Mont Saint-Michel

von Martin Sandkühler nach alten Legenden, aus: Sankt Michael der Gottesheld.


Im südöstlichen Winkel der großen Bucht von St. Malo mündet eine kleinere Ausbuchtung, die heute „Bucht des Mont Saint Michel“ heißt. Die Strömung des Meeres zeigt sich hier immer noch gewaltig und bei Flut ist der Meeresspiegel kaum niedriger als der der Hochsee. Bei Ebbe aber sinkt das Wasser bis zu fünfzehn Meter und zieht sich bis zu achtzehn Kilo­meter vom Ufer zurück.

Wald umgab den kleinen Granitberg, der in früheren Zeiten mit dem Festland verbunden war, doch eine Sturmflut hat wohl vor dem achten Jahrhundert die Verbindung hinweggespült und dem Berg die Inselgestalt gegeben. Auf dem Berg aber, in einer kleinen Höhle, entsprang eine heilsame Quelle, die Quelle auf dem „Mons Tumba“, wie sie geheißen war. Es war ein heiliger Ort schon aus Vorzeiten und der Name deutete auf eine frühere Grabstätte hin.

In einer Nacht des Jahres 708 erschien dem Bischof von Aubert von Avranches der Erzengel Michael und bedeutete ihm, er solle auf den Mons Tumba ein Heiligtum erbauen. Der Bischof aber fürchtete in seiner Skepsis, von einem Trugbilde genarrt zu werden und folgte der Aufforderung nicht. Ein zweites und ein drittes Mal mußte der heilige Michael dem Bischof erscheinen, bis dieser endlich die göttliche Herkunft seiner Träume erkannte und der Weisung Folge leistete. Er sah sich nach dem geeigneten Platz um und überlegte, welche Größe wohl das Bauwerk haben solle, als ihm Michael abermals erschien und ihm bedeutete, er solle Ausschau halten nach einem weißen Stier und dort, wo er dessen Spuren im taufrischen Gras fände, solle das Oratorium entstehen, genau in der Größe, wie sie der Stier bezeichnen würde. Der Bischof ging hin und fand die Grasfläche, die der Stier niedergetrampelt hatte und ließ alsbald dort auf Mons Tumba die Bauarbeiten aufnehmen.

Die Arbeiter stießen aber kurz danach auf zwei riesige Dolmen, die sie nicht von der Stelle bewegen konnten. In der Nacht darauf erschien Sankt Michael im Nachbardorf einem Manne mit zwölf Söhnen und dem sagte er: „Gehe morgen hin zum Mons Tumba, nimm deine zwölf Söhne mit und schaffe mit ihnen zwei Felsen beiseite, die die Arbeiten am Heiligtum hindern.“ Der Mann tat wie ihm geheissen und es gelang ihm, die Felsen von der Stelle zu rücken. Die Kirche wuchs und die Krypta bekam die Form des Grottenheiligtums auf dem Monte Gargano, denn Bischof Aubert ­hatte den Baumeister eigens nach Süditalien geschickt, damit seine Kirche der Michaels-Grotte auf dem Gargano ähnlich sei.

Nun kam der Tag, an dem die neugebaute Kirche geweiht werden sollte. Von nah und fern zogen die Pilger an die Bucht und warteten, damit das Wasser zurückgehe und sie auf den Berg könnten. Noch aber war die Zeit der Ebbe fern, da ereignete sich das erste große Wunder dieses feierlichen Tages: die Wasser des Meeres wichen vorzeitig zurück und ließen Priester und Pilger hinüber zur Weihe der Kirche. Der Festtag nahm seinen Fortgang, die Menschen standen gedrängt in der Kirche beim Hochamt und hymnischer Gesang zu Ehren des heiligen Michael zog durch den Raum, zusammen mit dem Rauch der Weihe aus den Gefäßen der Priester. Als der große Tag sich dem Ende zu neigte, zogen Priester und Pilger hinunter zum Ufer der Insel und abermals ereignete sich das Wunder, daß des Meeres Fluten sich vor der Zeit zurückzogen, um die frommen Scharen ans Fest­land hinüber zu lassen.

Bei den vielen Menschen, die vom Berge herunter sich zum anderen Ufer begaben, befand sich auch eine junge Frau und die war schwanger. Wegen der Fülle ihres Leibes konnte sie sich nicht so schnell bewegen wie die anderen alle und blieb deshalb zurück. So kam sie verspätet ans Ufer und auf den Weg hin­über zum Festland. Als sie erst halben Weges hinüber gewandert war, langsam und mühevoll, da kam das Wasser bereits wieder zurückgeflossen und schloß sie ein. Sie stand im Wasser als die Zeit kam, da sie gebären sollte - und sie gebar inmitten der bewegten Wel­len, und flehte und betete zum heiligen Erzengel Mi­chael, daß er sie und ihr neugeborenes Kind errette. Und siehe, ein drittes Wunder ereignete sich: über dem Wasser erschien eine helle Lichtgestalt, die hielt einen Stab gesenkt und ein Weg wurde frei, der troc­ken zum Ufer führte, so daß die junge Frau und ihr Kind gerettet werden konnten. Sowie alle das Fest­land erreicht hatten, verschwand die Lichtgestalt und das Meer nahm wieder seinen Platz ein. Alle knieten in Dankbarkeit nieder und priesen Michael, der dieses Wunder gewirkt hatte. Das Kind aber war ein Knabe, den seine Mutter sogleich mit dem Wasser des Meeres auf den Namen Michael taufen ließ.


Die Kunde von den Geschehnissen am Weihetag der Kirche auf dem Mont Saint Michel verbreitete sich geschwind über ganz Europa, und unzählige Pilger machten sich auf, den heiligen Berg des Michael zu besuchen. Doch nicht nur die Erwachsenen, sondern vor allem viele Kinder wurden durch die Ereignisse angesprochen. Und keinen nahm es wunder, daß sich aus fernen Gegenden des deutschen Reiches ganze Scharen von Kindern aller Altersstufen auf den Weg machten, um zum Michaelsberg zu pilgern. Sie trugen Fahnen mit dem Bildnis des Erzengels vor sich her und zogen so durch die Lande, und die Leute am Wege verpflegten und beherbergten sie, bis die ferne Küste der Normandie mit der Bucht erreicht war, in der der heilige Berg aufragte.

Als sie auf dem Berge ankamen, knieten sie nieder und beteten inbrünstig und weihten ihre Fahnen dem Erzengel.

Dreimal hat sich ein solcher Aufbruch deutscher Kinder nach dem Mont Saint Michel ereignet. Die ersten nannten sich die Hirtenknaben und viele von ihnen versicherten, sie hätten zuhause himmlische Stimmen gehört, die einem jeden sagten: „Geh zum St. Michaelsberg!“ Und alsbald hatten sie gehorcht und von einem heißen Wunsche getrieben machten sie sich sogleich auf den Weg, ließen ihre Herden auf den Feldern und zogen zum Berg, ohne von irgendeinem Menschen Abschied zu nehmen.

Der letzte Zug kam aus Schwäbisch Hall, wo auch eine Michaelskirche steht. Von dort aus zogen die Kinder, geführt von ihrem Schulmeister, zum Mont Saint Michel. Stark war ihre Inbrunst und groß ihre Erregung, so groß, daß diejenigen der Kinder, deren Eltern sie zurückhielten, schwer erkrankten. Der sehnsuchtsvolle Zug aber zog durch die Lande, die Michaelsfahnen voran und sie sangen auf dem Wege ihr Pilgerlied:

Heiliger Sankt Michael, der lag und schlief,
Bis daß ihn Gottes Stimme dreimal rief.
Wach, wach, wach Michael und tröste deine Kinder
Durch Deinen Willen.
Kyrie eleiseon.
Lieber Herr Sankt Michael, was hattest du im Sinn,
Daß Du also hast gebauet in das wilde Meer
Und also in des Meeres Berg?
Kyrie eleison.

Sankt Michael und der ist gut,
der will uns Gnade tun.
Das gebiete Gottes Stimme.
Fröhlich so waren wir.
Hilf uns edel Maria, zu Dir.
Darnach steht unseres Herzens Begier.
Kyrie eleison.

Herr Sankt Michael, steh uns bei,
Wann wir sollen sterben.
Mach uns von allen Sünden frei
und laß uns nicht verderben.
Vor dem Teufel uns bewahr,
Reine Magd Marie.
Hilf uns in der lieben Engel Schar,
So singen wir Alleluja.
Alleluja singen wir
Dem guten Herrn Sankt Michael,
Zu Lobe, daß er uns gnädig wolle sein,
Wohl an des Himmels Throne.
Kyrie eleison. Gelobt seist Du Maria.

Lieber Herr Sankt Michael,
Was tust Du im welschen Lande,
Unter den schnöden Welschen?
Sie nehmen uns die Pfande.
Sie geben uns das Kupfergeld
Um unser rotes Gold.
Nun singen wir: Alman kuck, kuck,
Den Deutschen nimmer hold.

Kyrie eleison.