Michael – nur ein Mythos?

Es gibt Menschen, die sich „Anthroposophen“ nennen und Rudolf Steiners Schilderungen höherer Wesenheiten als „neuinszenierte Mythen“ darstellen. Dies tut Sebastian Gronbach, Redakteur des sehr bekannten „anthroposophischen“ Monatsmagazins Info3, in seinem im Frühjahr 2008 erschienenen Buch „Missionen“ (>> mehr zu Gronbach und seinem Buch):

 

„Rudolf Steiner war ein Meister darin, seinen spirituellen Ideengehalt in vertraute mythologische Gewänder zu kleiden und so diesem Ideengehalt, dem trojanischen Pferde gleich, Ein­lass in die Häuser, Häupter und Herzen zu verschaffen.

Ein Geniestreich ist die Neuinszenierung des Erzengels Michael. [...] Dieses „Michael‑Zeitalter“ ist dann angebrochen, wenn sich Folgendes als Lebensgefühl ein­ stellt ‑ und nun formuliert Steiner den Satz, der wirklich viele Menschen durch Höhen und Tiefen ihres anthroposophischen Schaffens getragen hat: „Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben; die Begeisterung entströmt nicht mehr bloß mystischem Dunkel, sondern gedankengetragener Seelenklarheit. Dies ver­stehen, heißt, Michael in sein Gemüt aufnehmen. Gedanken, die heute nach dem Erfassen des Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls schlagen.“

Das ist geistige Power‑Poesie, ohne die Anthroposophie nie und nimmer das geworden wäre, was sie heute weltweit ist. Allein dieses Gebilde: „den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls“. Man stelle sich vor, Steiner hätte statt dieses dramatischen Entwurfs gesagt, dass nun der Wendepunkt von der Mechanisie­rung des Denkens zur Spiritualisierung des Denkens erreicht sei und die mitfühlende Begleitung von Denkprozessen zu einem höheren, integralen Bewusstseinszustand führen wird. Gäbe es heute noch Anthroposophie, wenn Steiner so ge­sprochen hätte? Ich glaube nicht. [...]

Gibt es den Erzengel Michael wirklich? [...] Er ist ein von Steiner, von mir, von Ihnen erschaffener Re­präsentant einer Idee. Er ist Wesen, weil Steiner, ich und Sie es wollten, und er ist nur Symbol, wenn wir die Beziehung zu ihm beenden. Genau das ist für mich die zweite Wahrheit: Es ist Zeit, diese Beziehung zu beenden. Weil er für etwas steht, aber dieses Etwas, diese Idee, dasjenige, was der Träger durch die Zeit trug, muss nun meine Sache werden. Nicht nur, weil die Idee stark und erwachsen und in genügend Menschen angekommen ist, um sich nun in moderner Form zu repräsentieren. Nein, diese Idee droht auch in diesem klassischen, mythologischen Träger­material unwirksam zu werden. [...] Die ideelle Software hat sich in den Jahrzehnten immer wie­der upgedatet, ist von verschiedensten Menschen in ihren Syste­men verwendet worden, aber die Hardware kommt immer noch in einer Gestalt daher, die außerhalb einer anthroposophischen Hardcore‑Szene keinerlei Marktchancen hat.

Ich sprach mit ehemaligen Waldorfschülern aus fast drei­ßig verschiedenen Waldorfschulen. Für alle war dieser Michael eine kuriose Randerscheinung ihrer Waldorfschulzeit, von dem alle paar Monate und spätestens zum Herbstfest wieder einmal die Rede war. Er war für sie eine Karikatur, mit der sie bestenfalls nostalgische Erinnerungen verbanden. Als ich ihnen ‑ ohne reli­giöse Worte, sondern in der Sprache der Postmodeme ‑ erklärte, wofür Michael steht, waren sie restlos erstaunt: „Ach sooooooo, der hat was mit mir zu tun!? Mit meiner inneren Mitte?! Ich dachte immer, an den muss ich glauben. Engel find ich albern, aber die Idee erlebe ich als Realität.“ [...]

Worum geht es also bei dieser Idee in meinen Worten, was ist „michaelisch“? Darum, die Mechanisierung des Denkens durch die Spiri­tualisierung des Denkens abzulösen, die Gefühle von Desorien­tierung und Verdrängung zu befreien, Denkprozesse und Emo­tionen integral und authentisch zu leben und das narzisstische Ego für das transpersonale Selbst zu öffnen.“ 


Gronbach zeigt in diesem Abschnitt, dass er Rudolf Steiner in dieser Hinsicht nicht im geringsten verstanden und ernst genommen hat – weder ihn noch jenes Wesen, von dem Steiner spricht. Gerade von Michael hat er im Laufe der Jahre immer tiefer und tiefer gesprochen. Gronbach kann mit alledem nichts anfangen, kann auch nicht zwischen Mythos und imaginativen Bildern geistiger Wirklichkeiten unterscheiden – und behauptet daher kurzerhand im Grunde nichts anderes, als dass Steiner in dieser Hinsicht seine Hörer und Leser ein Vierteljahrhundert lang belogen hätte! 

Etwas anderes ist von Gronbach nicht zu erwarten, da sich die Zeitschrift Info3 seit längerer Zeit New-Age-Koryphäen wie Ken Wilber annähert und versucht, diese mit der Anthroposophie in Einklang zu bringen. Bedauerlich ist nur, dass Gronbach sich noch immer „Anthroposoph“ nennt, ohne zu sehen, dass Rudolf Steiner in seinem 360-bändigen Lebenswerk noch weit vielfältigere und höhere Wirklichkeiten beschrieben hat, als Begriffe wie „integral-authentische Öffnung für das transpersonale Selbst“ es je könnten.

Etwas anderes ist Gronbachs Hinweis auf die ehemaligen Waldorfschüler. Wenn es nicht gelingt, Oberstufenschülern die Verbindung zwischen Michael und der von ihnen erlebten Lebenswirklichkeit zu verdeutlichen, so ist dies in der Tat ein erschütterndes Versagen einer Schulgemeinschaft, die den unteren Klassen das Realbild von Michael als Drachenkämpfer nahebringt. Hier hängt natürlich alles davon ab, inwieweit Michael und jener Kampf für die Lehrer eine konkret erlebte Wirklichkeit darstellt. Man kann diese Realität überall finden. Wenn man es nicht tut, entsteht jener Widerspruch, auf den Gronbach dann mit Recht ebenfalls hinweist:

„Man schickt Waldorfkinder jedes Jahr zur Michaelifeier durch große Pappdrachen, weil Steiner ja gesagt hat, dass man sich mit dem Bösen auseinandersetzen muss, aber die wirk­lichen sozialen Drachen zwischen Eltern und Lehren, zwischen Schülern und Eltern, vor allem zwischen Lehrern und Lehrern und eigentlich zwischen allen und allen – diese wirklichen Drachen, die werden verschwiegen, verleugnet, verborgen und leben in der Unterwelt der heilen Waldorfwelt. Die Unterwelt der Waldorfwelt lebt auf dem Parkplatz vor der Schule, sie glüht stundenlang durchs Telefon, und manchmal grollt sie durch die eine oder andere bissig‑lächelnde Bemerkung hindurch.“


Hier also, im realen Leben – wo sonst – muss das Wirken Michaels bzw. zunächst vor allem der Widersachermächte gefunden und erkannt werden. Nur so kann man sich einem realen Verständnis Michaels annähern – und es auch den Schülern der oberen Klassen nahebringen. Wenn diese jungen Menschen die Schule mit dem Gefühl verlassen, dass dieser „nostalgische Michaeli-Quatsch“ nichts mit ihrer Realität zu tun hat, ist das ebenso tragisch wie Gronbachs völliges Missverstehen der Anthroposophie.