Michaeli
Michaels Kampf im Menschen
von Hans-Werner Schroeder, aus: Die Christengemeinschaft 10/1984.
Mit großem Ernst ist der Blick des Erzengels Michael heute auf die Menschheit gerichtet; denn nicht mehr wie früher darf er unmittelbar in die Auseinandersetzungen eingreifen, welche auf dem Schauplatz der menschlichen Seele zwischen den fortschreitenden, zukunftsfähigen Kräften und den Mächten der Widersacher ausgetragen werden. Er muß abwarten, was der Mensch selbst – aus Freiheit – sich zu tun entschließt: die freie Kraft des Ich zu entfalten oder sich der Suggestion der Widersacher auszuliefern.
Nicht immer war dies so: Vor kurzem noch stand der unmittelbare Schutz der geistigen Mächte, welche die Menschheit vorwärtsführen, dem Menschen viel stärker zur Verfügung. Viel behüteter durfte sich der Mensch fühlen, in dieser Behütung jedoch auch noch nicht ganz freigelassen. Der Genius („Schutzengel“) jedes einzelnen Menschen war der Seele näher, bewirkte stärkere Schicksalsführung und auch richtunggebende Korrektur. Michael hielt im Menschen die starke Kraft des „Drachen“ – der Triebhaftigkeit zum Bösen in der Seele – zu seinen Füßen und verhinderte damit, daß der Mensch zu früh und zu unreif der stärkeren Konfrontation mit den Widersachern ausgesetzt wurde (das heißt natürlich nicht, daß der Mensch nicht immer auch starken Versuchungen ausgeliefert war – verglichen aber mit den heute auftretenden war dies alles im Grund noch harmlos).
Ein Blick in die heutige Zeit weist auf, daß wir in ganz andere Verhältnisse eingetreten sind. Mit voller Wucht tritt die Bedrohung durch das Böse hervor. Engel und Erzengel sind ihrer unmittelbaren Wirkung nach zurückgetreten. [...]
Wenn wir den Blick auf die Apokalypse des Johannes richten – auf das letzte und schwierigste Buch des Neuen Testamentes –, tritt das Bild vom Kampf Michaels mit dem Drachen vor uns hin: Michael stürzt den Drachen zusammen mit den Engeln, die auf der Seite des Drachen kämpfen, auf die Erde; und es ertönt aus der geistigen Welt der Ruf: „Weh denen auf der Erde und im Meere, denn der Widersacher ist zu euch herabgekommen...“ (Apok. 12,12).
Die Ereignisse, welche in diesem apokalyptischen Bilde vor uns stehen, haben sich in unserer Zeit erfüllt. (Rudolf Steiner nennt als das Jahr, in welchem Michael den vollen Sieg über den Drachen erringt und den Sturz vollzieht, 1879). [...]
Nun sehen wir: Nicht nur halten Michael und die Seinen sich von dem unmittelbaren Eingreifen in die Menschheitsgeschichte zurück – zusätzlich wird dem Menschen noch das radikale Anwachsen des Bösen auf der Erde zugemutet. Mit Willen der geistigen Welt wird das Böse auf der Erde wirksam; die Begegnung mit dem Bösen ist das notwendige Schicksal unserer Zeit und der nächsten Zukunft. Daß die Menschheit heute so stark zu ringen hat, geht nicht auf ein Verhängnis, nicht auf das Verlassensein von Gott („Gott ist tot“) zurück, sondern auf die geistige Führung der Menschheit selbst, wie es von dem Seher der Apokalypse schon vor 2000 Jahren vorausgesehen wurde.
Wenn ein Mensch heranwächst, muß die Führung der Eltern eines Tages ganz zurücktreten. Spätestens mit der Mündigkeit hört alles unmittelbare Einwirken anderer Menschen auf den Heranwachsenden auf, sollen nicht starke Beeinträchtigungen und Hemmnisse für die freie Entfaltung der Individualität wirksam werden. Freilich kann andererseits nun auch die Hilfe und die Zuwendung anderer Menschen frei erbeten werden.
Dabei ist es keineswegs so, daß der freigelassene, mündig werdende Mensch gleich alle Fehler vermeiden kann; im Gegenteil: Viele Fehler müssen zunächst gemacht werden, die bei einer autoritativen Führung von außen sicher vermeidbar wären. Eltern müssen lernen, den Fehlern ihrer erwachsenen Kinder zuzusehen und nicht gleich einzugreifen. Denn es ist klar: Nur so kann der Mensch sich selbst mit seinen Kräften, aber auch in seinen Schwächen kennenlernen; nur so kommt er allmählich in die Lage, diese Kräfte selbständig zu entfalten und seinen Fehler aus eigenem Antrieb nach und nach zu vermeiden. Damit ist freilich auch die Gefahr verbunden, daß der menschliche Weg vollkommen in die Irre geht. Doch diese Gefahr kann nicht umgangen – ihr kann nur vorgebeugt werden.
Erziehung zur Freiheit
Diese Vorbeugung muß in der Kindheit geschehen. Da ist es möglich, durch richtigen Umgang mit dem Kind, durch Erziehung, Vorbild und selbstverständliche Autorität unendlich viel in die Seele des Kindes zu legen, was dem Kinde später innere Freiheit im Erleben der Welt und ihrer Gefahren verleiht. So macht z.B. Rudolf Steiner darauf aufmerksam, daß das Verhältnis zur Sexualität im späteren Lebensalter maßgeblich mitbestimmt wird durch Eindrücke, die ein Kind im zweiten Jahrsiebt von der Größe und Schönheit der Welt gewinnt: Es wird später der unfrei machenden Suggestion des Sexuellen um so weniger erliegen müssen, je stärker ihm in diesem Alter die Schönheit der Welt zum Erlebnis geworden ist.
Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie echte Erziehung zur Freiheit sein kann. Es war töricht, daß vor nicht allzu langer Zeit die „antiautoritäre Erziehung“ mit der Freiheit des Kindes begründet wurde. Freiheit entsteht überhaupt erst durch eine richtige Erziehung; ohne sie kommt es zur Herrschaft einseitiger Triebe im Menschen, denen sich hinzugeben nur scheinbar Freiheit ist. [...]
Durch richtige Erziehung werden „Richtkräfte“ in der Seele wachgerufen und verstärkt, an denen sich der Mensch innerlich orientieren lernt. Solche Kräfte sind in der Seele jedes Menschen da. Jeder wäre lieber „gut“ als „böse“ – wenn er es könnte, wenn er die Stärke dazu in seiner Seele hätte. Die Kraft dazu kann in der Kindheit verstärkt werden – oder verkümmern. So wie manche Pflanzen eine Stütze, eine Richtkraft brauchen, um dann reich zu blühen, während sie ohne diese an der Erde kriechend verkümmern, so bedarf der Mensch seelischer Richtkräfte, um sein eigentliches Wesen zur Erscheinung zu bringen. Diese Richtkräfte können ihm am besten in der Kindheit – später nur durch Selbsterziehung – gegeben werden; sie befreien ihn zu sich selbst, ohne ihn zu zwingen.
Die Kräfte der Sexualität – weit entfernt davon, an sich „schlecht“ zu sein – haben etwas den Menschen Überwältigendes, Unfreimachendes, wenn sie nicht „er-zogen“, mit innerer Richtkraft durchdrungen werden. Nur dann kann ihnen das Ich frei gegenübertreten – es ist dann auch frei, sich ihnen auszusetzen und sie in das eigene Schicksal einzubeziehen, in den Bereichen, in denen sie zu einer richtigen Entfaltung kommen können.
Wir haben diesen Bereich nur als Beispiel gewählt, um den Wert und die Zielrichtung einer richtigen Erziehung anzudeuten. Ebenso könnte von den Willenskräften, der Intelligenz, der Fähigkeit zur Sozialität usw. gesprochen werden, die in der Kindheit Anregung, Bildung und Richtkraft brauchen, um dem Menschen dann frei – gleichsam als gut gebildete Werkzeuge – zur Verfügung zu stehen.
Wenn die „Erziehung zur Freiheit“ in der Kindheit richtig vollzogen wurde, kann der mündig werdende Mensch dann ruhig sich selbst überlassen werden: Er wird in sich selbst die Kräfte finden, die ihm die richtigen Wege weisen – nicht weil er sich nach Regeln richten müßte, welche er äußerlich gelernt hat, sondern weil er sich frei fühlt, sich an den Zielen zu orientieren, denen sein eigenes Wesen entspricht. Fehler werden auch dann zahlreich sein, Abirrungen sich einstellen – aber es wird auch die Möglichkeit gegeben sein, aus solchen Fehlern frei zu lernen.
Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Wir sehen, daß auch in der Menschheitsgeschichte der Augenblick kommen mußte, wo die Menschheit freigelassen wird. Alle möglichen Abirrungen sind unvermeidbar. Hat denn die geistige Führung des Menschen vorgesorgt, hat sie Richtkräfte in die Seele gelegt, welche die Menschenseele zu sich selbst befreien können? In der Tat ist es so. Das gegenwärtige Chaos sollte uns nicht darüber täuschen. Wir stehen in einem so enormen Umbruch aller Verhältnisse, daß zunächst Chaos die Folge ist. [...]
Michael hat – wie oben angedeutet – früher unmittelbar im Menschen so gewirkt, daß er die Drachenkräfte zu seinen Füßen hielt. In dem Drachenbesieger konnte der Mensch eine Wirklichkeit sehen, die in seiner Seele real da war und ohne sein besonderes Zutun unmittelbar wirkte. Das jahrhundertelange Einwirken Michaels ist vorüber; aber es hat eine Richtkraft in der Menschenseele hinterlassen. Nicht mehr unmittelbar kämpft Michael im Menschen, aber sein Bild trägt heute jeder Mensch – meist unbewußt, aber doch real – in sich; es ist der Seele eingeprägt.
Man kann das sehr leicht an Kindern erleben; sie haben, wenn man ihnen von Michael spricht, eine unmittelbare Beziehung zu dem Bild des Erzengels und seinem Kampf mit dem Drachen. Wenn man davon erzählt, regt sich die Begeisterung in den Seelen der Kinder, und es entsteht der unmittelbare Eindruck: Sie kennen dies. Warum? Weil sie es längst in sich tragen. [...]
Eine Aussage Rudolf Steiners bestätigt sich: Nicht mehr Michaels Tun selbst, aber Michaels Bild lebt im Menschen; seit dem vorigen Jahrhundert ist es so stark, daß der Mensch keiner hellseherischen Fähigkeit bedarf, um es in sich zu fühlen, zu ahnen, zu erblicken. „Es war so, daß Michael immer selber eingriff in die menschliche Natur, damit die Menschen nicht gar zu sehr herabkamen. Aber im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts war es so, daß das Michaels-Bild im Menschen so stark wurde, daß es nur sozusagen von dem guten Willen des Menschen abhing, um nach oben fühlend bewußt sich zum Michaels-Bilde zu erheben, damit ihm auf der einen Seite wie im unerleuchteten Gefühlserlebnis sich das Drachenbild darstelle und dann auf der anderen Seite – in geistiger Schau und doch schon für das gewöhnliche Bewußtsein, die Leuchtgestalt des Michael vor dem Seelenauge stehen kann ... Ich konzentriere mein Gemüt auf diese Leuchtgestalt, ich lasse ihr Licht in mein Gemüt hereinstrahlen. – Dann wird das so erleuchtete und erwärmte Gemüt die Michael-Kraft in sich tragen, und im freien Entschlusse wird der Mensch in der Lage sein, durch sein Bündnis mit Michael die Drachenkraft ... zu besiegen“ (Rudolf Steiner, Wien, 27.9.1923).
Durch die „Erziehung des Menschengeschlechts“ sind Richtkräfte in unseren Seelen da. Die Michaelzeit jedes Jahres will das in uns wirkende Bild des Erzengels bewußt machen. Unmittelbar an der Grenze des menschlichen Bewußtseins, nur durch einen leichten Schleier davon getrennt, steht die leuchtende Gestalt des Drachenbesiegers; sie „spiegelt“ sich in den Kräften unserer Seele. Michael muß warten, bis wir den inneren Blick zu seinem Bild in uns frei erheben – dann aber können wir ihn ahnend erfassen, so wie wir andererseits den „Drachen“ in uns fühlen können, ohne „hellsichtig“ zu sein.
Die Menschheitsführung hat vorgesorgt. Sie will den freien Menschen. Die Herausforderung durch das Böse ist eine Herausforderung zur Freiheit, zur Befreiung von der Suggestion durch das Böse. Michael ist der Garant dieser Freiheit. [...]