14.12.2007

Fragen an einen Aufsatz von Christof Wiechert

Gedanken zu und Fragen an den Aufsatz „Zeitgemäße Selbstbestimmung“ von Christoph Wiechert, Leiter der Pädagogischen Sektion in Dornach, im „Goetheanum“ vom 14.12.2007.


Warum wird der „gute Geist“ der Waldorfschule nicht beim Namen genannt? Es entsteht der Eindruck, als sei alles schon bekannt – oder auch, als würde absichtlich ein ehrfurchtsvoll wirken sollendes Mäntelchen darüber gebreitet.

„Der Zeitgeist wirkt heute in dem, was wir als Selbstfindung, als Selbstbestimmung erleben, durch alle Widerstände hindurch.“ - Warum wird auch dieser Zeitgeist mal eben genannt, ohne Namen? Und ist der Impuls zur Selbstbestimmung tatsächlich ein reines Wirken Michaels? Oder wirkt nicht ebenso – und noch viel stärker, weil er sich eben um die menschliche Freiheit gar nicht kümmern muss – Luzifer und der „Persönlichkeitsgeist“, der ja eben auch auf Selbstbestimmung pocht?

Was ist „Identitätsgeste“ für ein geistloses Wort? Und was ist unter der „Identitätsgeste des guten Geistes“ überhaupt zu verstehen?

Warum braucht es überhaupt solche Bilder wie „den Stern, nach dem man sich richtet“? Geht es hier um bloße Orientierung? Warum muss der tief innerliche Vorgang in so ein Bild heruntergeholt werden?

Die „zweite Identitätsgeste des Umkreises ist dasjenige, dem man sich als Pädagoge stellt“. Das ist auch ein völlig geist-verquerer Satz. Es geht um den michaelischen Impuls zur Freiheit gegen Fremdbestimmung, aber das kann man nicht in solche Worte kleiden!

Am Ende hat man dann wieder einmal Stern und Umkreis, Vertikale und Horizontale – das sind „in unseren Zusammenhängen“ so ausgetretene Bilder, dass ich nichts anderes als Phrase erleben kann.

„Man erkennt den Stern (den Christus) durch die Ideen, die man von ihm empfängt und zu einem selbst gehörend erkannt hat.“ – Ist das nun Gegenwart oder Vergangenheit? Vor allem aber ist dieser ganze Prozess viel zu äußerlich geschildert. Ich erkenne, empfinde den Christus durch alles, was Rudolf Steiner als Anthroposophie gegeben hat. Es ist bereits in dieser Hinsicht „die Sprache des Christus“, weil sie zum Empfinden dieses Wesens führt. Darüber hinaus aber sind wirkliche Ideen aus der geistigen Welt überhaupt nicht selbstverständlich! Und man erkennt sie auch nicht mal eben als zu sich selbst gehörig, sondern kann sie trotz allem als Gnade empfinden. Wenn man aber den Christus nicht schon vorher „erkannt“ hätte (durch die Arbeit mit der Anthroposophie), würde man diese Ideen gar nicht empfangen! Der Satz stimmt in sich einfach überhaupt nicht.

„Erziehungskunst heißt auch: Das was in der Idee von allen in der Schulgemeinschaft als richtig erkannt wird (z.B. die Menschenkunde), im eigenen Fühlen und im Tatwillen zu verwirklichen“. – Das scheint mir auch viel zu sehr verstandesgemäß aufgefasst. Vorab: Was hat Erziehungskunst mit der Gemeinschaft zu tun? Schon viel, aber zuerst ist es ein individuelles Problem. Vor allem aber: Erziehungskunst ist nicht, dass die Menschenkunde als richtig erkannt wird und dann im Fühlen und „Tatwillen“ (?) verwirklicht wird. Es ist kein abgesonderter Erkenntnisprozess und ein verstandesmäßiger schon gar nicht. Erst die meditativ erarbeitete und verdaute Menschenkunde macht zum Pädagogen, weil sie zu einem anderen Menschen macht! Das hat mit Erkenntnis nichts zu tun, sondern mit dem Werden eines neuen Menschen, einer anderen Gesinnung. Dann kommen die Intuitionen.

„Erziehungskunst wird gelingen, wenn der Einzelne den Willen aus dem Allgemeinen der Idee heraus ergreifen kann.“ – Das ist so abstrakt und allgemein, dass es vor allem moralisch-wissend-belehrend klingt. Was ist damit aber überhaupt gesagt? Gibt es überhaupt ein Handeln nicht aus der Idee heraus? Ja, natürlich, eigentlich alles Handeln geschieht nicht aus der Idee heraus, denn diese muss zunächst im reinen Denken gefunden werden, und das tut fast niemand in fast keinem Augenblick. Aber von diesem ganzen Problem ist überhaupt nicht die Rede! Es wird nur kurz gesagt, man muss eben aus dem „Allgemeinen der Idee“ heraus den Willen ergreifen. Schön phrasenhaft-einschläfernd! Keine Rede davon, dass die Kommunion mit der Idee im reinen Denken ein höchst seltenes Ereignis ist, zu dem man sich erst einmal hinaufringen muss! Und zwar auch mit dem Willen! Also keine Rede davon, dass zunächst dieser allerindividuellste Wille ins Denken kommen muss, bevor dann wiederum die Idee in den Willen kommen kann! Und auch keine Rede davon, dass dies natürlich wiederum den ganzen schwierigen Prozess der moralischen Phantasie braucht – also gar keine Gewähr dafür da ist, dass die Idee im Willen ankommt! Als Allgemeines kommt es in jedem Fall nicht dort an, sondern eben individualisiert. – All das wird übergangen, und zugleich fragt man sich, was der ganze Passus über Idee und Wille denn überhaupt aussagen sollte.

„Dem Stern nähert man sich, wenn man Steiners Abschiedsbrief durchdenkt: Gedankenwirksamkeit eine uns... / Dem Zeitgeist nähert man sich im Kampf mit dem Persönlichkeitsgeist.“ – Warum? Sicher hat wahre Einigkeit (aus Freiheit heraus) mit dem Christuswesen zu tun. Aber wiederum geht hier alles unklar durcheinander. Es ist eine Wechselwirkung – die Einigkeit in Gedankenwirksamkeit kann auch wiederum nur da sein, wenn man sich dem Christus nähert. Viel wahrer würde ich den Bezug zwischen Christus und dem Kampf mit dem Persönlichkeitsgeist empfinden – denn dieser Kampf ist ohne die Christuskräfte nicht zu führen. Gedankenwirksamkeit (die selbstverständlich dann auch Gemeinschaft schafft) hat wiederum vielmehr eine Beziehung zu Michael. Also auch hier werden wieder phrasenhaft und zugleich belehrend-axiomatisch Aussagen gemacht, deren Sinn und Zweck für mich überhaupt nicht einsichtig ist.

„Aufgrund dieser Kämpfe ist es begreiflich, dass vielerorts an Waldorfschulen um diese beiden Quellen der Identität intensiv gerungen wird.“ – Zunächst war nur von einem Kampf die Rede: gegen den Persönlichkeitsgeist. Was aber genau ist mit dem „Ringen um diese beiden Quellen der Identität“ gemeint? Ringt man darum, sie zu erkennen? Sie zu bewahren? Sich ihnen zu öffnen? Mit ihnen in Verbindung zu bleiben? – Meinem Erleben nach findet dieses Ringen „um die Quellen“ statt, weil man sie eben zunächst nicht hat, ihnen fern steht. Weil der „gute Wille“ getrübt ist durch all das konkrete Menschlich-Allzumenschliche (d.h. konkret: Widersacherkräfte). Es wird also darum gerungen, diese beiden Quellen nicht vollständig zu verlieren. Leitbildarbeit hat dabei ganz verschiedene Qualitäten. Sie kann Ausdruck der Qualitätsentwicklung sein. Sie kann Ausdruck der Suche nach Eigenem sein (Abgrenzung vom „allgemeinen Muster“). Leitbildarbeit gibt es inzwischen überall – sie kann auch sehr äußerlich verstanden werden und hat zunächst überhaupt nicht direkt mit den michaelisch-christlichen Impulsen zu tun. Ein bewusstes Ringen um diese Quellen müsste von diesen her Leitbildarbeit machen (also aus der Idee heraus). Oft bleibt man aber wohl bei der Frage stehen: Wie werden wir (etwas) besser? Das heißt, die Radikalität des Fragens fehlt, der Mut zu ganz neuen Fragen und Antworten.

„Zum Zeitgeist gehören auch die Forschungen, die sich jetzt, gebeten und ungebeten, der Waldorfschule widmen.“ – Wieso das?

„Diese Studien sind lehrreich und werden so auch wirken.“ – Wieso das? Woher nimmt Christoph Wiechert diese kurz angebundene, naive Zuversicht? Oder will er damit beschwichtigen und weitergehende Kritik abbügeln? Zunächst werden sicherlich in den meisten Kollegien diese Studien nicht einmal ernsthaft zur Kenntnis genommen werden. Dann werden nur die wenigsten Kollegien, die die Ergebnisse untersucht haben, Zeit, Kraft und den Willen haben, die Fragen aufzuwerfen, die sich an einige Ergebnisse anschließen. Schließlich werden noch weniger die richtigen Ideen entwickeln – und noch weniger sie umsetzen – und noch weniger so, dass das angestrebte Gute auch erreicht wird... Was sich ändern wird, wird sich größtenteils aus eigenen Erkenntnissen ändern, kaum aus diesen höchst wertvollen Studien – so meine Vermutung.

Dann kommt Wiechert zum Buch „Die neue Waldorfschule“ und zur Kritik an meinem bzw. den von mir zitierten Satz „Die Waldorfschulen haben das 20. Jahrhundert verschlafen.“ Der Rezensent hätte sich zu diesem Satz „verstiegen“.

Es folgt dann noch ein Hinweis auf „all die Innovationen“, die inzwischen durchgeführt wurden, und die Hunderte von Lehrern, die „Tag für Tag ihr Bestes geben“. Durch Pauschalverurteilungen würden sich die „Herzen für Neues nicht öffnen“. Fruchtbar sei nicht das ohnmächtige (?) alles in Frage stellen dessen, was geworden ist, sondern nur, dass sich das individuelle und gemeinsame Bewusstsein um sein Verhältnis zu den Ursprungskräften kümmert. – Hier wird meinem Empfinden nach eine völlig falsche Polarität gebildet. Denn natürlich geht es um die Ursprungskräfte! Aber genau das ist doch die Aussage von Iwan! Warum stellt er denn alles in Frage? Weil er in allem Gewordenen, in den Formen, diese Ursprungskräfte nicht mehr wirklich erleben kann! Der Unterschied ist offenbar nur der, dass Herr Wiechert überall noch viele Ursprungskräfte wahrnimmt und Herr Iwan wenige bis kaum welche oder gar keine! Die Formen führen dazu, dass auch eine Waldorfschule ohne Ursprungskräfte noch eine gute Schule sein kann! Aber man kann dann trotz allem bereits erleben, dass sie der Zukunft nicht gewachsen sein wird und dass sie längst nicht mehr das hat, was sie als wahre Waldorfschule heute haben könnte und müsste! Das ist das Erleben Iwans – und es geht ihm unmittelbar um die Verbindung mit den Ursprungskräften!