Das Leben der Welt muß in seinen Fundamenten neu gegründet werden

Jugendansprache Rudolf Steiners während der anthroposophisch-pädagogischen Tagung in Holland (Arnheim, 20.7.1924, GA 217a).


Von vorneherein stößt man leicht auf ein Mißverständnis, wenn man den Aufgang des lichten Zeitalters gerade in unsere Zeit hereinsetzt. Zu bemerken ist nicht viel von Lichter-Werden. Man kann sogar durchaus sagen: Die Verhältnisse sind seit der Jahrhundertwende verworrener und dunkler geworden. [...] Wir können sehen, wie [genau wie bei einem physikalischen Körper] das Beibehalten geschieht, wie die meisten Menschen heute keine Menschen des 20. Jahrhunderts sind. [...] Sie sind [...] man möchte sagen [...] stehengeblieben [...] 

Aber die Jugend hat tief im Unterbewußten gerade seit der Jahrhundertwende eine innere Erlebnisart, durch die sie zeigt, daß sie fühlt: da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwickelung der Menschheit. Nun kommen die Menschen und sagen: Es war doch immer so. [...] Die Jugend lehnt sich auf gegen das Alter. [...] Was aber heute in der Jugend – zum Teil ganz unbewußt – lebt, war eben noch nicht da. Und man kann sagen, es war niemals [...] ein so großer Gegensatz da zwischen dem, wie das innere Erleben der Jugend äußerlich zum Ausdruck kommt, und dem, was das innere Erleben der Jugend eigentlich ist. [...] Von Anfang an schien es mir ganz deutlich, daß durch einen Großteil der gegenwärtigen Jugend im tiefsten Unterbewußtsein eigentlich ein Zug lebt von einem merkwürdig gründlichen Verständnis dafür, daß ein großer erdbebenartiger Umschwung in der ganzen Entwickelung der Menschheit sich vollziehen muß. [...]

Aber das, was wir insbesondere in der Jugendbewegung brauchen, das ist ein Wollen, menschlich den Menschen zu verstehen, sonst kommen wir nicht über das fruchtlose Diskutieren hinaus. [...] Es ist schrecklich gleichgültig, was der Inhalt dessen ist, was wir miteinander reden, wovon wir reden. Das Wesentliche ist, daß wir ein Herz haben für das, was der andere fühlt. Da werden wir einig sein, da kann man immer wieder einig sein. [...]

Wir leben heute in der Phrase, wir leben in der Konvention, wir leben in der Routine. [...] Wenn dann eine anthroposophische Bewegung ehrlich ist und die Jugend nötig hat, ehrlich zu sein, was ist dazu vor allen Dingen nötig? Mut! Den lernt man sehr schnell oder gar nicht. Wirklich Mut! Mut, sich zu sagen: Das Leben der Welt muß in seinen Fundamenten neu gegründet werden. [...] Nun kommen alle die Widerlegungsgründe. Man diskutiert über alles mögliche, man deckt jenes gerne zu. Da verfälscht man das, was im Unterbewußtsein ganz ehrlich sein will und was Mut braucht. Anthroposophische Bewegung kann die hohe Schule des Mutes sein. Allerdings, es ist schwierig [...], weil sie von vielen heute nicht als das Erste ins Leben hineingestellt wird, sondern als das, was nebenherläuft. [...] Es ist ein Symptom [...] dafür, daß der durchgreifende Mut nicht da ist, sich [...] mit dem Geistigen der Anthroposophie in Wirklichkeit zu verbinden, nicht mit dem Schatten der Anthroposophie. [...]

Kein Philister versteht das, wenn man ihm sagt, Michael hat die kosmische Intelligenz verloren, er ist oben geblieben. Jetzt, nachdem Michael ohne dasjenige erscheint, was er verwaltet hat, handelt es sich darum, daß der Mensch auf Erden aufersteht, um es mit ihm, für ihn zurückzuerobern. Die Jugend wird so etwas verstehen, wenn sie sich selbst versteht. [...] Darum handelt es sich, daß das Geistige wesenhaft ist, daß wir lernen müssen mit dem Geistigen verkehren. [...]

Wir reden hier viel von Waldorfschul-Prinzip, von neuer Pädagogik. Das Wichtigste ist, daß man im Wachstum bleibt. Jeden Tag ist die Gefahr vorhanden, daß die Dinge sauer werden. Das ist es, worauf es ankommt, daß man nicht vom Kleben an den Gewohnheiten einschläft, wenn man etwas tun soll, wenn man etwas bereiten soll. [...] Es kommt darauf an, daß man eine neue Begeisterung wirklich aufbringt. [...] Innerlich zusammenwachsen mit der Flamme, die sich heute entzündet, auf daß die Michael-Impulse verwirklicht werden!