Michaelslegende

von Heinz Müller, aus: Martin Sandkühler: Sankt Michael der Gottesheld.


Es war einst ein Mann, der hatte viel in seinem Leben gearbeitet und war alt und weise dabei geworden; denn alles, was er getan hatte, war mit Liebe zu seinem Werke geschehen und um den Menschen zu helfen. Darum konnte er nicht nur mit andächtigem Herzen viel Schönes in der Welt sehen und erleben. Er hatte sich die Gabe errungen, auch dann noch schauen und lauschen zu können, wenn andere Menschen, im Schlafe befangen und ohne daß sie davon etwas wissen, in jeder Nacht von ihrem Engel in ihre Himmelsheimat geleitet werden.

Einst wanderte er so an der Seite seines Engels in lichte Höhen. Da kamen sie an ein goldenes Tor; das war verschlossen. Sein Engel trat ein wenig zurück und sprach: „Warte noch eine kleine Weile, dann wird dir das Tor aufgetan!“ Und wirklich, bald dar­auf ertönte ein gewaltiges Tönen wie von vielen Posaunen, und ein rollender Donner mischte sich darein. Da öffnete sich das Tor, und ein heller Schein, wie von Gold und Silber strahlend, blendete zunächst den Blick. Bald aber sah der Alte einen mächtigen Engelsfürsten vor sich; dessen Gewand schimmerte, als sei es gewoben aus den Strahlen der Sonne und des Mondes; in seinen Händen trug er eine Schale aus reinem Gold. Der Mann aber fragte einen Engel: „Wer ist es, den wir hier sehen?“ – „Das ist Michael, der den Drachen überwand und der nun vor Gottes Antlitz steht als der Herrscher unserer Zeit.“ So lautete die Antwort. Während der Alte sich ehrfürchtig umschaute, sah er: da kamen mit freudigem Blick viele Engel daher. Die traten vor Michael hin, und jeder trug in seinen Händen eine Gabe, die reichten sie Michael dar. Der Erzengel nahm ein jedes der Geschenke in seine Rechte und betrachtete es mit großer Freude. Dann legte er eins nach dem anderen in seine goldene Schale.

Der Engel aber, der bei dem alten Manne stand, sah dessen fragenden Blick und sprach: „Du siehst jetzt, wie frohgemut die Engel ihrem Führer und leitenden Zeitengeist die Gaben reichen. Das sind die Früchte der Taten und Leiden aller der Menschen, die sich im lichten Denken, im warmen Fühlen, im kraftvollen Wollen gemüht haben, Michaels treue Freunde und Mitkämpfer auf Erden zu sein. Was Michael in seine Schale sammelt, das wandelt er um in Schmuck und Harnisch zugleich für die Erdenmenschen, von denen die Geschenke stammen. So reicht er, was ihrem Mühen entsprießt, den Seelen seiner Getreuen veredelt zurück, und ihre Geistgestalt wird immer mehr umleuchtet von dem Glanz und der Kraft und dem Mute ­der Scharen, die Michael dienen. Bei seiner umwandelnden Arbeit aber fallen goldene Körner wie Geistessamen ab. Die wirft er, siehe nur hin, in weitem Schwunge zur Erde.“ – Wie nun der schauende Greis, der weisenden Geste seines Engels nachblickend, sein Auge zur Erde schweifen ließ, da sah er wissend, was da geschah. Gleich leuchtenden Sternen sah er die Geistessamen zur Erde fliegen, und des strahlenden Goldes Glanz spiegelte sich auf allen Wipfeln der Bäume und des ganzen Waldes wider. Mit jedem neuen Samenwurf senkte sich der Glanz des Herbstes tiefer in die Wälder hinein.

Als der Greis den Blick von der Erde hinweg wieder in die Höhen des Himmels lenkte, sah er gerade, wie vor Michael eine zweite Schar von Engeln hintrat, nicht so freudig wie die erste, eher ein wenig zögernd. Aber sie alle trugen in ihren Händen irgendeine kleine Gabe für Michael. Ehe nun der erste von ihnen sein Geschenk darbrachte, sprach er zum Fürsten der Engel: „Viel ist es nicht, was wir in deine Hände zu legen haben; aber doch sind wir froh, daß wir nicht bar der Gaben kommen müssen. Oft vergaßen die Menschen, deren Hüter und kaum von ihnen geahnte Begleiter wir sind, die rechten Wege zu gehen und Taten der Liebe zu vollbringen. So fürchten wir fast deinen Zorn, o Michael, und hoffen auf deine Gna­de.“

Michael aber nahm das Wenige, das sie zu bieten hatten, mit großem Ernste entgegen und sprach dann: „Wenn eure Schutzbefohlenen auch nur in Geringem treu waren, so haben sie sich doch noch nicht von uns losgesagt. Hütet die Keime des Guten in ihren Seelen, damit sie lernen, auch im Großen treu zu sein; denn Freude herrscht in unserem Reiche über jeden, der noch die rechten Wege findet!“

Staunend gewahrten die Engel der zweiten Grup­pe, daß Michael ihnen aus seiner Schale weit größere Gegengaben reichte, als sie erwartet hatten, und mit neuer Hoffnung und neuem Mute wollten sie sich eben wieder auf den Weg zu den Ihren machen.

Da nahte sich zögernden Schrittes eine dritte Grup­pe von Engeln. Die senkten ihren Blick, als sie vor Michaels Antlitz traten, und standen nun da mit leere­n Händen. Einer aus ihrer Schar trat vor und bat den Drachenbezwinger: „Nimm uns Unglücklichen unsere Aufgabe ab! Wie sollen wir vor dir bestehen, da die Seelen derer, die wir hüten sollen, verstockt sind und stumpf? Wir treten mit leeren Händen voll Scham und Scheu vor dich.“ In Michaels Antlitz flammte es auf, und grollend wie Donner erklang seine Antwort: „Nicht kann ich euch von euren Posten abberufen. Gehet zu den Menschen, denn der Drache ist unter ihnen mit seinen verderbenbringenden Scharen! Nicht mehr in Himmelshöhen ist ihre Heimat. Mit dem Schwert werden sie ausziehen zum Bruderkrieg gegeneinander, und Not und Verzweiflung wird das Los derer sein, die sich jetzt noch im blinden Taumel der Lust und der satten Trägheit der Herzen gefallen. Alle Schrecken und Nöte des Untergangs sind die Früchte verblendeter Selbstsucht und Eigenliebe. Ihr aber wachet über die dem gerechten Gerichte Verfallenen! Im lodernden Brand der Vernichtung, wenn die Schäden der Seele, verglühten Schlacken gleich, von ihnen abfallen, erspähet die fast schon verloschenen Funken göttlichen Wesens in ihnen, entfacht sie von neuem zur Glut und rettet, was irgend noch wert ist zu retten!“ Da jubelten alle Engelchöre, die Michael umgaben. Er aber warf aufs neue seine Geistessaat weithin über die Erde. Und der schauende Alte, vor dessen Seherblick sich das alles gezeigt hatte, wußte plötzlich in seinem Herzen:

„Wer unter den Menschen das Geistesgold hütet und liebend pflegt, dem wird sein Herz zur goldenen Schale, in die der Lehrer der Menschenliebe gern etwas von seinem unendlichen Schatz hineinlegen wird.“