Michaeli
Gedanken als Lebensmächte - vom Wesen der Michael-Kraft
Rudolf Steiner, Vortrag vom 28.9.1923, GA 223, S. 116-118.
Es gibt zweierlei Art, Anthroposophie zu erleben. Es gibt noch mannigfaltige Differenzierungen dazwischen, ich will nur die beiden Extreme anführen. Die eine Art ist diese: Man setzt sich auf seinen Stuhl, nimmt ein Buch, liest es, findet es ja ganz interessant, findet es tröstlich für den Menschen, daß es einen Geist gibt, daß es eine Unsterblichkeit gibt, man findet sich recht wohl dabei, daß es das gibt und daß der Mensch der Seele nach nicht tot ist, wenn er auch dem Körper nach tot ist. Man findet sich mehr befriedigt an einer solchen Weltanschauung als an einer materialistischen, man nimmt sie auf, wie man vielleicht die abstrakten Gedanken der Geographie aufnimmt, nur daß, was er bei der Anthroposophie erhält, für den Menschen tröstlicher ist. Gewiß, das ist die eine Art: Man steht von seinem Sitz wieder so auf, wie man sich eigentlich niedergesetzt hat, nur daß man eine gewisse Befriedigung an der Lektüre gehabt hat. Ich könnte ja auch von einem Vortrage reden, statt von der Lektüre. Nun gibt es eine andere Art, Anthroposophie auf sich wirken zu lassen, die Art, daß man Dinge, wie zum Beispiel die Idee vom Streite Michaels mit dem Drachen, so in sich aufnimmt, daß man eigentlich innerlich verwandelt wird, daß es einem ein wichtiges, einschneidendes Erlebnis ist, und daß man im Grunde genommen als ein ganz anderer von seinem Sitze wieder aufsteht, nachdem man so etwas gelesen hat. Zwischen diesen beiden Arten gibt es noch alle möglichen Nuancen.
Auf die erste Art Leser kann zum Beispiel gar nicht gerechnet werden, wenn von der Wiederbelebung des Michael-Festes die Rede ist, sondern es kann nur auf diejenigen gerechnet werden, die vielleicht, wenigstens annähernd in ihrem Willen das haben, Anthroposophie als etwas Lebendiges in sich aufzunehmen. Und das ist dasjenige, was innerhalb der anthroposophischen Bewegung erlebt werden sollte: diese Notwendigkeit, die Gedanken, die man zunächst als Gedanken empfängt, als Lebensmächte zu empfinden.
Ich werde jetzt etwas ganz Paradoxes sagen: Manchmal begreift man die Gegner der Anthroposophie viel besser als die Anhänger. Die Gegner sagen: Ach, diese anthroposophischen Gedanken sind phantastisch, sie entsprechen keiner Wirklichkeit. – Die Gegner weisen sie ab, sie sind nicht weiter von ihnen berührt. Man kann ein solches Verhältnis gut verstehen, man kann die verschiedensten Gründe dafür anführen, meistens ist es die Furcht vor diesen Gedanken, die nur unbewußt bleibt, aber immerhin, es ist ein Verhältnis. ...
Der Mensch vermeidet es, gestoßen, gezerrt zu werden, aber er vermeidet es nicht, Gedanken an sich herankommen zu lassen, die von andern Welten handeln, die sich als etwas ganz Besonderes in die gegenwärtige Welt der Sinne hereinstellen, und vermeidet es nicht, diesen Gedanken gegenüber dieselbe Gleichgültigkeit zu haben wie den Gedanken der Sinne gegenüber. Dieses Sich-Aufschwingen dazu, daß man von den Gedanken über das Geistige so erfaßt werden kann wie durch irgend etwas Physisches in der Welt: das ist Michael-Kraft! Vertrauen haben zu den Gedanken des Geistigen, wenn man die Anlage dazu hat, sie überhaupt aufzunehmen, so daß man weiß: Du hast diesen oder jenen Impuls aus dem Geistigen. Du gibst dich ihm hin, du machst dich zum Werkzeug seiner Ausführung. Ein erster Mißerfolg kommt – macht nichts! Ein zweiter Mißerfolg kommt – macht nichts! Und wenn hundert Mißerfolge kommen – macht nichts! Denn kein Mißerfolg ist jemals ausschlaggebend für die Wahrheit eines geistigen Impulses, dessen Wirkung innerlich durchschaut und ergriffen ist.
Denn erst dann hat man Vertrauen, das richtige Vertrauen zu einem geistigen Impuls, den man in einem bestimmten Zeitpunkt faßt, wenn man sich sagt: Hundert Male habe ich Mißerfolg gehabt, das kann mir aber höchstens beweisen, daß für mich in dieser Inkarnation die Bedingungen zur Realisierung dieses Impulses nicht gegeben sind. Daß dieser Impuls aber richtig ist, das schaue ich durch seinen eigenen Charakter. Und wenn es auch erst nach der hundertsten Inkarnation sein wird, daß für diesen Impuls die Kräfte zu seiner Realisierung mir erwachsen – nichts kann mich überzeugen von der Durchschlagskraft oder Nichtdurchschlagskraft eines geistigen Impulses als dessen eigene Natur. –
Wenn Sie sich dies im Gemüte des Menschen als das große Vertrauen für irgend etwas Geistiges ausgebildet denken, wenn Sie sich denken, daß der Mensch felsenfest halten kann an etwas, was er als ein geistig Siegendes durchschaut hat, so festhalten kann, daß er es auch dann nicht losläßt, wenn die äußere Welt noch so sehr dagegen spricht, wenn Sie sich dies vorstellen, dann haben Sie eine Vorstellung von dem, was eigentlich die Michael-Kraft, die Michael-Wesenheit von dem Menschen will, denn dann erst haben Sie eine Anschauung von dem, was das große Vertrauen in den Geist ist. Man kann irgendeinen geistigen Impuls zurückstellen, selbst für die ganze Inkarnation zurückstellen, aber hat man ihn einmal gefaßt, so darf man niemals wanken, ihn in seinem Inneren zu hegen und zu pflegen; dann allein kann man ihn aufsparen für die folgenden Inkarnationen.
Und wenn auf diese Weise das Vertrauen zu dem Geistigen eine solche Seelenverfassung begründet, daß man in die Lage kommt, dieses Geistige als so real zu empfinden wie den Boden unter unseren Füßen, von dem wir wissen, daß, wenn er nicht da wäre, wir mit unseren Füßen nicht auftreten könnten, dann haben wir ein Gefühl in unserem Gemüte von dem, was eigentlich Michael von uns will.