen zu begegnen.“ „Und Du, Sophia, was willst Du einmal tun? Du bist doch auch am Tage eines Drachentöters geboren? Weißt Du, ich nenne Dich von heute an: Georgia. Dann wirst Du auch eine Kämpferin.“ „Das ist kein Name für ein christliches Mädchen“, sagte die Kinderfrau. Doch der kleine Michael blieb dabei, und bald nannten alle im Hause sie bei diesem Namen.
 

Es war, als ob der neue Name eine Veränderung in dem Mädchen bewirkte. Wenn sie jetzt vor der Ikona des heiligen Georg kniete, betete sie nicht, wie sonst wohl, um seinen Schutz, sondern sie flehte inbrünstig und leidenschaftlich: „Laß mich eine rechte Kämpferin gegen den Drachen und das Böse werden!“ Die Kinderfrau strich ihr dann wohl über das Haar: „Seelchen, Täubchen, was für ein schweres Leben erbittest Du Dir! Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn wir Dich weiterhin Sophia gerufen hätten.“ Auch der Großvater, der einige Jahre auf dem Gut lebte, nannte das Mädchen Georgia und war nicht mehr so verletzend gleichgültig gegen sie. Spürte der alte Krieger die Veränderung, die in ihr vorging? Diesen Großvater sahen die Kinder selten. Er war ein lebensfroher Offizier am Zarenhof gewesen, im Krieg mit höchsten Orden ausgezeichnet. Dann hatte er sich plötzlich von allem zurückgezogen – wie man sich zuraunte nach einem besonderen Erlebnis, von dem man nichts Bestimmtes wußte – und war mit seinem Diener, der mit seinem Herren jung gewesen, auf sein stilles Gut zurückgekehrt. Er lebte ganz einsam und empfing keine Gäste. Sein Sohn, der Vater der Kinder, hatte nach dem Tode der geliebten Frau sein Land verlassen und war in der Fremde gestorben. Jeden Abend brachte der alte Graf mehrere Stunden in der Kapelle zu, im Gebet vor der Michael-Ikona, und niemand durfte ihn stören. Vor der geschlossenen Tür, auf den Stufen kniete der alte Diener, auch im Gebet mit seinem Herrn verbunden.

Eines Nachts weckte die Kinderfrau die Geschwister. „Steht auf. Der Großvater will Euch sehen. Der Todesengel hat an unser Haus und an sein Herz geklopft. Gott wird ihn bald rufen.“ Der Großvater saß aufrecht in seinem Bett. „Komm näher, Enkel Michael. Wir sind die letzten eines alten Geschlechts, Du und ich. Bald wirst Du der Einzige und Letzte sein. Du kennst die Weissagung, die der Pilger angesichts der Michael-Ikona getan hat: `Wer aus dem Geschlecht der Grafen das Schwert des Michael ergreifen wird, der wird eine neue Welt finden und für sein Volk gewinnen.´ Keiner unserer Vorfahren hat den Sinn dieser Worte versanden. Ich hätte sie verstehen können und bin daran vorüber gegangen – aus Bequemlichkeit und Eitelkeit. Zur Warnung in Deinem weiteren Leben will ich es Dir erzählen:

Ein Krieg war ausgebrochen. In der Nacht, bevor die Truppen auszogen – mich hatte man nicht gerufen, weil ich einer der letzten eines alten Geschlechtes war – träumte mir, der heilige Michael wäre aus dem Rahmen der Ikona gestiegen und stünde an meinem Bett. Ich vernahm folgende Worte: `Die Weissagung des Pilgers kann sich an Dir erfüllen, wenn Du Dich nicht fürchtest, Dich frei machst von dem, was Dich innerlich bindet, keine äußeren Ehren suchst und zu einem Opfer bereit bist. Dein Volk wird bald in ein fremdes Land kommen. Dahin will ich Dich führen auf anderen Wegen, und du wirst dort vernehmen, welches die neue Welt ist, von der die Weissagung spricht, und wie Du sie erringen kannst für Dein Volk. Finde die Antwort auf meine Worte in Deinem Herzen und meide falschen Rat.´

Als ich erwachte, wußte ich die Worte wohl, aber der Sinn blieb mir verschlossen. Statt im Gebet mich um die Deutung zu bemühen, ging ich zum Priester des Zarenhofes und erzählte ihm alles. Dessen Deutung war einfach: er wies mich auf den Krieg hin, der eben begonnen hatte und fügte hinzu: `Wenn Du unserer rechtgläubigen Kirche den Weg bereitest in das Land der Ketzer, dienst Du der heiligen Sache Michaels.´ Ich folgte seinen Worten, meldete mich freiwillig und zog mit in den Kampf. Es war ein blutiges Ringen, und so mancher ist von meiner Hand gefallen. Das Land wurde erobert, die andersgläubigen Priester vertrieben, verhaftet, das Volk in unsere rechtgläubige Kirche hineinverführt und hineingezwungen. Als ich nach Hause kam, wurde ich gefeiert und erhielt alle Orden und Ehrenzeichen, die man verleiht für die Erweiterung der Macht des Zaren und der Kirche. Doch für mich gab es keine Freude und keine Ruhe mehr. Ich erkannte bald, daß ich einer falschen Deutung gefolgt war und daß sich eine offene gnadenvolle Tür vor mir geschlossen hatte. Ich habe bereut und gebüßt – gebüßt auch für Dich, Michael damit die Weissagung nicht von Dir oder Deinem Nachkommen genommen wird.

Enkel Michael, glaube einem Sterbenden: die Welt des heiligen Michael ist nicht eine Welt, die man mit dem Schwert in äußerem Kampf um die Macht erringen kann. Sein Schwert ist von anderer Art und seine Welt eine himmlische Welt, die er auf Erden in den Herzen der Menschen errichten will. Wie er diesen Kampf führt und wie wir an ihm teilnehmen können, das zu erfahren habe ich mir verscherzt. Aber eine Gewißheit ist mir geworden: wir dürfen und werden an seiner Seite kämpfen, weil wir Menschen aus seiner himmlischen Welt kommen und nach unserem Tode dahin zurückkehren – in seine Scharen. Sei wachsam, besiege jede Furcht in Deinem Herzen, diene der Wahrheit – nur so kannst Du ein Streiter Michaels werden, versprich es mir.“ Der Knabe kniete nieder: „ich gebe Dir mein Wort, Großvater.“ Der Alte segnete ihn und machte das Kreuzeszeichen über Stirn und Herz. Dann rief der Großvater die Enkelin. „Komm auch Du näher, geliebtes Kind, dem ich früher viel Unrecht getan habe! Es ist wohl so, daß auch die Frauen unseres Geschlechtes Kämpfer werden müssen. Sophia-Georgia, bete zum heiligen Georg um Erleuchtung und gehe tapfer und in Treue den Weg, den er Dir weist.“ Am nächsten Morgen öffnete der alte Diener weit alle Fenster und verkündete: „Unser Herr hat sein Leben hier auf Erden beendet; er wünscht den Zurückbleibenden ein langes Leben.“


Zunächst blieben die Kinder ungestört auf dem Gut. Dann besannen sich entfernte Verwandte auf sie, und Michael wurde in die Kadetten-Anstalt gebracht: er sollte Offizier werden, wie alle seine Vorfahren. Für Sophia fand man eine Erzieherin, ein älteres Fräulein von altem Adel, die bereit war, ins alte Gutshaus zu ziehen. Georgia fürchtete sich vor ihr, aber sie erwies sich als ein Mensch, der viel erlebt und erlitten und ein weites und gutes Herz dadurch erworben hatte. Und als sie gar den Namen Georgia schön und passend fand, hatte sie bald das Herz ihres Zöglings gewonnen. Auch die Kinderfrau war zufrieden: „Du bist von hohem vornehmen Geschlecht, und es gehört sich, daß Du etwas lernst; ich habe Dich lieb wie mein Kind, aber ich bin nur eine alte einfache Frau.“

Es war eine große Freude für die Kinder, daß Michael die langen Sommermonate jedes Jahr zu Hause verbringen durfte. Sie waren beide ernster geworden, und es gab viele Fragen, die sie beschäftigten und die sie nur miteinander besprechen konnten. Besonders die Abschiedsworte des Großvaters waren es, die immer wieder neue Gedanken in ihnen weckten. Daß der Großvater die Menschen als Wesen bezeichnet hatte, die vom Himmel kommen und dahin zurückkehren, war ihnen beinahe selbstverständlich. Durch die vielen Sagen und Märchen, die die Kinderfrau ihnen erzählt hatte, war ihnen die Natur vom Geiste belebt und beseelt. Die höchsten Wesen waren für sie der „Himmel“, der Schöpfer-Gott und die lebende mütterliche Erde. Alles Leben, alles Werdende entstand durch die Verbindung der Lebenskräfte dieser göttlichen Wesenheiten. Die Engel und die Heiligen waren ihre Helfer und Diener, und alle Geschöpfe waren vom Geist erfüllt.

An einem sonnigen Herbsttage saßen Georgia und Michael mit der alten Kinderfrau auf den Stufen der Terrasse und blickten hin über das herbstliche Land. Die Felder waren abgeerntet, an einigen Bäumen hingen noch schwere reife Früchte. Ein Bauer ging mit stetigem Schritt über einen wohlvorbereiteten Acker, und gegen den hellen Himmel erkannte man die gleichmäßigen Schwingungen seines Armes, mit denen er das Winterkorn aussäte. „Gott segne die Saat“, sagte die Alte, „und gebe unserer Mutter Erde die Kraft, uns gesundes Brot zu schenken“. „Jeden Frühling und jeden Sommer wächst alles und reckt sich dem Himmel zu, und im Herbst wird es still in der Natur und alles neigt sich wieder zurück zur Erde – die vollen Ähren, die reifen Früchte“, sagte Georgia nachdenklich, „ja, manche Frucht sinkt sogar tief in den Erdboden“. „Im Evangelium steht: Das Weizenkorn muß in die Erde und sterben, wenn es auferstehen und Frucht bringen will“, sagte die Frau. „Das gilt wohl auch für die Menschen“. „Du meinst, daß wir hier auf Erden sterben müssen, um im Himmel einst auferstehen zu können?“ fragte Michael. „Nein, Kind, ich meine ein anderes Sterben und ein Auferstehen hier auf Erden“.

Es brach ein neuer Krieg aus. Michael, der junge Offizier, mußte als einer der ersten hinausziehen. Für wenige Tage kehrte er in sein Elternhaus zurück, um Abschied zu nehmen. Am letzten Abend standen die Geschwister auf der Terrasse unter dem Sternenhimmel. „Ob es der rechte Weg ist, den Du einschlägst, Michael? Denke an den Großvater und wie er über seine Teilnahme am Kriege sprach“. „Ich kann nicht anders, als diesen Weg gehen; es ist meine Pflicht. Mein Leben gehört meinem Volk, aus dem ich hervorgegangen bin. Aber ich fühle keinen Haß und keine Feindschaft. Und ich weiß, daß es der rechte Weg ist, Georgia! Dir allein will ich es sagen, welches Erlebnis mir das offenbart hat: Wir kamen von einer Übung zurück – der letzten vor unserem Aufbruch an die Front. Es war um die Mittagsstunde. Ich war etwas zurückgeblieben und stand allein auf einem kleinen Berge. Am Himmel war eine einsame Wolke. Ich schaute sie an; sie vergrößerte sich, nahm eine andere Gestalt an, und ich erkannte den Erzengel Michael mit seinem ehernen Schwert. Ein himmlisches Strahlen war um ihn. Die Helligkeit füllte mein ganzes Herz. Ich bedeckte mein Gesicht, und in meinem Innern vernahm ich die Stimme, die zu mir sprach: `Gehe ruhig den Weg der Pflicht, der Dir vorgeschrieben ist. Du gehst ihn in Liebe und Opferbereitschaft, ohne Haß und ohne Ehrgeiz. Deshalb habe ich Dich dazu ausersehen, daß sich an Dir die Weissagung erfüllt. Du wirst meinen Ruf vernehmen, wenn Deine Zeit da ist´. Und diesen Weg will ich nun gehen, Georgia. – Aber was wirst Du tun, wenn der Krieg länger dauert und Du so allein auf dem Gute bist?“ „Ich werde warten, bis auch mir mein Weg gewiesen wird. Ich bitte den heiligen Georg täglich darum“.

Sie gingen zusammen in die Kapelle und knieten vor der Michael-Ikona. „Denkst Du an das Opfer, das das Weizenkorn bringen muß, Michael?“ „Wir denken wohl beide daran, liebe Schwester, aber auch daran, daß es dann tausendfältige Frucht trägt“. Am Morgen von Michaels Abreisetag versammelten sich alle in der Ahnengalerie, an der Spitze der Dienerschaft die Kinderfrau und der alte Diener. Alter Sitte gemäß saßen sie feierlich im Kreise und schwiegen minutenlang. Dann standen sie auf, wandten sich der „Gottesecke“ mit den Ikonen zu, verneigten sich tief, und die Kinderfrau bat im Namen aller um Schutz und gesunde Heimkehr für ihren jungen Herren. Sie bekreuzigte sich, und einer nach dem anderen verließ mit einer tiefen Verbeugung das Zimmer. Michael kniete vor der Kinderfrau und zog Georgia an seine Seite. „Du warst uns immer eine Mutter. Gib Deinen Kindern den Segen“. So schied der junge Michael.

Schon nach wenigen Wochen erhielt Georgia die Nachricht von seinem Tode. Ein Kamerad schrieb: „Wir wurden zu einer nächtlichen Erkundung ausgeschickt, an der Spitze unser Leutnant, Ihr Bruder. Vorsichtig schlichen wir auf die feindlichen Linien zu. Über uns ein herrlicher Sternenhimmel. Da – ein Geräusch. ‚Hinwerfen´, befahl flüsternd unser Leutnant. Er selbst blieb stehen und sah zum Himmel empor: ein leuchtender Meteor zog dort seine Bahn. Und plötzlich breitet unser Leutnant die Arme aus und ruft – Worte deren Sinn ich nicht verstand, die ich aber deutlich vernahm: `Erzengel Michael, ich bin bereit, ich ergreife Dein Schwert´. Da traf ihn die feindliche Kugel mitten ins Herz. – Wir haben ihn am anderen Tage begraben auf einem Hügel unter einer jungen Birke. Das kleine Bild des heiligen Michael, das er auf der Brust trug, hängten wir an das Kreuz aus weißen Birkenstämmchen. Wir hatten keine Blumen für das Grab, aber die Birke streute goldene Blätter darüber hin“.

Georgia hatte seit Michaels Erzählung den frühen Tod des Bruders geahnt. Und doch traf sie die Nachricht hart. Sie schloß sich völlig teilnahmslos von allen Menschen und ihrem Tun ab, bis die Kinderfrau diese Erstarrung durchbrach: „Denkst Du, Georgia, daß Michael jetzt in untätiger Ruhe weilt? Hast Du nicht verstanden, daß Erzengel Michael ihn in die Schar seiner Kämpfer gerufen hat? Hat Dir Dein Bruder nicht den Namen Georgia gegeben, damit Du auf Erden eine Kämpferin wirst, wie er es jetzt im Himmel ist?“ Georgia erwachte aus ihrer dumpfen Benommenheit. Sie ging in die Kapelle und suchte Hilfe bei der Ikona des heiligen Georg. Erst überflutete der Schmerz alles; dann trat er langsam zurück, und sie begann zu spüren, wie ein Strom von Ruhe und Kraft von der Ikona in ihr Herz zog; wie sie wieder Liebe für ihre Mitmenschen empfinden konnte.

Aber nicht nur sie selbst änderte sich, auch die Ikona erschien ihr immer wieder neu, und vieles sah sie daran, was sie noch nie beachtet hatte, weil es ihr nebensächlich erschienen war. Sie erkannte jetzt, daß hinter allem eine tiefe Bedeutung stand, die dazu dienen konnte, dem, der sich darin versenkte, eine neue Erkenntnis zu vermitteln. So erkannte sie, daß es eine geistige Wesenheit war, die – aus dem offenen Himmel, in dem Heilige und Apostel betend versammelt waren, herabgestiegen – die Schlinge um den Hals des Drachen geworfen hatte, ein Zeichen dafür, daß der Drache im Himmel besiegt war. „Du bist es, Erzengel Michael, Du hast ihn besiegt, und du und der heilige Georg, Ihr werdet unsere Helfer sein im Kampf gegen ihn hier auf Erden“. Lange Stunden sah sie das Gesicht des heiligen Georg an, seine Augen, die die Erde noch nicht wahrzunehmen schienen; die nicht auf den Drachen, dem der Kampf galt, gerichtet waren, sondern fragend in unbekannten Fernen etwas zu suchen schienen. „Hältst Du Ausschau nach Mitkämpfern hier auf Erden? Nach Menschen mit mutigen, geisterfüllten Herzen?“ Als sie den Entschluß gefaßt hatte, alle ihre Kräfte dem Kampf des heiligen Georg zu geben und in tiefem Gebet vor der Ikona kniete, war es ihr, als ob die weisende und segnende Hand des Christus von der Ikona leise ihre Stirn berührte und damit ihren Entschluß bejahte und heiligte.

Auf Anraten der Kinderfrau begann sie damit, daß sie allen Armen und Kranken mit Liebe half und ihnen beistand. „So ist es recht, mein Seelchen, so tat auch Deine Mutter“. Man dankte Georgia ihr Tun mit Liebe und Vertrauen. An den Sonntagen, wenn ein Priester von der Provinzstadt herüber gekommen war, kniete Georgia mitten zwischen ihrem Gesinde und den Dörflern vor den Ikonen des heiligen Michael und des heiligen Georg. Der alte Diener fand das ungehörig, aber die Kinderfrau sagte: „Laß es so sein; wer weiß, ob nicht Gutes daraus entsteht.“ Die Kapelle war offen für jederman und fast immer konnte man andächtige Beter darin finden.

Die Zeit schritt weiter. Es kamen Briefe, die Georgia dringend empfahlen, das einsame Gut zu verlassen und in die Stadt zu ziehen. Sie sprachen von Unruhe und Rebellion, auch unter den Bauern. Georgia fragte ihre Kinderfrau darum. Die bestätigte es ihr: „Bei uns ist es ruhig, die Bauern sind zufrieden. Das danken wir Dir. Aber wie lange es so bleiben wird – wer weiß es! Der Drache ist gar listig, er hat seine Saat gesät – wird sie aufgehen? Der Böse läßt die Menschen in Versuchung fallen, wenn sie selbst es am wenigsten erwarten.“ Da wußte Georgia, daß sie bleiben mußte.

Es kam der langgefürchtete Augenblick, wo Georgia das elterliche Haus doch verlassen mußte. Sie floh mit der Kinderfrau, die ein kleines Bündel trug; Georgia rettete nichts als die Ikona des heiligen Georg. Der alte Diener wurde erschlagen, als er sich schützend vor die Michael-Ikona stellte, deren edelsteingeschmückter Rahmen die fremden Aufrührer lockte. Georgia fand mit ihrer Kinderfrau einen ersten Unterschlupf in der Hütte eines Waldhüters. Aber ihre Bauern fanden sie bald und baten sie, zu ihnen zurückzukehren. Zwar, das Gutshaus war niedergebrannt, aber die Bauern hatten so manches Stück gerettet und richteten damit ein Stübchen für sie ein. So kehrte Georgia ins Dorf zurück. Der Ruf von ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer Furchtlosigkeit verbreitete sich bald, und es kamen Boten aus den umliegenden Dörfern, die sie riefen. So ergab es sich, daß sie ein Wanderleben führen mußte. Und wenn sie auch kein irdisches Gut mehr zu verschenken hatte, so gab sie doch viel: überall trat sie furchtlos dem Bösen entgegen und kämpfte für Gerechtigkeit und Frieden.

Man tat ihr nichts, und selbst der roheste Geselle trat scheu zur Seite, wenn er sie sah, und verließ das Dorf, wenn sie blieb. Sie half, wo sie konnte. Die Bauern jammerten, daß sie keine Kirchen mehr hatten. Georgia stellte ihre Georgs-Ikona auf eine Krippe in einem verlassenen Stall oder auf einen Stein im Kellergewölbe und zeigte den Bauern, daß man beten könne auch ohne Kirchen und Altäre. „Bleibt in der Wahrheit und in der Gerechtigkeit und tretet dem Bösen entgegen – ohne Furcht, wo ihr es seht.“ Sehr alt wurde Georgia. Lange schon hatte sie der Kinderfrau die Augen zugedrückt. Sie wanderte unermüdlich von Dorf zu Dorf – wohl der einzige weibliche Pilger, von dem man gehört hat. Sie wurde von allen geliebt und geehrt als ein Bote Gottes. Man nannte sie mit ihren beiden Namen, aber man sagte: „Mütterchen Georgia-Sophia.“ Als sie starb, es war in ihrem alten Dorf, trugen die Bauern ihren Sarg auf den Schultern hinaus auf einen Hügel. Hier wurde sie unter einer Birke begraben – wie sie es gewünscht hatte. Und Sommer und Winter pilgerten die Bauern zu ihrem Grab, über dem an einem einfachen Holzkreuz die Ikona des heiligen Georg hing, sorgfältig vor Wind und Wetter geschützt.


Die laute Welt wußte nichts von der Mutter Sophia-Georgia und ihrem Tun. Nur die Stillen im Lande, die einfachen Menschen. Und die Jugend bat immer wieder, ihr zu erzählen von dem strahlenden jungen Helden Michael, den der Erzengel selbst zu sich in den Himmel geholt, und von der Pilgerin Gottes, der Mutter Georgia-Sophia, die eigentlich ein Engel gewesen war. Die Saat, die sie gesät, ruhte still in den Menschenherzen und wartete auf den Tag, da sie aufgehen würde und Frucht tragen – Hundertfältig.