Parthenophilie

Helmut Ostermeyer

Helmut Ostermeyer: Die Revolution der Vernunft. Frankfurt am Main 1977. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

1962 erschien das Buch ,Der stumme Frühling’ der Biologin Rachel Carson – Beginn der weltweiten Umweltbewegung. 1980 wurde die Partei ,Die Grünen’ gegründet. Die Umweltfrage war auf einem Höhepunkt. Bereits 1977[1] schrieb Helmut Ostermeyer sein eher etwas unbekannt gebliebenes Buch, das grundlegende Fragen aufwirft.

Ostermeyer (1928-1984) war streitbarer Richter in Bielefeld, der die deutsche Gerichtspraxis radikal durch Einbezug von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften verändern wollte. Als Jugendrichter stellte er den Sinn von Strafen und des Strafvollzugs grundsätzlich in Frage,[2] als Familienrichter führte er die Anhörungen der Kinder bei Scheidungen ein. Einige Zeit lehrte er auch an der Universität. 1975 erhielt er den Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union. Bei den ,Grünen’ gehörte er zu den Aktivisten der ersten Stunde.[3]

In seinem Buch stößt er zum Kern des Problems vor, das fortwährende Wachsen einer letztlich unmenschlichen Gesellschaft:[28f]

In der Politik streiten sich kleine Gruppen um Macht, statt daß alle Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam regeln. Die Strafjustiz erzeugt Verbrechen, die sie bekämpfen möchte. Das Gesundheitswesen macht uns kränker [...]. In der Schule verlernen wir das Lernen. In der Verwaltung nehmen wir den Sachkennern die Entscheidung fort und schieben sie Unwissenden zu, die sich Fachleute nennen. Mit der Rüstung untergraben wir die Sicherheit, die sie uns bringen soll. Die Wirtschaft gibt immer wenigeren Arbeit, die Arbeitenden aber macht sie kaputt und unglücklich. Der Wohlstand, den sie schafft, wird ungleich verteilt und trägt den Keim des Untergangs in sich, denn er verschleudert die Vorräte der Erde und zerstört ihre Leben tragenden Kreisläufe. Die Wissenschaft zersplittert sich, sie wird zur Handlangerin der Industrie; ihre humanen Kräfte werden vernachlässigt oder verzetteln sich in Theorien, die unwirksam bleiben, weil sie unverständlich sind.

Lässt man dieses Bild auf sich wirken, würde jedes Kind erkennen und fühlen können, wie krank das ganze System ist. Unzählige junge Menschen tun dies auch und fragen sich und andere, wie dies möglich ist, wie vernünftige Erwachsene so etwas zulassen konnten – und aufrechterhalten.

Ostermeyer geht in Übereinstimmung mit Anthropologen und Psychoanalytikern wie Erich Fromm davon aus, dass Ungleichheit und blinder Wahnsinn keineswegs einen Naturzustand des Menschen bedeuten, sondern die Folge destruktiver Entwicklungen sind. Er geht davon aus, dass die Ur-Gemeinschaften der Jäger und SammlerInnen, die auf gegenseitige Hilfe angewiesen waren, in Gleichberechtigung und im Einklang mit der Natur lebten:[36][4]

[...] Beute und Früchte wurden geteilt. Die Seele wurde auf Freigebigkeit, Friedfertigkeit und Freundschaft gestimmt.
[...] Die Sprache machte es möglich, über das Begehren hinaus Bewunderung, Zuneigung, Treue und Hingebung mitzuteilen. [...]
Der Frau fiel eine herausgehobene Rolle zu. Sie war nicht nur die Gefährtin in der Liebe, sondern [...] Hüterin des Lebens.

Die Frauen ,gewährten sich[5] aus Neigung und hatten dadurch großen Einfluß auf Verhalten und Charakterbildung der Männer.’[39] – Dann aber begann mit dem Übergang zum Ackerbau ein grundlegender Wandel. Der Mensch setzte sich der Natur entgegen, nun musste er sie verdrängen.[44] Landarbeit ist mühsam und langwierig. Und es begann die Zeit des Eigentums und der Vereinzelung.[46f][6] Eigentum muss beschützt werden, und der Mann, der Schwert, Axt und Pflug führte, übernahm nun auch das Patriarchat.[49f]

Der Mann setzt seinen Besitzanspruch an Frau und Kindern durch. Das Zeitalter der Krieger und Helden bricht an. Der Mann verdrängt und unterdrückt die zärtliche Seite seiner Seele[7] – das Unbewusste entsteht. Das ebenfalls unterdrückte Weibliche wird auch in Mythen abgewertet.[52][8] Bei den Germanen verdrängt Odin die Nornen, bei den Griechen Zeus die Göttinnen Artemis und Aphrodite.[71] Bezeichnend ist auch, dass das Mutterrecht noch das Leben verehrte, mit dem Patriarchat aber Ahnen- und Totenkult aufkamen.[68] Die Triebunterdrückung führt zur Selbst- und Weltentfremdung:[53]

Wenn innere Wirklichkeiten verleugnet werden, so bleiben auch die äußeren dem Denken verschlossen. Beide gehen verloren. Das Denken gewöhnt sich an Grenzen, es wird saft- und kraftlos. Der Gedanke wird blaß, leblos (theoretisch!), während er früher anschaulich und voll Lebens gewesen war [...].

Erich Fromm untersuchte in einem umfassenden Werk die ,Anatomie der menschlichen Destruktivität’[9] und fand unter anderem in dreißig Stämmen drei verschiedene Muster.[10]

Die lebensbejahenden Zuñi-Pueblo-Indianer betreiben Ackerbau und Schafzucht, legen aber auf materielle Güter keinen Wert. Das Lebendige wird verehrt. Sexualität ist frei von Schuldgefühlen, Ehen sind leicht scheidbar, aber beständig, Männer sind nicht gewaltätig, auch nicht gegen untreue Ehefrauen.[54f] – Bei den Manus ist das Hauptziel der wirtschaftliche Erfolg, nur Besitz gibt Ansehen. Kinder werden zu Scham- und Besitzdenken erzogen. Es herrschen strenge Ehegesetze, zur Hochzeit muss der Mann Geld leihen und dies jahrelang abarbeiten. Aggressivität und Krieg kommen vor.[55] – Die Bewohner der Dolu-Inseln kennen vor allem Feindseligkeit und Argwohn, sogar zwischen Mann und Frau. Sexualität äußert sich in Begierde, bringt aber keine Erfüllung.[56]

Erst wenn die Sexualität unbefriedigt lässt, wird Eigentum überbewertet – und Ersatz für das eigentliche Glück.[57] Der entscheidende Moment sind also nicht Ackerbau und Eigentumsbildung als solche, sondern ,die Verdrängung und Kränkung der natürlichen, auf Nähe und Liebe zum Mitmenschen gerichteten Wünsche’.[58][11]

Die erste Unterdrückung ist Triebunterdrückung, sie bringt den Menschen dazu, Sachen über Menschen zu stellen und Menschen wie Sachen zu behandeln.[59]

Der Ackerbau begünstigte diese Entwicklung jedoch. Der Pflug schnitt nicht nur in die Erde, die die große Mutter war, sondern auch in die Seele.[12] Die mit der Trennung von der Natur begonnene Entfremdung schwächte das Innere, bis die auf das Ganzheitliche gerichteten Triebe unterdrückbar wurden.[59]

Der Mensch gerät unter Verwirklichungszwang, weil die Triebverbote ihn an der Selbstverwirklichung hindern. Verunsichert sucht er Verwirklichung, wo sie nicht zu finden ist: in Besitz, Arbeit oder Macht.[83]

Von matriarchalen und gleichberechtigten Gemeinschaften geht die Macht auf die Männer über, später nur auf einige wenige, schließlich auf nur einen einzigen Herrscher.[65] Dem entspricht die ,alleinseligmachende Kirche’, die die Triebe extrem unterdrückt und das ganze Leben regelt.[70][13] Später entsteht die ,Staatsgewalt’ – der Staat übt Gewalt aus, anstatt dass das Recht den schwachen Menschen davor schützt.[66] Einst verteufelte das Patriarchat die Triebe, die es unterdrückte, heute wird jeder abweichende, kritische Gedanke unterdrückt und verleumdet.[67]

In der Stadt nimmt die Entfremdung von der Natur zu, ebenso die Ungleichheit, die Abhängigkeit, die Spezialisierung. Selbst bei Feiern ist man nur noch Zuschauer.[74f] Die aufkommende Wissenschaft zerstört die Einheit von Mensch und Natur radikal.[76] Die vom Menschen geschaffenen Institutionen erstarren und lähmen ihn zusätzlich, Außenwelt und Zukunft werden aus dem Denken ausgeschlossen.[79f]

Gehorsam und ein ihm ursprünglich fremdes, korrumpiertes Gewissen werden der Seele eingepflanzt. Kinder dürfen ihre Eltern nicht zärtlich lieben, nur mit Abstand. Es gibt Arm und Reich. Kinder und Untergebene haben zu gehorchen. Kinder haben in die Schule zu gehen und von kleinauf stillzusitzen. Ausbeutung der Natur ist normal. Schritt für Schritt wird das Gewissen konditioniert.[84f] Die ungeheure Selbstentfremdung, die hier stattfindet, kann gar nicht überschätzt werden.[14] Und dem Kind, das sich nicht fügt, entziehen die Eltern ihre Liebe. Dem Erwachsenen, der sich nicht fügt, ergeht es seitens der Gesellschaft genauso. Diese Maßnahme bricht fast jede Seele:[86][15]

Psychoanalytiker nennen das Identifikation mit dem Angreifer. Das ohnmächtige Kind, das den bedrohenden Vater nicht abwehren kann, unterwirft sich den Geboten. Zum Lohn darf es sich mit dem Vater gleich und eins fühlen, es nimmt also durch die Unterwerfung einen Teil [...] seines Charakters in sich auf.

Eine weitere Entfremdung ist es, wenn an die Stelle einer Liebe zum Land und seinen Menschen abstrakte Obrigkeits- und Fahnenverehrung oder Patriotismus treten[88f] und wenn gemeinsame Untaten von der Ideologie zu Recht, Heldentaten oder Fortschritt erklärt werden.[90] Mit Aufkommen der Staaten entfremdet sich das Triebleben nicht nur bis zu Ersatz-Dingen, sondern bis zu abstrakten Ideologien.[99] Das Militär erzieht den Soldaten zum perfekten Gehorsam.[100]

Die Bürokratie, als Kontrollinstrument des Herrschers geschaffen, entwickelt ein Eigenleben, das das wahre Leben verdrängt.[102] Der Beamte soll Diener sein, aber missbraucht seine Macht nur allzuleicht, sowohl zu den Bürgern als auch zu einer engagierten Regierung hin.[103ff]

Auch das Industriesystem entstand aus einem Wachstums- und Machtimpuls heraus, während unzählige Menschen bei Hungerlöhnen nahezu ihr gesamtes waches Leben in Arbeit zubrachten.[106f] Gleichzeitig kam es zum Höhepunkt der Sexualunterdrückung, Heuchelei und Doppelmoral.[167]

Fabrikstädte wurden Großstädte, die Landschaft wurde zersiedelt, die Menschen isolierten sich in Blechkisten, die Parkplatzsuche dauert schließlich länger als die Fahrt oder ein Weg in der mittelalterlichen Stadt. Und wo Menschen sich früher auf Marktplätzen begegneten, finden sich heute mit Geschäftsschluss ausgestorbene Schaufensterreihen.[110f] Der Warenausstoß ist unaufhaltsam, eine neue Sintflut, die Produkte werden künstlich kurzlebig gemacht, neue Modelle jagen sich, Müllberge wachsen, die Rohstoffe schwinden.[113] Die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals bestimmen, was geschieht – nicht gesellschaftliche Notwendigkeiten. Boden und menschliche Arbeitskraft werden zur Ware.[115] Höchste Manager- und Aufsichtsratsgehälter werden mit dem Leistungsprinzip oder gar nicht mehr begründet.[148] Und auch die unteren Klassen fordern nur noch ihren Anteil am Konsum:[118][16]

[...] schickt das Industriesystem seine glitzernden Warenschönheiten aus, den Menschen zu betören. Im Kaufrausch, im Ritual der Warenwahl vollziehen sich die Mysterien des Industriesystems; die Bacchanten[17] durchwühlen die Warenstände.

Auch die Natur wird gedemütigt und ihrer selbst entfremdet: Felder werden zusammengelegt, Hecken gerodet, mit immer mehr Gift Monokulturen erzwungen – bis diese Gifte das Grundwasser erreichen und auch in der übrigen Nahrungskette wieder zum Menschen zurückkehren.[120] Atomkraftwerke haben ungeheure Investitionen und Planungsjahre gebraucht und müssen nun auch gebaut werden.[122] Rüstung erzeugt Angst. Hinzu kommen die Kriege der Konzerne gegeneinander.[123f]

Revolutionen scheiterten letztlich dennoch am internalisierten Gehorsam – oder indem die Bürokratie durch einen Parteiapparat ersetzt wurde, der eine neue Diktatur brachte. Auch in ,demokratischen’ Parteien herrscht Fraktionszwang, die wirkliche Macht haben alte Hasen und Ausschussvorsitzende. Abweichler werden schnell ausgeschaltet, hohe Diäten entfremden ebenfalls rasch von der Basis.[126ff] Und selbst ganze Staaten hängen am Geldtropf der gesichtslosen Banken.[132]

Verleger-Interessen und die Abhängigkeit von Anzeigen erzeugen eine gleichgeschaltete Presse, auch der angepasste Deutsche mag keine Systemkritik, sondern will seine Ruhe haben:[151]

Sie versuchen, eine im Grunde heile Welt vorzugaukeln, in der Krisen oder Mißstände nur Unfälle oder Untaten sind. Das kleine Glück wird gepriesen und zugleich der Leser durch Angst vor dem großen Unglück – Krieg, Krankheit und Verbrechen – fügsam gemacht. Die herrschenden Mächte werden als Schutz davor, als Garanten von Recht und Ordnung hingestellt. Die Arbeitswelt wird nicht behandelt, nach der Gerechtigkeit der Klassenunterschiede wird nicht gefragt. Soziale Randgruppen werden an wohltätigen Feiertagen erwähnt, Taubenzüchter und freiwillige Feuerwehr wöchentlich. Der Wirtschaftsteil ist für den Durchschnittsleser unverständlich, politische Demonstrationen werden zu Krawallen umfrisiert, Hungersnöte in der dritten Welt oder die Folgen von chemischen Unglücken oder Erdbebenkatastrophen auf der bunten Seite gebracht.

In ,Talkshows’ finden sich kaum Betroffene, Wissenschaftler oder kritische Publizisten, sondern meist Politiker oder Spitzenfunktionäre bürokratischer Einrichtungen. Kritische Sendungen werden unter dem Vorwand der ,Ausgewogenheit’ oder der ,Einschaltquote’ auf hinterste Plätze oder ganz verbannt.[152f] Der Kabarettist als Hofnarr der Republik ist noch zugelassen.[155] Andere missliebige Stimmen werden mit einem ganzen Arsenal von Kampfbegriffen ausgegrenzt: linker Spinner, Kommunist, Systemveränderer, Theoretiker, Intellektueller, Besserwisser, Nörgler, Querulant, Fanatiker, Chaoten, Terroristen[18] oder was auch immer.[154f] Auch den Vorwurf der Ideologie erheben vor allem jene, die der herrschenden Ideologie aufsitzen, gegen die, die davon frei sind.[155] Wer die ungeheuren Probleme wirklich angehen will, erscheint als Störer des Friedens – auch die Technokratie erzwingt den quasi-religiösen Glauben, alles sei gut, eigenständiges Denken ist die Erbsünde.[158]

Die wahre Schuld wird immer geleugnet. Konkurse entstünden durch ,Fehlkalkulationen’, Arbeitslosigkeit durch ,Konjunkturflauten’ – die wirklichen Ursachen werden nie berührt.[158] Man spricht nicht vom völlig entfesselten Wachstum und Wettrüsten – sondern stellt Terroristen und Systemveränderer als absoluten Schrecken hin, bei dessen bloßer Nennung das Denken versagt.[159]

Entfremdung führt zur Aggression – diese sucht sich Ersatzventile im Autoverkehr, im Fußballstadion, im Alkohol.[162f] Fehlentscheidungen von Fußballschiedsrichtern verursachen mehr Empörung als größte soziale Ungerechtigkeiten.[164] Und für den erfolgreich konditionierten, angepassten Menschen gilt schließlich:[173f][19]

Der industriell-autoritäre Charakter unterwirft sich dem Vorgesetzen und den Denkschablonen, dem Arbeitsprozeß an der Maschine, dem Leistungszwang und Konsumwettlauf, der Großstadthölle und dem Verkehrschaos – zum Lohn darf er sich der Gewalttätigkeit anschließen, mit der das System gegen Natur und Außenseiter wütet.

Die Entfremdung beginnt schon ganz früh – mit dem Inzesttabu bzw. der Angst vor ,Inzest’:[171][20]

Die Eltern verbieten als Statthalter des Systems die kindliche Zärtlichkeit und erzeugen die Gebrochenheit, die Vereinsamung zum Unterdrückungsmittel fürs Leben macht. Dabei handeln sie selbst unter Zwängen und glauben, das müsse so sein. [...] Keiner sieht, daß die Kinder wild und egoistisch erst durch Zurückweisung ihrer freundlichen, friedlichen und zärtlichen Wünsche werden. Erziehung erzeugt, was sie abzuschaffen behauptet, und ihre Ideologie zimmert daraus die sogenannte Erziehungsbedürftigkeit des Kindes, Vorwand für seine Vergewaltigung und lebenslängliche Schädigung. [...]
[...] Die Schule wird zum Einpeitscher des Wettbewerbs- und Leistungsdrucks und erzeugt so den Egoismus, den sie angeblich bekämpft.

Eine Wende der Katastrophe ist nicht einfach. ,Reformen’ würden nur den Scherbenhaufen glätten:[177]

Wir müssen nicht [...] Politiker auf Abrüstungskonferenzen schicken, sondern ihnen die Macht nehmen aufzurüsten; [...] wir müssen nicht bloß die Wahrheit sagen, sondern die Sperren abbauen, die verhindern, daß sie geglaubt wird.

Die Hoffnung liegt auf den Kindern. Zuerst müssen wir verhindern, dass wir selbst ihnen die Liebe, die Munterkeit und schließlich das Denken austreiben.[183] Dann muss die innere Freiheit wiedergewonnen werden – und die Zusammenarbeit mit dem Mitmenschen. Dabei liegt die Beweislast nicht bei den Kämpfern für eine Alternative, sondern bei den Verursachern der Katastrophe.[196] Es gilt, überall neue Selbsthilfestrukturen in überschauberen Gemeinschaften zu schaffen und dem Staat die Macht schrittweise aus der Hand zu nehmen.[205]

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Ostermeyers Buch macht das ganze Dilemma der westlichen Kultur deutlich. Wie verlogen und tabusiert die ganze Debatte ist, zeigte beispielhaft etwa eine Sendung von ,Anne Will’, die sich im März 2019 nach dem Rücktritt von Sahra Wagenknecht dem Thema ,Überarbeitung’ zuwandte. Alles Mögliche wurde besprochen, ein Azubi musste einer FDP-Politikerin sogar erst den Zusammenhang zwischen Privatisierung und steigendem Arbeitsdruck erklären – aber die Systemfrage wurde gar nicht erst gestellt.[21]

Ostermeyer sieht die Hoffnung bei den Kindern. Ich sehe sie bei den Mädchen. Das Gift der Coolness wird in der Subkultur der Jungen noch lange wirken – die Mädchen aber können sich auf ihr Herz und ihr Empfinden besinnen und angesichts nahender Katastrophen aufstehen, um für eine vollkommen andere Kultur zu kämpfen: nicht eine Kultur der Ausbeutung, auch nicht bloß eine Kultur der Vernunft, sondern eine Kultur des Herzens...[22]
 

Fußnoten


[1] Es war die Zeit des Fischsterbens in den Flüssen[138ff] oder des Chemieunfalls im italienischen Seveso, im Sommer 1977 wurde das Insektizid DDT in Deutschland verboten.

[2] So auch im vorliegenden Buch: ,Nur Schwärmer versuchen ihn noch zu reformieren. [...] Hier gibt es nur noch eins: Die Freiheitsstrafe abschaffen und Kriminalität durch soziale Hilfsdienste und Selbsthilfeeinrichtungen vorbeugend bekämpfen [...]. Von den Insassen unserer Strafanstalten sind nur 5 % gefährlich. Diese müssen verwahrt und nicht bestraft werden, den Rest können wir entlassen.’[203]

[3] Wikipedia: Helmut Ostermeyer. • An anderer Stelle heißt es über ihn: ,In seiner richterlichen Praxis war er unbeugsam gegenüber dem Justizapparat, aber einfühlend gegenüber den Straftätern und Strafgefangenen.’ Und: ,Seine radikalen Vorstöße zu einer menschenwürdigen Gesellschaft – gestützt auf empirisch verifizierten Erkenntnissen der Soziologie – haben ihm das Leben seit den frühen sechziger Jahren schwer gemacht. Als Autor wie als Jugendrichter in Bielefeld. Auch unter den sozialdemokratischen Regierungen in Nordrhein-Westfalen wurde er bis zuletzt mit Disziplinarverfahren drangsaliert; auch nachdem er, von der Ohnmacht seiner Rettungsversuche sozialgeschädigter, gestrauchelter Jugendlicher als Therapeut in der Richterrobe aufgerieben, sein berufliches Betätigungsfeld wechselte und Familienrechtler wurde. Auch hier verstieß er mit kühnen Gerichtsentscheidungen und vor allem mit deren politikritischen Begründungen gegen die seinem „Stande“ auferlegte „staatstragende“ Beamtenpflicht. Mit vordergründigen, formaljuristischen Argumentationen der Universitätsbürokratie konnte man ihm durch die Entziehung seines Lehrauftrags für „Strafrecht und Psychoanalyse“ an der Universität Bielefeld wenigstens auf einer seiner Aktionsebenen den [...] losen Mund stopfen.’ N.N. (1994): Gedenken Herbert Ostermeyer. Mitteilungen der Humanistischen Union 147(3), 85-86, hier 85. www.humanistische-union.de.

[4] Wer dies als allzu ,idealistisch’ oder ,romantisierend’ ansieht, möge sich einmal die Mühe machen, eine Weile bei dieser Vorstellung zu verweilen. • Unabhängig, ob dies eine wirkliche Beschreibung der früheren Verhältnisse darstellt (die wir durch äußere Funde nie kennen werden), stellt es ein ewiges Ideal dar. Und wer allzuschnell mit ,Verklärung der Vergangenheit’ kommt, sollte sich einmal fragen, ob er überhaupt noch an eine andere, bessere Zukunft glaubt. Vielleicht ist ja gerade das Beharren auf der angeblichen Tatsache, dass ,die Welt schon immer so’ gewesen sei, die eigentliche Ideologie! Ein Dogma, das an Alternativen überhaupt nicht mehr zu glauben wagt. Das aber ist die Essenz von Anpassung. Und auch wer sich für Veränderung einsetzt, aber das Dogma aufgenommen hat, dass gerade die Vergangenheit stets brutal war, hat in diesem Punkt bereits eine Anpassung vollzogen – und ist noch immer einer sehr patriarchalen Vorstellung verfallen. Es gab einen Zustand vor dem Patriarchat – das eben ist die entscheidende Tatsache. Das Patriarchat fiel nicht vom Himmel, und es war nicht der Urzustand.

[5] Möglicherweise können bestimmte Feministinnen bereits diese Begriffswahl kaum aushalten – aber Menschen schenken einander in der leiblichen Vereinigung immer, und das Mysterium der Begegnung der Geschlechter wird immer auch die weibliche Hingabe bleiben. Wenn eine Frau ,sich aus Neigung gewährt’, ist dies eben gerade der volle Gegensatz zum Missbrauch, wo sie buchstäblich genommen wird. Ein Sich-Gewähren und Hingabe sind genauso aktive Handlungen wie die des Mannes – nur werden sie, auch und gerade von Feministinnen, völlig unterschätzt.

[6] Noch weit mehr gilt dies allerdings für Viehzucht und egoistische, unbegrenzte Vermehrung von Herden. In Ackerbau und Landwirtschaft sind die Menschen ohne Maschinen sehr auf gemeinschaftliche Hilfe angewiesen. ,Eigentum’ ist hier zunächst weder notwendig noch sinnvoll oder naheliegend und wird in einem Sippenwesen zunächst auch gar nicht bestanden haben.

[7]Das eben ist ein entscheidender Gedanke – dass dieses von Anfang an auch existiert hat! Und möglicherweise ganz zu Beginn sogar die Oberhand hatte... Auch Darwin lehrte schließlich nicht das Überleben des Stärkeren, sondern das Überleben der an die Umwelt Angepasstesten. Zärtlichkeit und Kooperation ist aber der evolutionäre Vorteil des Menschen schlechthin! Die egoistische Intelligenz kann einzelne Individuen voranbringen, die emotionale und soziale Intelligenz hat einst der ganzen Gattung das Überleben ermöglicht.

[8] Es soll erst aus einer Rippe Adams entstanden, dem Kopf des Zeus entsprungen oder durch ,Selbstbefriedigung’ Atums entstanden sein.[52] • In Bezug auf Letzteres heißt es in dem ca. 2500 v. Chr. entstandenen Pyramidentext Pyr 527 § 1248: ,Atum ist der, der entstanden ist, der an sich masturbierte in Heliopolis. Er nahm seinen Phallus in seine Faust, damit er in sie ejakuliere. Es wurden geboren die Zwillinge, Schu und Tefnut.’ Hannelore Winkler: Weltentstehung in antiken Lehrtexten: von der Ur- und Schöpfungsgeschichte zur Kulturentwicklung. Münster 2009, S. 222.

[9] Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg 1974. • Siehe ausführlich auch Wikipedia: Anatomie der menschlichen Destruktivität.

[10] Zur ersten Gruppe gehören etwa auch die Polar-Eskimos (Inughuit) und Mbutu-Pygmäen, zur zweiten die Dakota, Crow, Inka, Kasachen, Ainu, Samoaner und Maori, zur dritten die Azteken. Wikipedia, ebd.

[11] Ostermeyer verweist ausdrücklich auf Wilhelm Reich (1897-1957), der als erster auf die Tatsache und die Folgen der Triebunterdrückung hinwies.[59] • Zu beachten ist, dass die Unterdrückung ursprünglich ganzheitlicher, auf Empathie und Nähe gerichteter Triebe ganz andere Phänomene hervorruft, nämlich entfremdete, hässliche Gestalten des Triebs – ebenso wie das leibfeindliche, falsch verstandene Christentum den Eros völlig entheiligte und damit immer mehr erniedrigte und materialisierte, was aber längst vorher begonnen hatte. • Auf den Punkt gebracht: Vergewaltigung, Pornografie und Kapitalismus sind alle keine Urzustände des Menschlichen, sondern Endprodukte einer Entfremdung.

[12] Zunächst hätte auch dies keine Entfremdung bedeutet, sondern nur einen Übergang von ,schenkender Mutter’ zu einer ,Beziehung’ zwischen Natur und Mensch – in mehreren Kulturen wird das Pflügen einer Befruchtung der Erde, der liebend-sexuellen Vereinigung des Männlichen und Weiblichen gleichgesetzt. Eindringen und Befruchten ist eben keineswegs Vergewaltigen! Vielmehr sind Fortpflanzung und Ernte ohne diesen heiligen Prozess gar nicht denkbar. Erst der Gedanke einer Unterwerfung und Herrschaft setzt die Entfremdung in Gang.

[13],Der Mensch wird nicht durch Geburt Mensch, sondern durch die Taufe, er wird nicht durch Lernen erwachsen, sondern durch Einsegnung, er kann sich dem Gefährten nicht durch Liebe verbinden, sondern durch Trauung [...].’[70]

[14] Man denke etwa an die stocksteifen Fotos vor noch wenigen Generationen! An Schläge. An nächtliches Weinenlassen der Kinder und andere ,Erziehungsvorstellungen’. Oder daran, dass ein noch nicht seiner selbst entfremdetes Kind einem Bettler aus unmittelbarem Herzensimpuls sein ganzes Taschengeld schenken würde!

[15] So vererbt sich Gewalt und Hass, so entstehen Sprüche wie ,Das hat mir auch nicht geschadet’ etc. etc. Die Selbstentfremdung ist nur durch entschlossenste innere Entwicklung aufzudecken und zu überwinden.

[16] Und die Entfremdung ist unbegrenzt: Autos nehmen einem das Gehen ab, Fertiggerichte das Kochen, Kosmetik das Schönsein, Klimaanlagen die Wärmeanpassung, Antibiotika die Immunabwehr, Radio und ,Konservenmusik’ das eigene Singen und Musizieren – und die Medien das Denken...[119] • Man könnte hinzufügen: Amazon jeglichen Gang irgendwohin. Netflix sogar den Gang zum Kino, das ebenfalls bereits Ersatz war. Konsum aber wird zu Stumpfsinn: Die Menschen ,lassen sich mit Reizen überfüttern, strahlen selbst aber keine Reize mehr aus. [...] Liebesvermögen und schöpferische Fähigkeiten verkümmern.’[170]

[17] Die Bacchanten waren die rasenden Teilnehmer der Kultfeiern (Orgien) des Dionysos. Während die Raserei (mania, daher auch das Wort Mänade) ursprünglich jedoch eine echte Ekstase, eine Ergriffenheit durch die Gottheit war, degenerierten die Bacchanalien der Römer Anfang des 2. Jahrhunderts zu exzessiven Weinorgien, wo auch Verbrechen stattfanden, bis der Kult verboten wurde. Wikipedia: Bakchant.

[18],[...] gegen rechtswidrige Gewalt hat jeder die Pflicht zum Widerstand, egal von wo sie kommt. Und rechtswidrig sind und bleiben alle Angriffe auf das Leben des Menschen und der Erde. Die Kernkraftwerke haben da keine Sonderstellung.’[195] • ,Die, die das Wachstums- und Atomchaos ansteuern, sind die Chaoten.’[200]

[19] Und wo er im Betrieb kuscht, reagiert er sich auf der Straße wieder ab: ,Freie Fahrt für freie Bürger!’[174] • Oder auch an der eigenen Frau: Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997, zwanzig Jahre nach Ostermeyers Buch, strafbar!

[20] Dabei ist es relativ egal, an welchem Punkt die bewusste oder unbewusste Zurückweisung der kindlichen Zärtlichkeit einsetzt. Welche Ausmaße dies aber annehmen kann, werden wir im achten Band noch sehen.

[21],Dabei [...] spielte ihr Sahra Wagenknecht mehrfach einen Steilpass zu, um das große Ganze aufzugreifen: "Wir müssen viel stärker darüber diskutieren: Was wollen wir für eine Gesellschaft sein? Ist der Mensch für die Wirtschaft da oder die Wirtschaft für den Menschen? Ist das sinnvoll, was wir machen, dass sich alles rechnen muss?" | Wie sehr es im gesellschaftlichen Räderwerk knirscht, machte Wagenknecht klar, als sie über den permanenten Leistungs- und Zeitdruck, die Angst vor Hartz IV, die Personalnot, den ständigen Renditedruck und andere Folgen des aktuellen Systems sprach: "[...] Das ist so eine Kälte, das ist so zerstörerisch."’ Überarbeitungstalk bei "Anne Will": "Das macht unsere ganze Gesellschaft kaputt". Web.de, 18.3.2019.

[22] Ich schrieb diese Sätze im Frühjahr 2019, nicht lange nach dem Auftreten des Mädchens Greta Thunberg. Greta verweist jedoch auf die Angst und geht die Mächtigen frontal an. Das ist es noch immer nicht, was ich mit einer Kultur des Herzens meine. Ich habe dies ausführlich in meinem Roman ,Mädchenklima’ (2019) thematisiert. Siehe auch mein Büchlein ,Liebesbriefe einer reinen Seele’ (2015).