Michaeli
Michaels Erscheinung am Monte Gargano
von Martin Sandkühler nach der Legenda Aurea, aus: Sankt Michael der Gottesheld.
Es lebte einst in Apulien ein Mann namens Garganus, der Eigentümer großer Herden war. Zu seinem Herrschaftsgebiet gehörte auch ein Berg, der nach dem Manne genannt wurde. Andere Berichte sprechen aber davon, daß des Mannes Name nach dem Berge gewählt ward.
Nun geschah es im Jahre des Herrn 490, daß die Herden des Garganus an den Hängen des Berges weideten. Als die Tiere des Abends in ihre Pferche getrieben wurden, da vermißte man einen weißen Stier, der des Herrn Liebling war. Sogleich nahm da der Herr eine Schar seiner Knechte, ging und suchte den Stier am Berge. Lange mußten sie auf unwegsamen Pfaden um den Berg ziehen, bis sie den Stier schließlich auf dem Gipfel des Gargano-Berges vor dem Eingang einer Höhle stehen sahen. Noch aber war der Stier nicht erreichbar, denn keiner fand den Zugang zu dem Felsenplateau vor der Höhle, wo er in seiner ganzen Majestät im Abendlichte stand. Als immer mehr Zeit verging und keine Aussicht bestand, den Stier zu erreichen, war der Herr ungeduldig, nahm seinen Bogen und schoß mit einem Pfeil nach dem Tier. Kaum aber hatte der Pfeil die Sehne verlassen, da flog er auf den Schützen zurück, als hätte der Wind ihn stracks gewendet, und traf ihn ins Auge. Der Stier aber blieb, von der Abendsonne umglänzt, auf der Felsenplatte stehen.
Die Knechte und ihr Herr eilten voller Schrecken nach Hause und berichteten dem Bischof in der nahen Stadt Sipontus von dem großen Wunder. Der Bischof hörte sich den Bericht in Ruhe an und ordnete alsdann ein dreitägiges Fasten an, indem er sprach: „Fastet und betet diese drei Tage, indem ich Gott bitten will, daß er uns kund tue, was dies bedeuten soll.“
Der Bischof verharrte im Gebet und da erschien ihm Sankt Michael in der Morgendämmerung des 8. Mai und sprach zu ihm: „Wissen sollt ihr, daß jener Mensch durch meinen Willen von seinem Pfeile getroffen wurde, denn ich bin Michael der Erzengel, der seine Wohnstätte auf diesem Berge hat und dessen Hüter ist. Mit diesem Zeichen aber sollte kundgetan werden, daß ich selber dieses Ortes Hüter und Wächter sein will.“
Da zogen der Bischof und alle Bürger der Stadt und auch die Mannen des Garganus und er selbst in einer Prozession auf den Berg und beteten dort in Andacht vor der Höhle, doch hatten sie große Scheu hineinzugehen.
Nicht lange danach, im Jahre 492, zogen die Heiden aus dem Süden heran und griffen die Christen in der Stadt Sipontus an. Da gerieten die Bürger in große Bedrängnis. Der Bischof verhandelte mit den Belagerten und erwirkte einen Waffenstillstand von drei Tagen. Als er in die Stadt zurückkam, ordnete er abermals ein dreitägiges Fasten an und verhieß den Menschen, er werde ihren Schutzherrn Sankt Michael um Hilfe anflehen.
In der dritten Nacht erschien Michael dem Bischof und sprach: „Deine und deiner Mitbürger Bitten habe ich wohl gehört und ich will euch aus der Bedrängnis helfen. Wenn ihr den Mut habt, um die vierte Stunde des kommenden Tages einen Ausfall zu wagen, werdet ihr trotz der Übermacht der Feinde die Sieger sein.“
Um die bezeichnete Stunde führte der Bischof die Sipontiner zum Ausfall gegen die Feinde. Als sie aufs Feld kamen, da überzog Finsternis den bebenden Berg, Blitze ohne Zahl fuhren hernieder und unter Donner brauste ein Sandsturm mit Wucht gegen die Feinde und blendete sie, so daß die Sipontiner sie weit uns Land hinein verfolgen konnten. Viele der überlebenden Heiden aber erkannten da die Kraft des Erzengels Michael, schworen ihrem Glauben ab und ließen sich als Christen taufen.
Abermals zogen die Bürger mit dem Bischof hinauf auf den Gargano vor die Höhle Michaels, um ihm zu danken. Doch auch diesmal wagten sie nicht, die heilige Höhle zu betreten oder gar als Kirche Michaels zu weihen. Der Bischof wandte sich in seinem Zweifel an den Papst Gelasius, der ihm riet, die Grotte zur Kirche zu weihen, zuvor solle er aber versuchen, den Willen des Erzengels zu erforschen.
Und als der Bischof in seine Stadt zurückkam, bat er die Bürger ein drittes Mal um drei Tage Fasten im Gebet. Am dritten Tage, dem 29. September im Jahre des Herrn 493, erschien dem Bischof Sankt Michael abermals und sprach zu ihm in ernsten Worten also: „Nicht ist es not, daß ihr die Kirche auf dem Berge weihet, denn ich selbst habe sie gebaut und geweiht und gegründet. Ihr aber sollt mit dem Volke kommen und eingehen in die Höhle und daselbst die Messe zelebrieren. Zum Zeichen der Weihe aber sollt ihr von Osten her auf einem Seitenpfade zur Höhle kommen. Dort findet ihr die Fußspuren eines Menschen im Marmor abgedrückt. Und in der Kirche werdet ihr einen Altar finden, mit einem Purpurmantel bedeckt, auf dem ein kristallenes Kreuz steht. Die Grotte aber schließet bei Sonnenuntergang und öffnet sie erst wieder bei Sonnenaufgang, denn des nachts werde ich selbst, der Herr der Höhle, dort die Messe zelebrieren.“
Der Bischof tat, wie ihm geheißen und als er anderntags mit allem Volk zur Grotte hinaufstieg, fand er alles so, wie der Erzengel verheißen hatte. Sie feierten dort die Messe und ein jeglicher empfing das Abendmahl und danach kehrten sie heim mit großer Freude.